Französische Ritter auf sizilianischem Boden – Das süditalienische Marionettentheater
„Ich habe alle unter Zauber stehenden Ritter zu befreien, mein Königreich zu retten und die Maiden aus dem Gefängnis zu befreien.“ Im sizilianischen Dialekt hallen die entschlossenen Worte der Prinzessin Angelica durch den dunklen Raum. Ihr rotes Samtkleid flirrt unter den ausladenden Armbewegungen, der rubinrote Kronenschmuck funkelt im Licht. Wir befinden uns hier nicht in einem Opernhaus oder einem italienischen Kinosaal, sondern sind zu Gast in einem der traditionsreichsten Volkstheater Europas: dem sizilianischen Puppentheater!
Ein identitätsbildendes Symbol der Gegenwart?
Die opra dê pupi hat aber nicht nur eine materielle und symbolische Dimension inne, wie es aus dem inhaltlichen Repertoire und der Ausgestaltung der pupi hervorgeht. Das süditalienische Puppentheater barg unterschiedlichste soziale Funktionen – insbesondere mit Blick auf die unterprivilegierte Bevölkerung Süditaliens. Feudalistische Unterdrückung und Armut, ausbleibende Schulbildung und Analphabetismus prägten Stadt und Land. Die Fröhlichkeit des Volkstheaters bot dieser Schicht eine Flucht aus dem tristen Alltag, schaffte Mut und Hoffnung; die orale Tradierung und Rezitation ermöglichte es jedem, als Akteur oder Zuschauer an diesem Erinnerungsmedium zu partizipieren. Hieraus erschließt sich wiederum eine fundamentale Bedeutung: Die opra dê pupi als ein identitätsbildender Erinnerungsort.
Einst zierten handgemalte, oft aus alten Kulissen bestehende Werbeplakate die Innenstädte Siziliens. An ihnen wird deutlich: Die „opera dei pupi“ war ein eigenständiges Unterhaltungsmedium der Mittel- und Unterschichten Süditaliens.
Letzteres zeigt sich umso mehr am rituellen Charakter des Puppentheaters. Die Geschichten der französischen Paladine wurden in allen süditalienischen Puppentheatern als Erzählzyklen vorgetragen. Oft erstreckten sich die Episoden über ein gesamtes Jahr. Damit war die opra dê pupi imstande, das süditalienische Volk an sich zu binden. Integriert in den alljährlichen Tagesrhythmus, wurde das Puppentheater zu einer der wichtigsten sozialen Rahmen des kollektiven Gedächtnisses im Mezzogiorno. Nachempfinden lässt sich dies in den Erinnerungen des italienischen Schriftstellers Carlo Levi. Im Jahr 1952 bereiste er Sizilien und widmete auch der Stadt Catania einen Besuch:
Der Abend findet im ‚Teatro Garibaldi‘, der Marionettenoper, seinen Abschluß, wo der tüchtige Meister Insanguine mit seinen Puppen die Taten der Paladine darstellt. (…)
An jenem Abend wurde eine Episode aus ‘Erminio vom Goldstern’ gegeben, die wie ein Fortsetzungsroman fünfundsechzig Abende dauert. Das Publikum weiß im voraus, was geschehen wird, und nimmt leidenschaftlich daran Anteil. (….) Die Paladine sind zeitnahe Idole, im stärkeren Maße noch als Coppi und Bartali (zu dieser Zeit berühmte italienische Radrennfahrer); man freut sich über ihre Siege und beklagt ihren Tod. Ein Kutscher, so wurde mir berichtet, erwachte eines Morgens schlecht gelaunt und erklärte seinen Hausgenossen, er wolle nicht mit der Droschke auf den Platz, weil es ein Trauertag sei: An diesem Abend würde im ‘Teatro Garibaldi’ Rinaldo sterben.
Die Paladine werden nach Levi zu lebendigen Erinnerungsfiguren, die selbst zeitgenössische nationale Idole wie Fausto Coppi und Gino Bartali überragen. Es sind Erinnerungsfiguren, die gesellschaftliche Wertevorstellungen und Lebenskonzeptionen reflektieren und beeinflussen. Dieser sozial tiefgründige Einfluss der opra dê pupi ist im 21. Jahrhundert jedoch nahezu vollständig verblasst. Auch im Mezzogiorno machte die Technisierung nicht halt: Spätestens ab den 1970er Jahren wurde ein Fernsehgerät zum erschwinglichen Konsumartikel. Die pupi avancierten mehr und mehr zu einem touristisch kommerzialisierten Souvenir, das durch Massenproduktion die eigentliche Individualität einbüßte. Jedoch machten vereinzelte sizilianische Familien es sich zur Aufgabe, das kulturelle Erbe aufrechtzuerhalten. Heute existieren in Palermo, Catania und Siracusa Bühnen des Marionettentheaters, die sowohl von Touristen als auch Einheimischen besucht werden. Einige ihrer Betreiber, wie die Gebrüder Napoli in Catania und Mauceri in Siracusa, unterstützen zugleich ortsansässige museale Institutionen. Konserviert werden hier nicht nur Marionetten und Kulissen der vergangenen Jahrhunderte, sie sind zugleich Ausdruck einer Sozialgeschichte: Denn die Geschichte der pupi ist zugleich eine des Mezzogiorno und seiner Menschen.
Nicht nur die normannisch beeinflussten Rittererzählungen haben Eingang in das Puppentheater gefunden. Auch Geschichten des alltäglichen Lebens haben seit den 1950er Jahren das Repertoire ergänzt
Die opra dê pupi mag vielleicht ihre große Zeit hinter sich gelassen haben. An ihre Stelle sind der Film und die sozialen Medien getreten. Dennoch bleibt sie eine Grundzutat der süditalienischen Kulturgeschichte, die sich vor allem durch eines auszeichnet: Ihre kulturelle Diversität. Nur in wenigen Teilen Europas haben sich derart vielfältige Einflüsse bis in die jüngste Zeit vermengt. Auch Süditaliens Marionetten sind in ihrem Kern Ausdruck von kultureller Vielfalt und damit von Pluralismus und Toleranz. Eigenschaften, die in der heutigen Medienlandschaft keine Selbstverständlichkeit mehr sind.