Hallo liebe Leser*innen.

Ich habe zuletzt ein Interview mit einer Zeitzeugin über das tägliche Leben und die Politik in der DDR geführt. Nun habe ich ein weiteres Mal mit ihr gesprochen und ihre Sicht der Ereignisse und Entwicklungen um den Mauerfall erfahren. Sie wurde 1971 in Potsdam geboren und wuchs in der DDR auf, während ihrer Jugend wechselnd in Halle und Berlin. Aus Gründen der Privatsphäre bleibt sie lieber anonym.

Familiär bedingt wuchs sie bei ihren Großeltern, ihrem Onkel und ihrer alleinerziehenden Mutter, später mit einem Stiefvater auf. Sie ging in der DDR zur Schule, war bei den Jungen Pionieren und in der FDJ, den Kinder- bzw. Jugendorganisationen der DDR, die direkt an die Bildungseinrichtungen für Kinder gekoppelt waren. Die Teilnahme war nicht wirklich freiwillig. Als Sonderumstand kam in diesem Fall dazu, dass die meisten restlichen Familienangehörigen in der BRD lebten und sowohl wirtschaftlich wie politisch großen Einfluss auf die Familie im Osten nehmen konnten.

 

Was waren eure Erwartungen, was habt ihr geglaubt, was passieren, wie die Situation sich entwickeln würde? Was waren eure Hoffnungen?

Also, man muss halt wissen, dass eigentlich bis zu dem Tag, als die Mauer dann fiel, niemand von uns hundertprozentig wusste, was passiert und dass das passiert. Was wir gehofft hatten, war eigentlich, dass wir ein Land mit Reisefreiheit werden. Dass im Laufe von wenigen Monaten dieses ganze Ding komplett in sich zusammenstürzt, das war zumindest nicht meine Erwartung. Und auch von den Leuten in meinem Umfeld weiß ich, dass keiner erwartet hat, dass die DDR so mit einem Knall verschwindet. Es war erschreckend, wie schnell plötzlich das Land als neuer Markt, als Absatzmarkt, als Tor in den Osten Europas beschrieben wurde und wie schnell Betriebe plötzlich rückabgewickelt wurden und Leute aufgetaucht sind und gesagt haben: „Das gehört übrigens eigentlich mir“, und ja, ein Land, in dem es schon im Grunde auch ums Allgemeinwohl ging, jedenfalls als große Leitlinie, plötzlich vom Kapitalismus überrannt wurde.

Wir haben damals darauf gebaut, dass es einen Volksentscheid geben würde, ob wir der Bundesrepublik beitreten, oder ob wir versuchen, mit einer Reform ein eigenständiges Land zu bleiben. Und dann wurde einfach die D-Mark eingeführt und damit waren Fakten geschaffen, den Volksentscheid gab es nie und damit hatte sichs erledigt. Wie naiv der Gedanke war, als eigenständiges Land bestehen zu können, kann ich heute nicht mehr sagen, ich weiß nicht, ob das jemals irgendwie funktioniert hätte, oder ob der Beitritt unvermeidbar war, aber ich glaube, es wäre gut gewesen, wir hättens versuchen dürfen. Und man darf da nicht vergessen, dass das für ein ganzes Land die Frage nach der eigenen Identität war, die plötzlich jemand anders beantwortet hat.

Wie wurden die Ereignisse des Abends und die weiteren Entwicklungen in den Nachrichten präsentiert?

Keiner von uns hat mehr Nachrichten gekuckt. Du musst dir mal reinpfeifen, wir waren 18 Jahre alt. Wir haben auf der Straße gefeiert und sind in den Westen gefahren. Ich kann mich wirklich nicht erinnern, dass wir Nachrichten gekuckt haben. Vielleicht die Älteren. Wir waren auch völlig überrumpelt eigentlich. Es war so, dass mein Freund damals aus der Schweiz war, der hat in Halle studiert, weil er an ein Visum kommen konnte als Schweizer, das hättest du als Westdeutscher nicht gekonnt, aber er als Schweizer konnte einreisen und studieren. Das war sehr sehr teuer, der hat da sehr viel für bezahlt, aber er war aus ner sehr reichen schweizer Familie und die hatten das Geld. Kurz bevor die Mauer fiel, war Gorbatschow in Berlin, das war der Jahrestag der DDR, das war ein runder, ich glaube 40 oder 50*, und Gorbatschow war eingeladen zur Feier und hat ne Rede gehalten und mein Freund hatte ein Ticket nach Amerika, um dort seine Verwandtschaft zu besuchen und so sind wir eigentlich vollkommen ahnungslos zusammen nach Berlin gefahren, das war auch sehr naiv.

Was ich erst später erfahren habe, war, dass ich längst die StaSi am Arsch hatte, auf die Idee wäre ich nicht gekommen, ich war 18, ich war unwichtig, aber er war Schweizer. Und so sind wir quasi am Vorabend des Mauerfalls, also geschichtlich gesehen, nicht vom Datum her, zusammen nach Berlin gefahren, mit dem Ticket in der Hand und die Stasi hinterher, um meine Ausreise zu verhindern. Die dachten, das wird ein Fluchtversuch. Und die ganze Stadt war voll mit StaSi und Polizei, denn Gorbatschow war da. Und als mein Freund dann in Amerika war, da ging es los, dass die Polizei dann auch mit Wasserwerfern auf die Demonstranten losging und das alles etwas rauer wurde und meine einzige Sorge war, als die Mauer endlich gefallen war, dass er irgendeine Nachricht kriegt, dass es mir gut geht, weil er immer geschrieben hat, dass er sich wahnsinnig Sorgen macht wegen dem, was bei uns los war, und ich ihn ja nicht erreichen konnte. Und ehrlich gesagt habe ich mich damit beschäftigt, und ob die die Grenze nicht wieder zumachen, damit haben wir uns damals beschäftigt, weil es nicht klar war ob das dauerhaft ist, oder ob die uns nur kurz rauslassen. Deswegen sind so viele auch nicht wiedergekommen.

Viele Menschen sind ja direkt geflohen, aber kamen umgekehrt einige Westdeutsche vielleicht sogar willentlich in die DDR, um da ein neues Leben anzufangen?

Ja, das hats gegeben, aber das war sehr sehr vereinzelt, es war kein Massenphänomen. Persönlich kenne ich halt nur meinen damaligen Freund, der aus der Schweiz kam zum Studieren und dem die DDR aber sehr gut gefiel, so vom Nicht-gewinnorientiert-Sein, aber der hat das als was betrachtet, als eine Option zum Leben, die für ihn halt ne Wahl war, das ist was anderes und er kam aus einer sehr reichen, sehr bekannten Familie.

Wie haben die Westdeutschen auf ostdeutsche Touristen reagiert? Wo wolltet ihr unbedingt hin?

Unser allererster Ausflug war tatsächlich am Wochenende nach dem Mauerfall. Wir sind also die ganze Woche brav zur Arbeit gegangen, dann sind wir von Halle nach Göttingen gefahren, da wohnte meine Patentante, und das war so eine, die hatte ihrerseits ihre ganze Kindheit bei meinen Großeltern in Halle vebracht, bevor die Mauer gebaut wurde und wir hatten eine enge Verbindung zu der und sie zu uns. Und plötzlich konnten wir dahin. Und es gab damals in diese Richtung ab Magdeburg keine richtige Autobahn, du musstest zum Schluss über die Dörfer fahren, denn eigentlich war da ein Sperrgebiet, das heißt wir fuhren in unserem eigenen Land auf einmal durch Orte, an die wir vorher auch nicht durften! Und das war fast genauso schräg wie plötzlich in den Westen zu dürfen und dadurch, dass dieses Gebiet halt touristisch überhaupt nicht erschlossen war, gabs nicht sowas wie unterwegs mal ne Toilette oder so und man muss sich jetzt eine unfassbare Lawine von Wartburg- und Trabant-Autos vorstellen.

Ich stand im ersten mehrstündingen Stau meines Lebens, denn alle rammelten in den Westen und als ich dann in dieser Zone war, wo keine Raststätten mehr kamen, da hatten die auf einmal Schilder in den Vorgärten stehen, dass man da aufs Klo gehen durfte. Und das war einerseits total schön und andererseits total traurig, was für Schilder da standen. Erst mal natürlich „Bei uns kannst du mal auf Toilette gehen und kriegst was zu trinken“, weil wir natürlich auf SO nen Stau nicht vorbereitet waren, ich glaube manche standen für 11 Stunden, wo du normal zweieinhalb gebraucht hast, und ich kann mich aber auch erinnern an Schilder mit „Bitte kommt wieder“, weil schon in den ersten Tagen, als die Mauer offen war, viele mit Sack und Pack in den Westen sind, eben aus Angst, dass diese Öffnung nicht bleibt. Alleine in meiner Berufsschulklasse waren wir vor der Grenzöffnung 28 Mädchen und in der ersten Woche waren acht weg. So wars.

Was habt ihr bei euren ersten Besuchen im Westen erwartet, und wurden diese Erwartungen bestätigt? Wart ihr enttäuscht, beeindruckt?

Ich hatte gar nichts erwartet. Weil ich keine Vorstellung hatte, so richtig. Ich kannte Fotos und meine Vorstellung war nicht sehr lebendig. Ich weiß noch, als wir in Göttingen waren und bei meiner Tante dann zuhause ankamen, war ich schon überwältigt von diesem Haus, in dem die wohnten, sowas kannte ich nicht, so mit Einbauküche und Parkettfußboden und Garage, und zwei Bädern, das hatte ich noch nicht gesehen so was. Und wenn ich heute zurückkucke weiß ich, dass das ein popliges Reihenhaus war, aber damals hat mich das ganz schön beeindruckt. Und ich bin an dem Abend das erste Mal in meinem Leben chinesisch essen gegangen, das hatte ich mir sehr gewünscht und ich fands abgefahren. Das gabs in der DDR wirklich gar nicht. Das nächste Mal hat sie mich zu ihrem Arbeitsplatz mitgenommen und die waren alle sehr nett und haben gesagt: „Ach von dir hat sie schon immer viel erzählt!“, und es war schön zu sehen, dass wir in diesem Leben wirklich vorkamen und einen Platz hatten. Und dann sind wir rund um Göttingen gelaufen, weil Göttingen hat eine erhaltene Stadtmauer, wo du richtig um diesen Altstadtkern einmal rumlaufen kannst, und sie hat mir Orte gezeigt, von denen sie immer erzählt hat, und damit dass zu verarbeiten, war ich erst mal völlig beschäftigt.

Wie hat es dich persönlich betroffen?

Du standest neben dir, du bist dein ganzes Leben in diesem Land aufgewachsen und hast gesagt gekriegt, du darfst es niemals in Richtung Westen verlassen und es war unfassbar, was da in wenigen Tagen alles passiert ist. Es war total krass, es war ja völlig normal, das unsere Westverwandten uns besucht haben und ich kannte viel aus deren Leben, von Fotos und plötzlich kannst du da hinfahren, du kannst die bei sich zu Hause besuchen, das war vorher unvorstellbar, das hat man sich auch nicht vorgestellt, weil klar war, dass das nie passieren würde. Und es wurde mit einem Schlag natürlich alles auch völlig unsicher, plötzlich waren diese Sachen, die man früher in den Nachrichten über den Westen gehört hat, mit Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg, bei uns angekommen. Als klar war, dass das ne bleibende Sache ist, dass die nicht wieder zumachen, dass es geschafft ist und die Grenzen offen bleiben, bin ich sofort beim Bündnis 90 eingetreten. Wir haben versucht, soweit das möglich war, wir hatten ja keine technische Ausrüstung oder so, große Umweltsünden zu kartieren, gar nicht um einen Skandal aufzudecken oder sowas, sondern weil Halle ja umgeben war von chemischer Industrie und wir haben versucht, im Groben festzuhalten, wo da ganz schlimme Chemieausleitungen und illegale Müllhalden waren, aber das war schwierig, weil ständig alles im Umbruch war. Und es gab keine festen Strukturen mehr, und wir haben das ganz schnell wieder sein lassen, weil jeder war mit anderen Dingen beschäftigt und keiner wusste, was mit ihm beruflich wird, keine Ahnung.

Was dann schlimm war, ein paar Monate später, da gabs plötzlich die Bildzeitung in der DDR und die fingen an Listen zu veröffentlichen, wer in der StaSi war. Und es war halt schlimm zu sehen, dass mein allerbester Freund StaSi war und das eben klar war, dass der auch der war, der meinen Freund und mich an die StaSi verpetzt hatte. Was für mich verheerende Konsequenzen hätte haben können. Und das war wirklich mein bester Freund, der wusste alles, wir haben über alles geredet und ich habe dem blind vertraut. Und dann haste eben da auch gesehen Namen von Nachbarn, von Lehrern, Kollegen und das war schlimm. Seitdem hatte ich auch nie wieder solche engen Freunde, der hätte in Kauf genommen, dass ich in Bautzen in den Knast gehe.

Gab es sofortige Konsequenzen, z.B. für die Wirtschaft und die Versorgungslage?

Nein. In den ersten Wochen hast du kaum was bemerkt. Vielleicht in den Orten, die grenznah waren, aber bei uns nicht. Wir hatten ja auch in den ersten Wochen nach wie vor unser Geld und wir konnten ja nicht auf einmal in den Westen fahren und mit unserem Geld da bezahlen.

Generell, wie hat sich die Lage entwickelt? Was war der Einfluss auf das tägliche Leben, sofern es einen gab? Hat sich viel verändert, wenn ja was?

Das hat ein bisschen länger gedauert. So richtig Fahrt aufgenommen hat das Ganze so mit Einführung der D-Mark, deswegen wurde das so betrieben, du konntest ja in einem Land, wo es im Grunde eine wertlose Währung gab, keine Geschäfte machen. Und es wurde dann sehr schnell ja die DDR zum Absatzmarkt erklärt und dafür, um da Geschäfte zu machen, musste es ja eine Währung geben, die wertvoll ist, und dann kamen die Leute, die da Grundstücke hatten, oder die meinten, ihnen gehören da Teile an Betrieben. Also man muss wissen, Halle war erst amerikanische Besatzungszone und damit das nicht so ein Flickenteppich ist, wurde das geteilt in Ost und West. Und dann verließen die Amis Halle und dann war klar, dass eben kommunistisch geherrscht werden würde und dass ehemaliger kapitalistischer Besitz da keine Rolle mehr spielen würde und dann gab es Enteignungen. Und die Russen haben anders als in den westlichen Gebieten nicht investiert, sondern „exvestiert“, also die haben unsere Fabriken und Anlagen abgebaut und nach Russland transportiert, um da ihre durch uns zerschossene Wirtschaft wieder aufzubauen. Während im Westen eben der Marshallplan griff und das Wirtschaftswunder erblühte.

Ja und nach dem Mauerfall kamen halt die ehemaligen Besitzer, Erben und Leute, die glaubten, sie wären Erben und wollten das alles wiederhaben, es wurde also zum zweiten Mal geplündert, erst durch die Russen, dann durch die Westdeutschen. Und die Menschen, die da versucht haben, sich irgendetwas aufzubauen, zwischen Krieg und Russen und Westdeutschen, die waren schon wieder die Abgezockten. Und das waren halt die Folgen davon, dass man das Land nicht erhalten hat, sondern dass man einfach westdeutsch wurde. Und dem gegenüber, das muss man eben auch sagen, stand ne Reisefreiheit, eine Freiheit, beruflich zu werden, was man konnte, das war vorher staatlich ein bisschen limitiert, die Freiheit, in Deutschland zu wohnen, wo du wolltest und natürlich wirtschaftlich dein eigenes Ding zu machen und Erfolg zu haben, das war vorher gar nicht vorgesehen.

 

Im zweiten Teil werden wir über die Reaktionen der Gesellschaft der DDR und der Politik sprechen.

* Gemeint ist hier der 40. Jahrestag der DDR.