Französische Ritter auf sizilianischem Boden – Das süditalienische Marionettentheater
„Ich habe alle unter Zauber stehenden Ritter zu befreien, mein Königreich zu retten und die Maiden aus dem Gefängnis zu befreien.“ Im sizilianischen Dialekt hallen die entschlossenen Worte der Prinzessin Angelica durch den dunklen Raum. Ihr rotes Samtkleid flirrt unter den ausladenden Armbewegungen, der rubinrote Kronenschmuck funkelt im Licht. Wir befinden uns hier nicht in einem Opernhaus oder einem italienischen Kinosaal, sondern sind zu Gast in einem der traditionsreichsten Volkstheater Europas: dem sizilianischen Puppentheater!
Zurück zu den Ursprüngen – Die opra dê pupi
Die pupi waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts zwar wieder an ihren Ursprungsort zurückgekehrt – nicht aber in das kulturelle Kollektiv des Mezzogiorno. Der süditalienische Stadt- und Landadel behielt sich das Marionettentheater vor und war strengstens darauf bedacht, das „niedere Volk“ nicht hieran teilhaben zu lassen. Mit den ersten revolutionären Erhebungen des Risorgimento holte sich das süditalienische Volk „seine“ pupi jedoch zurück: Zumindest im Bereich kultureller Privilegien war der italienische Adel soweit entmachtet worden, dass bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein alt-neues Volkstheater entstanden war und sich über das süditalienische Festland und Sizilien ausbreitete und bis zum Ende der 1950er Jahre ein Publikumsmagnet blieb. Das im süditalienischen Dialekt opra dê pupi genannte Puppentheater knüpfte an volkstümliche Traditionen an und integrierte Einflüsse der spanischen Fremdherrschaft. Ein erinnerungskultureller Synkretismus, aus dem sich schließlich ein für den Mezzogiorno eigener Gedächtnisort entwickelte.
Il Risorgimento - Das Ende multinationaler Vielstaaterei auf dem italienischen Stiefel
Bis in das 19. Jahrhundert hinein glich die politische Situation auf der italienischen Halbinsel weitestgehend derjenigen des Deutschen Kaiserreiches, nach 1815 des Deutschen Bundes: Ein über Jahrhunderte gewachsener Partikularismus führte zu einer Zersplitterung des Landes in Republiken, Fürstentümer und Königreiche unterschiedlichster Ausdehnungen und Machtkompetenzen. Ihre divergierenden Einzelinteressen hatten seit dem Rinascimento, der italienischen Renaissance, die Ansätze einer territorialen und politischen Einigung verhindert. Stets wurden diese Einigungsbestrebungen jedoch von gesellschaftlichen Minderheiten getragen; Wortführer waren politische Berater und Denker wie etwa Francesco Petrarca und Niccolò Machiavelli, die nur selten eine Verbindung mit der mehrheitsgesellschaftlichen Unterschicht – dem popolo minuto – aufzubauen bestrebt waren. Erst die revolutionären Zäsuren des 18. und 19. Jahrhunderts, welche erfolgreich die Vorstellung eines souveränen, vom Volkswillen getragenen Nationalstaates verbreiteten, etablierten auch auf der Halbinsel die Idee eines Italiens als schichtenübergreifende Massenbewegung. Zentrum dieses italienischen Nationalismus war ab den 1840er Jahren der Norden des Landes geworden: Vittorio Emanuele II., König von Sardinien-Piemont, erblickte in den nationalistischen Forderungen die Hoffnung auf einen politischen Machtzuwachs und vereinnahmte sie zu seinen Gunsten. Öffentlich bekannte er sich zu einem unter der savoyischen Dynastie, das heißt dem Königreich Sardinien-Piemont, geeinten Italien. Entscheidend für die Verbreitung dieser Forderung eines Regno d’Italia, einem Königreich Italien, wurde Camillo Benso di Cavour, Minister unter Vittorio Emanuele II. Als Mitbegründer der Zeitschrift „Il Risorgimento“, zu Deutsch „Die Wiederauferstehung“, konkretisierte er in seinen Schriften die Vorstellung eines italienischen Nationalstaates als konstitutionelle Monarchie; zugleich forderte er ein Ende der Fremdherrschaft in den italienischsprachigen Gebieten und griff damit einen von den Unterschichten bis zum Bürgertum beklagten Missstand auf. So waren italienisches Festland und Inseln seit dem Mittelalter zu einem Spielball der internationalen Politik geworden, der Wiener Kongress von 1815 hatte diesen Umstand nicht verändert: Im Norden herrschte in Lombardo-Venetien das habsburgische Österreich, in Mittelitalien der von Spanien und Frankreich getragene Kirchenstaat, im Süden regierte die französische Dynastie der Bourbonen das Königreich beider Sizilien. Dem Königreich Sardinien-Piemont mit seinen nationalistischen Bestrebungen stand somit eine machtvolle internationale Opposition gegenüber. Die wesentlich vom Königreich Sardinien-Piemont getragene Revolution von 1848/49 konnte dementsprechend militärisch unterdrückt werden. Das Risorgimento, wie die nationalistische Bewegung in Anlehnung an Cavour nunmehr genannt wurde, hatte jedoch eine derartige gesellschaftliche Tragweite entwickelt, dass er auf lange Sicht nicht mehr aus der politisch-gesellschaftlichen Realität zu verbannen war.
Ein Jahrzehnt nach der fehlgeschlagenen Revolution von 1848/49 strebte das sardisch-piemontesische Königreich erneut die nationale Einigung Italiens an. Im Norden wie im Süden des Landes führten piemontesische und alliierte französische Truppen sowie bürgerliche Milizen eine militärisch erzwungene Ablösung der fremdherrschaftlichen Regime herbei. Der „Sardische Krieg“ von 1859, der gegen das österreichische Heer in Lombardo-Venetien geführt wurde, stellte für die italienischen Nationalisten einen ersten entscheidenden Zugewinn dar: Die seit dem Wiener Kongress zum österreichischen Kaiserreich gehörende Lombardei musste an das Königreich Sardinien-Piemont abgetreten werden. 1866 ging schließlich auch der habsburgische Vorposten an der Adria – die Region Venetien – an das Sardinien-Piemont über, das sich seit 1861 nunmehr als Regno d’Italia, als das „Königreich Italiens“, bezeichnete.
Kreuzgang von Monreale bei Palermo: Auf ganz Sizilien ist der normannische Einfluss architektonisch präsent. Die „cunti“ ergänzen dieses Kulturerbe um eine literarische Komponente.
Inhaltlich wandte sich die opra dê pupi einem Repertoire zu, das im kulturellen Gedächtnis des Südens seit der normannischen Fremdherrschaft vom 11. bis 13. Jahrhundert vorhanden war. Die traditionellen cunti – mündlich tradierte Volkserzählungen – waren stets auf die von den Normannen exportierten Heldenepen Frankreichs ausgerichtet. Im Mittelpunkt des Puppentheaters: Die Storia dei Paladini di Francia. Bei der Geschichte der Paladine Frankreichs handelt es sich um einen Erzählzyklus, der mit dem Tod des karolingischen Königs Pippin dem Jüngeren (714-768) beginnt. Pippin, Vater Karls des Großen (gest. 814), wird von seinen illegitimen Nachkommen erschlagen. Sie treten die Herrschaft über das Königreich Frankreich an und vertreiben Karl, den einzigen legitimen Sohn Pippins. Karl der Große – in den cunti „Carlo“ oder „Carlotto“ genannt – flieht nach Spanien, wo er sich auf die Rückeroberung seines Königreiches vorbereitet. Zusammen mit seinem Nachwuchs – Orlando, Rinaldo, Astolfo, Bradamante – und einer Vielzahl rechtschaffender Paladine kehrt Carlo nach Frankreich zurück. Mit dem Ziel, die waltende Ungerechtigkeit im karolingischen Reich niederzuschlagen und als rechtmäßige Nachkommen Pippins den Königsthron zu besteigen.
Es sind Erzählungen von Liebe und Hass; Vertrauen und Betrug; Frieden und Krieg. Durch die farbenprächtige Kulisse der opra dê pupi wurden die süditalienischen Heldensagen umso lebendiger: Für die Prinzessinnen und Könige wurden samtene Gewänder genäht, mit Perlenimitat und Schmiedekunst durchwirkt. Altes Blech wurde geglättet und anmutige Rüstungen für die französischen Paladine angefertigt. Auch ihren Antagonisten – den „ungläubigen“ Sarazenen aus dem fernen Orient – wurde ein ebenbürtiges Äußeres verliehen: Mit kaminroten Turbanen, goldenen Krummsäbeln und brokatenen Kostümen flößte man ihnen einen mythisch-zauberhaften Hauch ein. Im Gegensatz zu den normannisch beeinflussten cunti geht die jüngste Gestalt der süditalienischen pupi auf die spanische Fremdherrschaft zurück. Vermutlich brachten aus Kastilien stammende Aristokraten ihre titeres im 17. Jahrhundert in das Königreich beider Sizilien. Das spanische Marionettentheater lebte zu dieser Zeit von märchenhaften Rittersagen, sodass die hölzernen Körper mit Prinzessinnenkostümen und Ritterrüstungen bekleidet wurden.
Seite an Seite hängen im Museo dei Pupi von Siracusa die rechtschaffenden Paladine und ihre Widersacher, die Sarazenen. Allen gemeinsam ist ihre durch Größe, Farbenpracht und Detailreichtum ausgestrahlte Würde.
Wie die süditalienischen pupi zeugte auch das Bühnenbild von einem märchenhaften Farbreichtum: Auf Leinwände, Holz oder auch nur festem Papier malten die zuständigen pittori eine aus der Phantasie entlehnte Mittelalter-Landschaft. Neben den obligatorischen Burgen und Schlössern gehörten ebenso verwunschene französische Wälder und Grotten zum Repertoire der Szenerie, die mittels Flaschenzügen beliebig verwendet werden konnte.