Ein vereintes Europa, das für den Frieden, für Menschenrechte und den Fortschritt einsteht. So stellt sich die EU gerne da. Stichwort Werteunion.
Dass dieses Image nichts weiter ist als heiße Luft, lediglich eine clevere Marketing-Strategie, ließ auch der Moderator Klaas Heufer-Umlauf kürzlich im Sea-Watch-Podcast „Grenzerfahrung“ anklingen. Angesichts der Abschottungspolitik der EU, die allein im Mittelmeer jährlich für den Tod mehrerer Tausender flüchtender Menschen verantwortlich ist, deklariert Heufer-Umlauf: „Das Europa, das ihr uns hier vorspielt, das wurde sich in Werbeagenturen ausgedacht, das gibt es doch gar nicht“. Seine Gesprächspartnerin, die Menschenrechts-Aktivistin Pia Klemp, bringt es auf den Punkt: „Dieses System ist dafür gemacht, Reichtum und Macht innerhalb der EU zu horten und aufzubauen, und dafür wurde entschieden, dass Flucht und Migration bekämpft gehören.“ Und es ist ja eigentlich ganz logisch: Die EU war von Beginn ihrer Gründung an und schon in ihrer Vorform, der Montanunion, in erster Linie eine Union zur Koordinierung wirtschaftlicher Interessen. Auch das Schengener Abkommen, das 1985 den Weg zum europäischen Binnenmarkt ebnete, sollte nicht etwa -wie es in der Zivilgesellschaft oft dargestellt wurde- dem kulturellen Austausch und der individuellen Reisefreiheit dienen. Es hatte stattdessen ganz deutlich die Ausweitung der wirtschaftlichen Kompetenzsphäre der mächtigen EU-Staaten zum Ziel, die nun z.B. von günstiger Arbeitskraft aus Osteuropa profitieren konnten. Persönliche Freizügigkeit war da ein eindeutiges Nebenprodukt, das einerseits im Sinne der Werteunion als Förderung der Verständigung und Annäherung der Nationen dargestellt werden konnte, aber andererseits anhand des Umgangs mit unerwünschter Migration sehr deutlich zeigt, für wen die Werte der EU gelten und für wen nicht.
Obwohl es in der EU also vordergründig um wirtschaftliche Interessen geht, scheint sie ihr Image als Friedensmacht in der Zivilgesellschaft wahren zu können. Meinem persönlichen Empfinden nach stehen viele Menschen beispielsweise der NATO deutlich kritischer gegenüber als der EU. Während die NATO aufgrund von unverkennbaren politischen, militärischen und wirtschaftlichen Eigeninteressen ihrer Mitgliedsstaaten ständig Thema ist, steht die EU in den Augen vieler Menschen in erster Linie als Garant für den Frieden zwischen ihren Mitgliedsstaaten da.
Während meiner Semesterferien hatte ich das Glück, an einem Seminar von Özlem Demirel zum Thema EU als Friedensmacht teilzunehmen. Sie ist Teil der Fraktion Die Linke im Europäischen Parlament, sieht das Friedens-Image der EU kritisch und beschäftigt sich mit der zunehmenden militärischen Aufrüstung in der EU.
Zu Beginn des Seminars sollten wir intuitiv auf die Frage antworten, ob die EU eine Friedensmacht darstelle. Und tatsächlich herrschte erstmal eine vage Einigkeit unter den Teilnehmenden, dass die EU -in den Worten eines Teilnehmenden- zwar „bestimmt nicht unfehlbar ist und sicherlich wirtschaftliche Interessen hat, aber im Großen und Ganzen doch Garant für den Frieden und die internationale Zusammenarbeit ist“. Und ja, die EU mag einer der Grundsteine der deutsch-französischen Freundschaft sein und die Kriege zwischen diesen beiden Mächten beendet haben. Nur weil zwischen den Mitgliedsstaaten der EU kein Krieg herrscht, können wir allerdings noch lange nicht von fairer und ebenbürtiger Zusammenarbeit sprechen. So haben einige Regierungen, darunter in erster Linie die Deutschlands und Frankreichs, aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stärke deutlich mehr Entscheidungsmacht als andere Mitgliedsstaaten. Dies hat sich zum Beispiel in der Griechenlandkrise abgezeichnet, in der der Bankrott des Staates, der in erster Linie auf dem Rücken der armen Bevölkerung lastete, Deutschland Milliarden an Zinsen einbrachte. Das ist keine echte Solidarität.
Außerdem -um noch einmal auf das Thema Migration zurückzukommen- ist Deutschland maßgeblicher Verfechter und Initiator der Dublin-Verordnung, die besagt, dass flüchtende Menschen in dem Land ihres Ersteintritts in die EU Asyl beantragen müssen. Diese Regelung führt zu einem extremen Aufnahmeungleichgewicht, da natürlich deutlich mehr Menschen über den Land- oder Meeresweg in den Grenzstaaten der EU ankommen als über den Luftweg in den inneren Staaten. Viele Grenzstaaten sind mit der Aufnahme überfordert und werden von den wirtschaftsstarken Mitgliedsstaaten weitgehend alleingelassen, was zum einen erhebliche Auswirkungen auf die Behandlung der Flüchtenden hat, die in völlig überfüllten regelrechten Elendslagern unterkommen müssen. Zum anderen führen diese Herausforderungen zu einer höheren wirtschaftlichen und politischen Instabilität innerhalb der Grenzstaaten, die einhergeht mit größerer Abhängigkeit von den Wirtschaftsmächten Deutschland und Frankreich. Diese haben somit wiederum umso mehr Einfluss auf die Dublin-Verordnung und ähnliche Regeln, die ihnen selbst zugutekommen. Auch das ist keine echte Solidarität.
Die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten wird also nicht durch Werte der Solidarität und Gerechtigkeit geleitet, aber immerhin den Wert des Friedens wahrt die EU, oder? Nun, im Zuge des Krieges in der Ukraine haben die Staatschefs der EU die schon alte Zielsetzung, eine Militärunion zu werden, mit Hilfe des sogenannten Strategischen Kompasses konkretisiert. Er beinhaltet eine massive Aufrüstung der Union mit rund 60 vorgeschlagenen Maßnahmen, darunter die Schaffung einer Eingreiftruppe mit 5000 Soldat*innen und die Aushebelung des Konsensprinzips für Militäreinsätze. Dieser Strategische Kompass ist auf Grundlage einer Bedrohungsanalyse entstanden und hat das Ziel, die EU in Zeiten der Rivalität großer Mächte als eigenständige und gut gerüstete Instanz im globalen Machtkampf zu positionieren. Die Bedrohungsanalyse beinhaltet neben Terror und autoritären Regimen im Übrigen auch irreguläre Migration. Im politischen Machtkampf spielt die wirtschaftliche Konkurrenz die tragende Rolle: Es geht um die Verteidigung von Handelsrouten und Seewegen, von Absatzmärkten und Ressourcen. Özlem Demirel macht dabei deutlich, dass der Strategische Kompass keineswegs einen Schritt in Richtung Abrüstung oder Diplomatie darstellt, sondern die Gefahr erhöht, dass Krieg ein gängiges Mittel der Politik herrschender Mächte wird. Außerdem betont sie, dass Krieg, egal wo und aus welchem Grund, immer auf dem Rücken der einfachen, arbeitenden Bevölkerung ausgetragen wird. Wenn die EU aufrüstet, um ihre wirtschaftliche Vormachtstellung verteidigen zu können, dann nutzt das in erster Linie den großen Konzernen und Firmen. Für die breite Masse der Bevölkerung bringt Krieg allerdings nichts als Leid.
Für mich ist ganz klar: Es gibt kein Aufrüsten für den Frieden. Uns muss bewusst sein, dass die EU keine Werteunion ist, sondern dieses Image ein Vorwand ist, um im Namen der demokratischen Werte ein wirtschaftliches Kräftemessen auszutragen. Wo Konzerne an wirtschaftlicher Stärke gewinnen, muss es immer auch Verlierer geben. Flüchtende, die an den Grenzen Europas sterben; arbeitende Menschen, die am Existenzminimum leben; Jugendliche, die plötzlich mit der Waffe in der Hand einen Krieg ausfechten, der nicht ihrer ist: Sie alle tragen die Kosten für die wirtschaftlichen und vielleicht bald militärischen Machtkämpfe der EU.