Europens Bücher
Korf ist fassungslos, und er entflieht,
wenn er nur Europens Bücher sieht.
Er versteht es nicht, wie man
zentnerschwere Bände leiden kann.
Und ihm graut, wie man dadurch den Geist
gleichsam in ein Grab von Stoff verweist.
Geist ist leicht und sollte darum auch
leicht gewandet gehn nach Geisterbrauch.
Doch der Europäer ruht erst dann,
wenn er ihn in Bretter „binden“ kann.
Christian Morgenstern (1871-1914)
Zeig mir dein Buchregal und ich sage dir, wer du bist. Sowohl Klasse als auch Masse zählen, wenn es um den Beleg der persönlichen Belesenheit geht. Der reine Besitz von Büchern bedeutet natürlich nicht, dass man sie auch gelesen hat. Bücher haben und Bücher lesen sind unterschiedliche Kategorien, wovon die Notwendigkeit der Existenz öffentlicher Bibliotheken zeugt. Dass Bibliothek, Diskothek, Apotheke und Theke alle griechischen Ursprungs sind und einen Ort bezeichnen, an dem etwas gelagert wird, hat Robert Gernhardt in dem wunderbaren Bildgedicht „Neulich im Hegelstübchen“ vor Augen geführt.
(Gernhardt, Robert: Vom Guten, Schönen, Baren. Zürich 1997, S. 247).
vorher
nachher
Ab wann werden aus vielen Büchern aber zu viele Bücher? Morgensterns Korf trifft da bei mir einen empfindlichen Nerv. Alle, die je bei einem Umzug geholfen haben, wissen: Bücherkartons sind s…schwer, tendieren dazu, dass sie zu voll gepackt werden und im schlimmsten Fall durchbrechen. Allen, die sich an eigene Umzüge erinnern, ist wohl die Verwunderung vertraut angesichts von Büchern, bei denen man beim besten Willen nicht mehr weiß, entweder von wem man sie bekommen oder warum man sie sich selbst angeschafft hat. Sobald die Wohnung, wie mein Freund es mit einem seiner Neologismen formuliert, „zugebüchert“ ist, steht entweder die Anschaffung neuer Regale, ein Umzug in eine größere Wohnung oder die harte Revision an.
Europens Bücher haben die Tendenz zur Selbstvermehrung. Die phönizische Prinzessin auf dem zum Stier verwandelten Zeus hatte eher keinen Folianten dabei. Heute aber gilt, aller Digitalisierung zum Trotz, auch für Bücher die kapitalistische Formel „Wer hat, dem wird gegeben“. Der Trend geht zum Zweitbuch und weit darüber hinaus.
„Europäisch“ scheint mir das Ganze im Sinne einer europäischen Verehrung von Altem, Bewahrenswertem, Errungenem zu sein. Dass viele von uns als Privatpersonen an diesem Projekt beteiligt sind, hat die Corona-Pandemie mit ihren Onlineschalten in bücherregaldominierte Arbeits- und Wohnzimmer gezeigt. Eines meiner Corona-Projekte, das ich weiter durchziehe, ist die Lektüre oder Re-Lektüre von Büchern, die ich nicht unbedingt behalten muss. Dazu gehört auch der schmale Band „Galgenlieder“ mit Morgenstern-Gedichten. Da ich den dicken Band „Gedichte, Verse, Sprüche“ behalte, wandern die „Galgenlieder“ bei nächster Gelegenheit in die Bookcrossing-Station meines Vertrauens. Im Zweifelsfall stehen da dann mindestens zwei Bücher, die ich umgehend adoptieren muss.
Collage unter Verwendung einer Vorlage von picture-alliance / dpa
Mein Bestand an Büchern wird zu groß
Wie werde ich, die überzählig, los?
Puschkin? Bleibt. Tolstoj muss auch nicht weichen
Für Lem, Lec und Mickiewicz gilt dergleichen
Dehnel hat natürlich Bleiberecht
Und Maslowska schreibt ja auch nicht schlecht
Wisst ihr was? Es bleiben alle da,
Gesellschaft leistet bald noch Fallada
Wenn keiner von euch geht, dann geh‘ ich eben
Auch in der Küche lässt es sich gut leben