Am 1. Juli 2024 fand der turnusmäßige Wechsel des Vorsitzes im Rat der EU an. Jedes halbe Jahr rotiert die Ratspräsidentschaft der EU zwischen den Mitgliedsstaaten, sodass jeder Mitgliedsstaat zu einem bestimmten Zeitpunkt den Ratsvorsitz zugesprochen bekommt. Während der Ratspräsidentschaft übernimmt der Vorsitz vor allem administrative und organisatorische Aufgaben, wie z.B. die Leitung aller Sitzungen und Tagungen im Rat und repräsentiert den Rat sowohl innerhalb der EU als auch gegenüber anderen Organisationen und Drittstaaten.
Für das zweite Halbjahr 2024 übernimmt Ungarn die Ratspräsidentschaft in der EU. Wer in den letzten Monaten und Jahren die mediale Berichterstattung Ungarns verfolgt hat, wird wahrgenommen haben, dass das der politische Machtinhaber Viktor Orbán und seine rechtsnationale Partei Fidesz, rechtstaatliche und demokratische Strukturen im Staat Stück für Stück abgebaut haben. So sprach das EU-Parlament 2022 Ungarn den Status als Demokratie ab und bezeichnete das Land als „hybrides System der Wahlautokratie“. (Quelle: tagesschau)
Die aktuelle Ratspräsidentschaft Ungarns bietet einen aktuellen Anlass, sich mit der politischen Entwicklung Ungarns unter Viktor Orbán genauer zu befassen und das angespannte Verhältnis zwischen Ungarn und der EU zu erläutern.
Der „junge“ Orbán: Liberal und pro-europäisch
Viktor Orbán erlangte nationale Bekanntheit in Ungarn durch eine Rede im Sommer 1989, als er sich klar gegen die Sowjetunion positionierte und freie demokratische Wahlen in Ungarn forderte. 1993 übernahm er den Parteivorsitz in der Fidesz, die damals politisch liberal orientiert war und insbesondere in der jungen Wählerschaft als Partei für Aufbruch und Modernität galt. Bei den Parlamentswahlen 1998 erhielt die Fidesz die meisten Sitze im Parlament und bildete anschließend eine Regierung mit zwei Parteien aus dem konservativen Lager, die von Viktor Orbán als Ministerpräsident Ungarns angeführt wurde. Während seiner ersten Amtszeit als Ministerpräsident trat Ungarn der NATO bei und führte Beitrittsverhandlungen mit der EU. Zudem sprach sich die Regierung Orbáns für eine Volksabstimmung über einen EU-Beitritt aus, wenngleich die Fidesz gegenüber der EU skeptischer, als die meisten der anderen Parteien eingestellt war.
Aus den Parlamentswahlen 2002 ging die Fidesz jedoch als Verlierer heraus und Viktor Orbán wurde als Ministerpräsident Ungarns abgewählt.
Erdrutschsieg bei den Wahlen 2010 als Beginn der Ära Viktor Orbáns
Die Parlamentswahlen 2010 waren eine Zäsur in der ungarischen Politik und ermöglichten das Comeback von Viktor Orbán als ungarischer Ministerpräsident. Im Vorfeld der Parlamentswahlen erlebte Ungarn im Zuge der Finanzkrise 2008 eine wirtschaftliche Notlage. Zur Verhinderung eines Staatsbankrotts war Ungarn als erster EU-Staat auf den Unterstützungsfonds der EU angewiesen. Hinzu kamen zudem auch innenpolitischen Krisen rund um die regierende sozialistische Partei, die das Vertrauen der ungarischen Bevölkerung in die Machtinhaber endgültig erschütterte.
Der große Nutznießer der Unsicherheit in der ungarischen Bevölkerung war Viktor Orbán mit seiner Partei Fidesz. So gelang der Fidesz bei den Parlamentswahlen 2010 ein Erdrutschsieg mit einer absoluten Mehrheit von 52,73% der Stimmen. Durch dieses Ergebnis erreichte die Fidesz eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament, womit die Partei ohne ein Regierungsbündnis mit anderen Partnern regieren konnte.
Systematischer Abbau von demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen
Schon im ersten Jahr der alleinherrschenden Fidesz-Regierung unter Viktor Orbán wurde deutlich, wie umfangreich die Fidesz ihre Machtposition in Ungarn definiert und welche Haltung sie zu demokratischen Grundwerten hat. Nur wenige Monate nach Amtsantritt verabschiedete das ungarische Parlament eine neue Verfassung für das Land. Diese ist seit 2012 in Kraft und zeichnet sich vor allem durch ihren zutiefst patriotischen Charakter aus, welcher Minderheiten wie die Roma nicht als Teil der ungarischen Nation anerkennt. Zudem wurden die Kompetenzen des Verfassungsgerichts dahingehend eingeschränkt, dass das Recht auf Überprüfung von Verfassungsänderungen wegfällt. Dadurch ist eine justizielle Unabhängigkeit in Ungarn de facto nicht mehr gegeben.
Des Weiteren beschloss die Regierung Orbáns umstrittene Mediengesetze, mit denen die Fidesz versucht, die Presse zu kontrollieren und jegliche Form von kritischer Berichterstattung zu eliminieren. Ein 2010 von der Fidesz gegründeter Medienrat, der mehrheitlich aus Vertraut*innen der Regierungspartei besteht, kontrolliert sowohl staatliche als auch private Fernsehsender sowie Zeitungen und Internetportale. Mit der sozialdemokratischen Népszava existiert aktuell nur noch eine bedeutsame Tageszeitung, die von der Regierungspartei Fidesz unabhängig ist. Die ungarische Medienwissenschaftlerin Agnes Urban, schätzte Ende 2023 den Anteil an unabhängigen Medien auf etwa 20%. In der alljährlich veröffentlichen Rangliste der Pressefreiheit, welche 180 Staaten weltweit umfasst, belegte Ungarn im Jahr vor Orbáns Amtsantritt 2010 den 23. Platz, in der neuesten Rangliste aus 2023 ist Ungarn nur noch auf Platz 72 zu finden.
Auch Freiheits- und Menschenrechte wurden durch eine Vielzahl von Gesetzen der Regierung Orbáns massiv unterdrückt. Insbesondere Menschen, die nicht nach den traditionellen Geschlechterrollen leben, werden diskriminiert. Große mediale Aufmerksamkeit erregte das 2021 verabschiedete Gesetz, welches jede Form von Informationen, Bildungsprogrammen und Werbung über Homo- und Transsexualität verbietet. Die EU kritisierte, dass das Gesetz europäische Grundwerte wie Menschenwürde und Gleichheit missachtet und forderte Ungarn zu einem Rückzug des Gesetzes auf. Seit 2021 läuft ein von der Europäischen Kommission beauftragtes Vertragsverletzungsverfahren im Zuge dieses Gesetzes, welches von 15 EU-Staaten unterstützt wird. Auch Massenprotesten von mehr als 30.000 Menschen beim „Budapest Pride“ zum Trotz, hielt die ungarische Regierung am Gesetz fest mit der absurd klingenden Begründung, dass Homo- und Transsexualität für die Entwicklung von Minderjährigen schädlich sei.
Wie sehr es dem Regime Orbán ein Anliegen ist, Homo- und Transsexualität aus der Gesellschaft fernzuhalten, zeigt ein 2023 beschlossenes Gesetz, was es Bürger*innen ermöglicht, gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern anonym den Behörden zu melden. Schon 2019 ließ die Fidesz die Verfassung mit dem Zusatz erweitern, dass eine Ehe nur zwischen einem Mann und einer Frau möglich sei. Beobachter der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, sprechen von einer „homophoben und transphoben Kampagne“ der Regierung.
Finanzielle Sanktionen als Reaktion der EU auf die Politik Orbáns
Nur wenige Wochen nach der jüngsten Wiederwahl Viktor Orbáns zum ungarischen Ministerpräsidenten im April 2022, reagierte die EU mit der erstmaligen Anwendung des seit 2021 bestehenden Rechtsstaatsmechanismus. Dabei können Staaten, welche gegen rechtsstaatliche Grundprinzipien verstoßen, die Auszahlung von EU-Geldern verweigert werden, sofern eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten dies befürwortet. Die Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus gilt als das größte Druckmittel, welches der EU zur Verfügung steht, um Mitgliedsstaaten, die EU-Rechte und Werte missachten, zu sanktionieren.
Im Dezember 2022 einigte sich eine große Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten auf die Einfrierung von Zahlungen in Milliardenhöhe an Ungarn. Insgesamt 6,3 Milliarden Euro an EU-Geldern werden aufgrund von Korruption und des Abbaus des Rechtsstaates nicht an Ungarn ausgezahlt. Darüber hinaus verschärfte die Europäische Kommission die finanziellen Sanktionen gegen Ungarn, indem sie die Auszahlung von Fördergelder in Höhe von 22 Milliarden Euro im Zeitraum von 2023 bis 2027, vorerst stoppte. Die Entscheidung der EU-Kommission im Dezember 2023, knapp die Hälfte der Fördergelder doch auszahlen zu wollen, stieß auf Kritik im europäischen Parlament, welches Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorwarf, sich von Ungarn erpressen zu lassen.
Dass insbesondere finanzielle Sanktionen gegen Ungarn ausgesprochen werden, ist mit der angespannten Wirtschaftslage in Ungarn zu begründen. Das Land kämpft mit einer hohen Inflationsrate und zunehmender Staatsverschuldung, weshalb Ungarn auf EU-Fördergelder in hohen Maßen angewiesen ist. Aber auch auf politischer Ebene wird Druck auf Ungarn ausgeübt. Bereits 2021 trat die Orbán-Partei Fidesz aus der Europäischen Volkspartei (EVP) aus, wodurch sie einem Ausschluss aus der EVP zuvorkamen. Zudem fordern Abgeordnete aus dem EU-Parlament den Entzug des Stimmrechts von Viktor Orbán im Europäischem Rat.
Wie Viktor Orbán EU-Hilfen für die Ukraine blockiert
Es ist ziemlich offensichtlich, dass die politischen Positionen von Viktor Orbán in vielen Bereichen stark von der Haltung anderer (west-)europäischer Mitgliedsstaaten der EU abweichen. Ungarn nimmt in einigen zentralen Aspekten eine isolierte Rolle innerhalb der EU ein. Allerdings wird in der EU in einigen Handlungsfeldern wie z.B. Außen- und Sicherheitspolitik, Finanzen und Bürgerrechte, die Zustimmung aller 27 Mitgliedsstaaten benötigt, um ein politisches Vorhaben umsetzen zu können. Ein Thema, welches die EU seit mittlerweile mehr als zwei Jahren beschäftigt, ist die Unterstützung der Ukraine im Zuge des russischen Angriffskrieges.
Als einziger Regierungschef aller EU-Staaten, zögert Viktor Orbán bis heute damit, Russland als Aggressor eines völkerrechtswidrigen Krieges zu bezeichnen. Stattdessen ist Orbán darum bemüht die ungarischen Beziehungen zu Russland aufrecht zu erhalten. So bezieht Ungarn weiterhin Gas und Öl aus Russland, obwohl die EU im Februar 2022 ein Öl-Embargo gegen Russland beschloss. Zwar stimmte Ungarn vielen der Sanktionen der EU gegenüber Russland zu, aber dennoch ist Viktor Orbán der einzige Regierungschef in der EU, der weiterhin öffentliche Treffen mit Wladimir Putin abhält.
Auf der anderen Seite nutzt Orbán seine Handlungsmacht im Europäischen Rat dafür aus, Hilfspakete in Milliardenhöhe für die Ukraine zu blockieren. Beim EU-Gipfel im Dezember 2023 waren sich alle anderen 26 Mitgliedsstaaten darüber einig, weitere finanzielle Hilfen im Bereich von 50 Milliarden Euro für die Ukraine zu beschließen und Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufzunehmen. Einzig Viktor Orbán nutze sein Veto-Recht im Rat, wodurch das geplante Hilfspaket nicht verabschiedet werden konnte. Erst auf dem EU-Sondergipfel im Januar 2024 gab Orbán seinen Widerstand auf, was für die EU als Verbündeter der Ukraine ein wichtiges Signal der Solidarität war.
Mit seiner (anfänglichen) Blockade für Ukraine-Hilfen im Rat erntet Viktor Orbán nicht nur den Zorn der anderen EU-Regierungschefs, sondern gefährdet durch seinen russlandfreundlichen Kurs auch die Sicherheit in ganz Europa.
Blick in die Zukunft: Wird Polit-Newcomer Péter Magyar zu einer Gefahr für Orbán?
Seit Anfang 2024 geht ein Ruck durch die innenpolitischen Verhältnisse Ungarns, den ausgerechnet ein langjähriger Befürworter des Systems Orbán zu verantworten hat. Die Rede ist von Péter Magyar, einem 43-jährigen Juristen, der über Jahre hinweg Führungspositionen in staatlichen Institutionen bekleidete, bis er in diesem Jahr mit der Regierung Orbán brach und sich seitdem als Gegner Viktor Orbáns positioniert. Magyar schaffte es, Zehntausende Menschen zu mobilisieren, um auf Großdemonstrationen für einen Kurswechsel der ungarischen Politik einzutreten. Dabei scheint es ihm zu helfen, dass seine politische Agenda kein kompletter Gegenentwurf zur regierenden Partei Fidesz ist. So gilt Magyar als (wert-)konservativ und tritt auf seinen Veranstaltungen stets mit staatlichen Symbolen wie der ungarischen Nationalflagge auf.
Doch im Unterschied zu Viktor Orbán vertritt Péter Magyar eine EU-freundliche Position, die auf stabilen Beziehungen zwischen Budapest und Brüssel abzielt. Zudem wirft Magyar der Regierung Orban Vetternwirtschaft vor und bezeichnet das aktuelle Ungarn als „Mafiastaat“.
Die erste Bewehrungsprobe für die neue Opposition darf als geglückt bewertet werden. Bei der Europawahl holte Péter Magyar mit der Partei Tisza 29,5% der Stimmen. Zwar wurde die Fidesz erneut zur stärksten Kraft gewählt, verfehlte allerdings mit einem Ergebnis von 44,9% die Zwei-Drittel-Mehrheit, die bei Wahlen auf nationaler Ebene von Bedeutung ist.
Die nächsten nationalen Parlamentswahlen in Ungarn finden 2026 statt und werden zeigen, wie nachhaltig der durch Péter Magyar ausgelöste Ruck in der Opposition wirklich ist.
Erwartungen an die ungarische Ratspräsidentschaft
Trotz Bemühungen des Europäischen Parlaments, Ungarn den Vorsitz im Europäischen Rat zu entziehen, begann die ungarische Ratspräsidentschaft am 1. Juli. Dabei wird sich der Fokus zunächst auf die Konstituierung des Europäischen Parlaments richten, welches von den EU-Bürger*innen bei den Europawahlen im Juni gewählt wurde. Dadurch ist jedoch zu erwarten, dass weniger Gesetzesvorhaben als üblich im Rat diskutiert werden, bei denen Ungarn die Rolle eines „Vermittlers“ unter den Mitgliedsstaaten einnehmen wird. Inwiefern Ungarn überhaupt diese Rolle angemessen ausfüllen, ist aufgrund des konfrontativen Auftretens von Viktor Orbán mehr als fraglich.
Das Land selbst will dabei den Schwerpunkt auf folgende vier Aspekte legen: Wettbewerbsfähigkeit, demografische Herausforderungen, mögliche EU-Erweiterung auf dem Westbalkan sowie die Sicherung der Außengrenzen. Insbesondere bei der Sicherung der Außengrenzen ist zu erwarten, dass Viktor Orbán den Rechtsruck im Zuge der Europawahlen ausnutzen wird, um einen verschärften Migrationskurs in der EU durchzusetzen. Generell teilen Expert*innen die Befürchtung, dass Ungarn während der Ratspräsidentschaft nach Verbündeten Ausschau hält, welche den rechtsnationalen Kurs der ungarischen Regierung legitimieren. So gründete Orbán bereits eine neue Fraktion im EU-Parlaments, in der unter der Bezeichnung „Patriots for Europe“, rechtsnationale Parteien zusammenarbeiten. Politiker*innen der Fidesz sollen Führungspositionen in der Fraktion besetzen.
10 Jahre Fidesz-Regierung: Lage der Demokratie in Ungarn (bpb.de)
Das Ungarn-Problem der EU (Internationale Politik)
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