Willkommen zurück, liebe Leser*innen,

zum zweiten Teil dieses Interviews. Im ersten Teil sprach eine Zeitzeugin über die Zeit nach dem Mauerfall aus ihrer Sicht, und hier geht es um die weiterreichenden Reaktionen der Politiker*innen, und der Gesellschaft des Landes.

 

Wie war die internationale Reaktion? Wurde darüber überhaupt berichtet?

Doch, wurde. Und ich glaube, in der Masse hat man sich schon gefreut, oder Anteil genommen, weil das da Familien zerrissen hatte und Menschen bespitzelt wurden, das wusste ja die ganze Welt. Aber man hatte schon auch Zweifel daran, obs ne gute Idee war, ein ehemals faschistisches Land, das ja nicht umsonst unter Alliierten aufgeteilt worden war, wieder so zusammenzufügen, ich weiß, das Großbritannien da skeptisch war und wenn ich mir heute ankucke, wie hoch der Anteil von Nazis und Faschisten ist, muss ich leider sagen, zurecht.

Wie sehr fiel der Tourismus der Westdeutschen auf? Was haben die so gemacht?

Es wurde eher sehr unangenehm. Vorher kamen eigentlich nur Leute, die Familie besucht haben und plötzlich kamen Leute, die Geschäfte machen wollten und die fielen durch ein unfassbar arrogantes, herablassendes Verhalten auf, als ob wir alle blöd wären und sie uns jetzt zeigen würden, wie man ein richtiger Kapitalist ist. Das war abstoßend. Obs nen richtigen Osttourismus in dem Sinne gegeben hat, weiß ich nicht. Ob da wirklich welche ihren Urlaub verbracht haben, in dem halb zerfallenen Land, das kann ich mir nicht vorstellen.

Gab es in irgendeiner Form eine Erhöhung der Gewaltbereitschaft vonseiten der Sicherheitskräfte, wollte man etwaige Ausschreitungen unterdrücken? War das eine Gefahr?

Wüsste ich nicht, eigentlich waren alle glücklich. Die Frage war eher, ob da nicht westdeutsche Drogenbarone einmarschiert sind, was hätte da so ein kleiner Ossipolizist mit seinem Fahrrad ausrichten sollen. Das hieß nicht umsonst friedliche Revolution. Ich hab das vonseiten der Leute, die das gemacht haben, gesehen. Es hat auch keiner irgendwie Polizisten beleidigt oder so, wir waren immer sehr höflich, wir haben die gegrüßt, wir wussten, das sind auch nur arme Schweine, die ihren Job machen. Auf sowas waren die auch nullst vorbereitet. Natürlich wussten die aber auch, der Westen kuckt zu, sonst wäre da auch schneller der Schlagstock raus gewesen.

Hast du persönlich darüber nachgedacht die DDR zu verlassen, und was waren deine Gründe dafür bzw. dagegen?

Ein Jahr später. Das ist kompliziert. Ich hab damals ne Ausbildung gemacht und mein Ausbildungsbetrieb war MTV Halle, die Materialtechnische Versorgung der Landwirtschaft. Da bin ich Bürokauffrau geworden und kurz nachdem ich meinen Abschluss hatte, wurde das Ding plötzlich einer Baumarktkette aus Bottrop verkauft. Und statt im Büro zu sitzen, habe ich plötzlich Supermarktregale eingeräumt. Das war ein bisschen schlimm, weil das war auch so ein Segment wie Tedi für Baumarkt, also das war so richtiger Scheiß und du konntest sehen, wie den naiven DDR-Leuten die Kohle aus der Tasche gezogen wurde, so richtig übel. Und gleichzeitig war es plötzlich möglich, dass ich an der pädagogischen Hochschule studiere, die mich vorher eingestuft hatte als besonders geeignet, aber nicht genommen hatte, wegen einer Drei in Mathe. Ich musste mehrere Fähigkeiten in Tests beweisen und ich habe das richtig gut gemacht, aber dann kam mein Zeugnis mit der Mathenote und damit war mein Traum geplatzt, was zu der Ausbildung führte. Und plötzlich hieß es, ja, man kann da wieder hinkommen, kann losgehen. Und das Schräge war aber, dass ich auf ein Lehramt studierte für ein System, das es gar nicht mehr gab, aber da immernoch nach alten ostdeutschen Richtlinien gelehrt wurde. Und jede Woche fehlte irgendne Lehrkraft, die sich in den Westen aufgemacht hatte. Und es hieß vorher, man kann dort mit Bafög studieren und dass Abi, was man gar nicht hatte, weil man das im Osten nur mit Durchschnitt 1,2 oder 1,0 machen durfte, konnte man nebenher in der Abendschule machen, was dreifach die Arbeit war und plötzlich hieß es, nur die mit Abi kriegen Bafög und da habe ichs abgebrochen und bin nach Göttingen gegangen.

In Göttingen hatte ich mich beworben und eine Frühstückspension geleitet. Ich hab gekocht, geputzt und war die Empfangssekretärin. Und dann wurde die Pension verkauft und ich musste mit den verschiedenen Interessenten dort die Besichtigungen machen und dann hat der Makler, der das gemacht hat, mich sofort übernommen. Und da war ich dann zwölf Jahre lang und habe den Osten verkauft. Also ich war zuständig für den Außendienst, der in Ostdeutschland Grundstücke angeboten und verkauft hat, und hab den organisatorischen Kram geregelt. Und das war schwer, du hattest ja wirklich manchmal Leute am Hörer gehabt, die ihr Leben verloren haben und die da geboren und aufgewachsen sind und dann festellen mussten, dass ihnen das rein rechtlich einfach nicht gehört und wo dann ganze Existenzen auf einmal den Besitzer gewechselt haben. Die konnten nichts für die ganzen Umstürze und Aufteilungen, der Mauerfall war zuerst ein Glücksfall und hat denen dann den Strick um den Hals gelegt und man ist davon ausgegangen, dass ich den Ton treffe und die Verhandlungen leichter machen kann. Ich habe da stundenlang mit heulenden Landwirten telefoniert, die sich am liebsten inner Scheune aufgehängt hätten. Und die Option war, sprich mit mir oder mit der Bank, und ich hab denen gesagt: Du hast zwei Möglichkeiten. Friss oder stirb. Friss ist, nimm alles Geld, was du kriegen kannst, und geh. Stirb ist, versuch es durchzuklagen und du bist sofort obdachlos. Wenn die mit der Bank gesprochen hätten, hätten sie gehangen. Ich hab in vielen Fällen aushandeln können, dass die ein lebenslanges Wohnrecht erhalten haben, in anderen Fällen haben die ja wirklich rechtlichen Besitzer denen eine Ablöse gezahlt, die ihnen eigentlich nicht zustand. Da waren ja wirklich Leute enteignet worden von der LPG* und vertrieben worden, ohne die Chance, ihre Grundstücke noch zu verkaufen und die wollten sie auch wiederhaben, aus Gründen der persönlichen Geschichte, ohne aktive Absichten dadrin zu wohnen, oder zu investieren.

Wie haben die DDR-Politiker reagiert?

Bevor die Mauer fiel, zeichnete sich das ja Monate ab, dass Demos waren, dass die Leute unzufrieden waren und das war so ein bisschen, wie wenn Milch hochkocht, das passiert so ein bisschen und dann ist es nicht mehr zu stoppen. Im Juli in dem Jahr hat Erich Honecker** sich quasi aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Der war irgendwie auf einmal verschwunden, es hieß, der ist krank und das Problem ist, dass es für sein Amt quasi keinen Stellvertreter gab, der das hätte übernehmen können, das heißt der Egon Krenz*** musste übernehmen, war aber nicht so richtig mit Macht ausgestattet. Und er hatte jetzt auch nicht den Bombenrückhalt in der Bevölkerung und zur gleichen Zeit fand ja auch in Rumänien ein Umsturz statt und dann wurde das im Osten auch so, die Milch kochte, jetzt mit Schaum, es war nicht mehr aufzuhalten dass dieser Umsturz stattfindet. Es war nur noch eine Frage von „Bleibt es friedlich, oder gibts Gewalt?“ Und im Osten wurde in den Medien darüber kaum berichtet. Also wenn du ostdeutsche Zeitungen oder Nachrichten gekuckt hast, hast du davon nichts gewusst.

Berichtet haben die Westmedien und über die haben wir uns mit Wissen versorgt. Und wers nicht wusste, hats erzählt gekriegt, oder musste ja nur auf die Straße kucken. Montags 18 Uhr gings los und plötzlich stand ja aber der runde Jahrestag der DDR an, zu dem ich in Berlin war. Und da hat ja auch Gorbatschow sich positioniert und gesagt, dass er diese Öffnung gut finden würde und hat quasi demonstriert, dass er der Sache nicht im Weg stehen würde. Das war ja immer die große Frage, was der russische Verbündete und Alliierte denn dazu sagt. In Rumänien haben sie gewalttätig den Ceauşescu**** ermordet, und Erich Honecker hatte Angst, dass das hier auch so läuft und wir auch. Wir alle hatten Angst, dass das eskaliert, weil das wollten wir nicht. Und da musste ja nur einer mit ner kurzen Lunte kommen. Und dann ist Honecker zurückgetreten, von selbst, aber er wusste auch, dass sein Kabinett sich gegen ihn wandte, also er wusste, dass es da Absprachen gab und dass die Egon Krenz auch beauftragt haben, da zu übernehmen und der hat dann ja auch versucht, irgendwie die DDR zu, naja, nicht zu erhalten in dieser Form, aber irgendwie ne Reform einzuleiten. Nur da nahmen die Dinge eben auch von außen gesteuert längst ihren Lauf.

Wie hat die Gesellschaft als ganzes auf den Mauerfall reagiert, wie ist sie damit umgegangen?

Es gab kein gesamtgesellschaftliches Konzept mehr, denn das, was alle betroffen und geeint hat, gabs ja nicht mehr, das hat alle sehr unterschiedlich erwischt. Einige haben alles verloren, einige hatten auf einmal geile Möglichkeiten. Das ist immer so, wenn solche großen Umstürze kommen, die einen profitieren, die anderen verlieren.

Rückblickend, was hätte vielleicht anders gemacht werden sollen, und wie?

Ohne zu wissen, wie man das praktisch hätte umsetzen sollen, glaube ich dass man das Land oder das Volk der DDR mit mehr Respekt hätte behandeln können. Ich glaube, einfach zu sagen „Auf die Plätze fertig los, überrennt den Markt“, hat vielen Leuten ihre Würde genommen, ihre Möglichkeit sich selbst zu entfalten und auch ihr Selbstvertrauen. Ich hab dabei oft im Ohr, noch heute, das Klischee über den jammernden Ossi und ich glaube, dass dabei von einem offenbar sehr zufriedenen westdeutschen Teil der Bevölkerung übersehen wird, dass das im Grunde Menschen sind, die erst durch die russische Besatzungsmacht, dann durch ein diktatorisches Regime und dann durch einen Identitätsentzug traumatisiert wurden und ich glaube, man kann es dem Volk nicht übelnehmen, dass es eine Zeit braucht, um sich zu orientieren. Denn da wurde schon auch der andere Traum massiv zum Platzen gebracht, was man sich immer unter dem goldenen Westen vorgestellt hat, war eben eher ein goldenes Raubtier und damit klarzukommen, war eben schwer und für einige nicht möglich und da hätte ich mir eben gewünscht, dass man damit ein wenig respektvoller umgegangen wäre und den Osten nicht komplett verwestlicht hätte. Und das ist schade. Außer Bauzner Senf und grünen Ampelmännchen hat man da nicht viel übernommen und das ist schade, da hätte es noch viel viel mehr gegeben. Wir waren wie ein Ameisenhaufen, wir waren keine großen Individualisten, aber wir waren ein sehr zugewandter Ameisenhaufen. Wir waren gut im Zusammenhalten und im Trotzdem-was-hinkriegen und im Improvisieren und wir waren trotzdem nett zueinander. Natürlich haben wir gesagt, da mal vorsichtig, vielleicht ist der StaSi, aber man war trotzdem nett zueinander, da waren wir Meister drin. Und das vermisse ich bis heute hier im Westen, es fühlt sich an, als wäre es 10 Grad kälter. Sowas gibts hier gar nicht.

* Hier ein Artikel des MDR zur weiterführenden Information: https://www.mdr.de/geschichte/ns-zeit/zweiter-weltkrieg/1945/bodenreform-fuenfundvierzig-sbz-sachsen-anhalt-thueringen100.html

** Erich Honecker war ein einflussreicher kommunistischer Politiker der DDR und hatte von 1971 bis 1981 die Ämter des Generalsekretärs des Zentralkommitees der SED und Vorsitzenden des Staatsrats der DDR inne, Honecker war de facto das Staatsoberhaupt des Landes während dieses Zeitraums.

*** Egon Krenz war im Jahr 1989 für 49 Tage der Nachfolger Honeckers in den zuvor genannten Ämtern, bevor er am 06.12.1989 zurücktrat.

**** Nicolae Ceaușescu war von 1965 bis 1989 der Generalsekretär der Rumänischen Kommunistischen Partei und Staatspräsident und Vorsitzender des Staatsrates. Seine Herrschaft wurde als diktatorisch und brutal bezeichnet.