Wenn Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer sterben, dann bekommt Europa das mit. Nicht im Detail natürlich, es passiert ja schließlich nicht IN Europa – ist doch so weit weg, fällt bestimmt nicht in unsere Verantwortung. Aber bekannt ist der Themenkomplex „Flucht über das Mittelmeer“ in Europa irgendwie schon. Nicht zuletzt, weil man sich ja nun zum Unmut der konservativen und rechten Kräfte um den Verbleib der Geretteten kümmern muss. Obwohl: das ist auch eigentlich nur nötig, wenn die Rettung durch zivile Kräfte vollzogen worden ist, die man nicht davon abhalten kann, die Geretteten nach Europa zu bringen. Wäre es stattdessen nicht praktisch, andere dafür zu bezahlen, dass sie Migrant:innen und Flüchtende nach der Rettung auf See einfach wieder dorthin zurückbringen, wo sie hergekommen sind, auch wenn sie dort großer Lebensgefahr ausgesetzt sind? Aus dem Auge, aus dem Sinn wären Leid und Tod an den Grenzen Europas.

Was ich so zynisch beschreibe, mag überspitzt wirken. Aber egal, wie oft ich diese Sätze durchgehe, ich finde doch leider kein Argument, das ihren Wahrheitsgehalt infrage stellen könnte.

Denn es stimmt: Zur Vermeidung jeglicher Eigenverantwortung und zur Auslagerung diverser Menschenrechtsverletzungen hat die EU sich einen Kooperationspartner jenseits der europarechtlichen Moral geschaffen: Die libysche Küstenwache.

 

Die Situation in Libyen

Um das Schicksal flüchtender Menschen in Libyen ansatzweise zu begreifen, muss ich etwas weiter ausholen: Seit dem Bürgerkrieg von 2011, der mit dem Sturz des langjährigen Diktators Muammar al-Gaddafi endete, ist das Land tief gespalten. Es ist bis heute nicht gelungen, eine einheitlich anerkannte Regierung zu ernennen. In einem zweiten Bürgerkrieg kämpft seit 2014 der Osten unter Chalifa Haftar gegen die offizielle Regierung, die Teile West-Libyens kontrolliert. Doch auch im Westen ist die offizielle Regierung nicht so mächtig, wie eigentlich vorgesehen. Hier teilt sie sich ihren Einfluss mit verschiedenen Milizen. Diese Milizen, die zwar teilweise mit der Regierung kooperieren, aber auch eigene Ziele verfolgen, haben große politische und militärische Macht und spielen in der Behandlung der flüchtenden Menschen eine entscheidende Rolle, da sie einen Großteil der Internierungslager kontrollieren. Ja, Internierungslager für Menschen, die auf ihrer Flucht durch Milizen und Menschenhändler festgenommen oder entführt werden.

 

Libyen gilt als Transitland. Das heißt, dass flüchtende Menschen aus verschiedenen Ländern Afrikas nach Libyen kommen und dort auf eine Möglichkeit warten, das Mittelmeer überqueren zu können. Laut UN-Schätzungen machen sie die Hälfte der ca. 900.000 Menschen aus, die in Libyen akut auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Während ihres Aufenthalts in Libyen, der sie in die Elendsviertel der Städte zwingt, sind sie nicht nur lebensbedrohlichen Umständen wie Armut und Krankheit ausgesetzt, sondern auch der Gewalt der Milizen. Zahlreiche Personen dokumentieren im Internet und in den Medien ihre Geschichten, individuelle Schicksale und doch immer wieder dasselbe Motiv: Die Milizen greifen Menschen auf der Flucht auf und entführen sie. Ihnen werden enorme Summen abverlangt, um sich freizukaufen – ungefähr 10.000 US-Dollar mindestens. Wenn sie nicht bezahlen können, und das kann fast niemand, setzen die Milizen auf die Familien. Sie foltern ihre Opfer und versuchen so, Geld von den im Herkunftsland verbliebenen Angehörigen zu erpressen. Viele Überlebende berichten von einer Kooperation zwischen den Milizen und den Schleppern, die ihnen eigentlich für hohe Summen eine Überfahrt nach Europa garantiert haben.

Die Internierungslager, in denen die Milizen die Flüchtenden festhalten, lassen sich nicht mit Auffanglagern vergleichen. Es sind Gefängnisse, in denen geschlagen und gefoltert wird. Die Nahrungsmittelversorgung ist unzureichend, Menschen leben zusammengepfercht auf engstem Raum. Die Milizen, die die Lager gleichzeitig als Militärbasen nutzen, profitieren von Zwangsarbeit und Erpressung. Ehemalige Gefangene zeigen gebrochene Gliedmaßen, Brand- und Schusswunden und erzählen von Vergewaltigung und Erschießungen. NGOs wird meistens nur die Bereitstellung von Hilfsgütern, nicht aber der Zutritt zu den Lagern gewährt.

 

Die EU und ihre Handlanger

Angesichts dieser Umstände kann man sich nun fragen, ob es für das ,,Europa der Menschenrechte“ nicht ohnehin angebracht wäre, Menschen aufzunehmen, die vor solcher Gewalt und extremer Armut fliehen. Leider ist der EU nicht nur bloße Untätigkeit vorzuwerfen.

Die Machtstränge der Milizen und Menschenhändler ziehen sich durch die gesamte politische Struktur Libyens, auch durch die eingangs genannte libysche Küstenwache. Sie gilt als notorisch korrupt. Immer wieder werden Vorwürfe publik, nach denen Teile der Küstenwache Gerettete an Menschenhändler ausliefern. Wer durch die Küstenwache abgefangen wird, landet mit hoher Sicherheit in einem Internierungslager. Zusätzlich wird der Küstenwache vorgeworfen, fahrlässige ,,Rettungen“ zu vollziehen und teils gewalttätig gegen die Flüchtenden vorzugehen.

Diese Problematik ist auch der EU bekannt und doch finanziert sie die libysche Küstenwache mit Geldern in Millionenhöhe. Seit 2017 ist die EU an der Ausbildung der Küstenwache beteiligt. Die EU selbst hingegen hat 2019 ihr Seenotrettungsprogramm „Sophia“ endgültig aufgegeben und verfügt seitdem über keine effektive staatlich oder supranational organisierte Seenotrettung mehr. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex greift hauptsächlich auf Flugzeuge zurück, mit denen die Positionen von Flüchtlingsbooten ausgekundschaftet und dann an Seenotleitstellen, also auch an die libysche Küstenwache, weitergegeben werden. Die EU hat also de facto jegliche Verantwortung zur Seenotrettung an die libysche Küstenwache übertragen. Denn man muss sich deutlich vor Augen führen: Wer in der Such- und Rettungszone eines Mitgliedsstaates der EU gerettet wird, hat nach internationalem Seerecht Anspruch auf einen sicheren Hafen, sprich auf eine Landung in der EU. Die weitere Betreuung der Geretteten liegt dann erstmal in der Hand des für die Rettung verantwortlichen Landes. Die Involvierung der Küstenwache, die jedes Jahr mehr Menschen abfängt, ist nüchtern betrachtet ein Versuch, sich dieser Verpflichtung zur Aufnahme zu entziehen. Kein Wunder also, dass die Bilanzen der libyschen Küstenwache in einem internen Bericht des Europäischen Auswärtigen Dienstes von 2020 als „exzellente Ergebnisse“ bezeichnet werden. Der EU wird so schließlich ermöglicht, sich weitestgehend abzuschotten, ohne dabei von der breiten Mehrheit der Bevölkerung als Mitwisserin im besten Fall, eher aber als Mittäterin an schweren Menschenrechtsverletzungen erkannt zu werden.

 

Welche Auswirkung dieses politische Spiel mit großen Zahlen und hin- und hergeschobenen Zuständigkeiten auf die betroffenen Menschen hat, ist für uns EU-Bürger:innen schlichtweg nicht begreifbar. Sie sind gefangen in einem Teufelskreis aus Flucht, Festnahme und Rückführung. Viele Menschen treten den Weg über das Mittelmeer vier-, fünf- oder sechsmal an und landen doch wieder in den Lagern. Trotzdem bleibt Europa ihre einzige Hoffnung, der einzige Weg hinaus aus dem Kreislauf von Gewalt und Armut.

Ich will es klar sagen: Ein Europa, das seinen Wohlstand durch eine solche Abschottung zu sichern versucht, hat weder aus seiner kolonialen Vergangenheit gelernt noch hat es das Recht, sich Menschenrechte und Fortschritt auf die Fahne zu schreiben.

 

Noch bis März stellt die Arte-Mediathek eine aufrüttelnde Dokumentation zu dem Thema zur Verfügung:

https://www.arte.tv/de/videos/098815-000-A/lager-der-schande-europas-libyen-deal/