Hallo liebe Leser*innen.

Dies ist der zweite Teil meines Interviews zum Leben in der DDR mit einer Zeitzeugin. Im ersten Teil sprachen wir über Politik, Bildung, und Propaganda, und in der zweiten Hälfte geht es nun um das Alltagsleben, und die kleineren Aspekte der Lebensrealität einer DDR-Bürgerin. 

 

Wie war die Morgenroutine? Gab es irgendwelche Schritte, die man heute nicht mehr vollführt, oder wurden Sachen, die heute dazugehören weggelassen? Das heißt, musste zum Beispiel die Familie zusammen erst einmal irgendwelche Aufgaben für den Haushalt erfüllen?

Meine Eltern kamen abends spät von der Arbeit, also war meine Aufgabe morgens vor der Schule, die um sieben Uhr begann, in den Keller zu gehen, vier Stockwerke runter, und dann zwei Eimer Kohle hochzuholen. Das musste ich als kleines dünnes Mädchen alles alleine hochbuckeln. Wir wohnten im obersten Stock. Ich musste die Öfen anmachen, damit, wenn meine Eltern aufwachen, die Wohnung warm war. Ich bin als Schulkind alleine aufgestanden und musste mir selbst Frühstück machen, und das war seit der ersten Klasse so, es gab keine familiäre Morgenroutine. Ich musste daran denken meinen Schlüssel mitzunehmen, weil wenn ich nach Hause kam, waren meine Eltern schon wieder arbeiten.

Welche Marken waren beim Frühstück vertreten? Gab es DDR-Ableger von West-Konzernen oder Firmen, die bewusst den Westen stilistisch imitiert haben, oder waren es komplett andere Produkte?

Wir hatten ziemlich coole Milch in Dreiecks-Packungen. Das war so Schulmilch zum Mitnehmen. Es gab reines tiefgefrorenes Obst, das war sehr selten. Es gab Kaffee, der hier „Im Nu“ hieß (für sehr schnell). Das Waschmittel Spee und den Bautzner Senf gibt es bis heute überall zu kaufen. Wir hatten auch diese fünf mal fünf Zentimeter großen Schoko-DDR-Sandmännchen. Außerdem solche Margarinewürfel, die in Pergamentpapier eingewickelt waren, namens Sonja. Schnell kochbare Linsen, die hießen Tempolinsen, für arbeitende Hausfrauen. Wir hatten auch solche Fischdosen, Scomber-Mix hießen die. Marmelade war immer selbst gekocht. Und dann gab es solchen Honig in einer Bärenflasche, der man zum Öffnen den Kopf abdrehen musste, was im Rückblick ziemlich morbide war. Hat auch tierisch rumgesaut. Es gab noch eine Kaffeesorte namens Rondo Melange, das waren ganze Bohnen und kein Pulver. Dafür hatten wir eine Kaffeemühle aus dem Westen, die musste man gut festhalten, weil sie teilweise kaputt war und der Kaffee sonst gerne auch mal durch die halbe Küche flog.

Lebte man generell nah an der Schule bzw. dem Arbeitsplatz, oder pendelte man eher? Gab es einen öffentlichen Nahverkehr, der mit dem Westlichen vergleichbar wäre?

Der öffentliche Nahverkehr war wesentlich besser organisiert, ich kann mich nicht erinnern, dass die Straßenbahn mal mehr als fünf Minuten Verspätung hatte. Es hatte nicht jeder ein Auto. Du musstest auf ein Auto bis zu 18 Jahre warten, nachdem du es bestellt hast, und du hast durchaus auch große Einkäufe mit der Straßenbahn erledigt. Wobei ich glaube, dass das hier im Westen zu der Zeit auch nicht so war, dass jeder ein Auto hatte. Was ich nicht weiß ist, wie es im ländlichen Raum war. Halle war eine Großstadt, Berlin war eine Großstadt. Genau wie jetzt, in Ostfriesland fährt auch nicht alle 10 Minuten der Bus. Und es war so, dass die Schulen nah an deinem Wohnort waren, es gab festgelegte Schulbezirke, innerhalb derer du wohnen musstest, um da zur Schule zu gehen. Es war nicht gewünscht, dass du sagst, du wohnst hier und gehst ganz woanders zur Schule, du solltest wohnortnah zur Schule gehen. Mit deinem Arbeitsplatz war das was anderes, das hatte mit deinem Wohnort nichts zu tun.

Gab es eine ausreichende Vielfalt an „Luxusartikeln“ wie modischer Kleidung, Schuhen, Büchern, elektronischen Geräten usw., dass man „shoppen“ konnte, oder war das eher ein reine Bedarfshandlung? Wie standen die Leute generell zu offen zur Schau gestelltem Konsum oder Wohlstand? War man eher genügsam oder doch neidisch?

Also es gab Dinge zu kaufen, auch das, was man als Luxusgüter bezeichnen würde. Das stand aber nicht permanent zur Verfügung, also du konntest nicht in die Stadt gehen und sagen, heute kaufe ich mir ne geile Jacke, aber du konntest gehen und gucken, was es gibt, und wenn du Glück hattest, gabs deine Jacke und ansonsten gabs halt nen Pullover. die Grundsicherung war aber gesichert, und manchmal gabs nur irgendeine Hose. Wir kannten das nicht anders, uns hat das manchmal auch gar nicht groß gestört, dann wars eben pragmatisch. Und was mich persönlich betrifft, wars so, dass meine Klamotten zu 98% ausm Westen kamen, von unseren Verwandten, Zeug, aus dem deren Kinder ausgewachsen waren. Ich weiß nicht, wies in der Erwachsenenwelt mit dem Neid war, das kann ich dir nicht sagen. Ich kann sagen, dass es für mich als Teenager sehr schwer war, mit allen Sachen aus dem Westen, mit meinen pubertären Klassenkameraden, die das alles nicht so geil fanden.

Wie war generell die Versorgungssituation? Es ist ja allgemein bekannt, dass es Engpässe bei einzelnen Waren gegeben hat, aber war das ein Ausnahmefall oder eine konstante Plage? Wie weit verbreitet war so etwas? Gab es eine Priorisierung einzelner Supermarktketten oder Standorte? Waren die betroffenen Waren eher exotische Güter oder sogar Alltagswaren wie Milch, Eier, Brot, usw.?

Standorte. Berlin als Landeshauptstadt, wo auch die Parteifunktionäre alle wohnten, war jedenfalls privilegiert. Du wusstest, dass, wenn du nach Berlin kommst, du spätestens im dritten Supermarkt Bananen wirst kaufen können. Der hieß übrigens Konsum. Tendenziell hatte ich das Gefühl, dass es in der Mitte der DDR immer besser lief als am östlichen Rand, und du wusstest z.B., dass DDR-Parteifunktionäre in deine Stadt kommen, wenn deine Straße kurz mal dünn angestrichen wurde, aber nur so, wie der Parteifunktionär auf Augenhöhe ausm Auto gucken konnte. Also da war dann teilweise das Erdgeschoss gestrichen, und der erste Stock schon nicht mehr. Und was die Engpässe anbetrifft, das zog sich quer durch alles. Es konnte sein, dass du in eine Kaufhalle kamst und es gab Bananen, aber dafür kein Klopapier. Deswegen hat mich diese Pandemie nicht so hart erwischt, ich weiß, wie man für solche Zeiten einkauft. Und du wusstest, es ist besser, von allem zu Hause ein bisschen was zu haben, falls es mal für ein paar Wochen nicht da ist. Und das hat man schon als kleines Kind gelernt, das hat dich nicht groß beschäftigt. Ich weiß noch, wie ich als kleines Kind mit dem Einkaufszettel in den Konsum gegangen bin und die Kassiererin hat mir im besten Fall geholfen mich zurechtzufinden. Du hattest als kleines Kind auch keinen richtigen Einkaufszettel, sondern bist mit gemalten Bildern der Produkte losgelaufen. Dann bin ich rein und hab mich umgeschaut, und da waren Erdbeeren. Und da war klar, der ganze Einkaufszettel hat sich gerade erledigt, weil ich von dem Geld jetzt Erdbeeren kaufe. Nicht weil ich die wollte, sondern weil klar war, das ist jetzt Priorität. Und so war das mit allem. Ich kann mich erinnern, da gab es Häuser, wo du gesehen hast, die Leute wollten umbauen, aber da lag ein Jahr lang nur Baumaterial auf nem Haufen, weil die Leute nicht anfangen konnten, weil irgendwas fehlte. So war das. Also im Prinzip wie seit der Pandemie mit den zusammengebrochenen Lieferketten.

Stimmt es dass es auf den Straßen nur den Trabanten gab, oder fuhren auch andere Automarken?

Da fuhren Wartburgs, Skodas, ich kenne Leute die alte Citroëns hatten, es fuhren Wolgas, russische Autos fuhren, wir hatten sehr viel Armeefahrzeuge, und die Offiziere hatten ihre privaten Autos oft dabei oder kriegten welche, keine Ahnung. Es fuhren auch Busse und Laster, und Straßenbahnen natürlich.

Welche Gedanken gingen einem damals durch den Kopf? Wie hat man über den Westen gedacht? Gab es eine Spaltung in Lager, und wenn ja welche und wie tief ging sie?

Also ich glaube schon, dass es ne tiefe Spaltung gab. Und ich glaube es gab Leute die an die SED und den Sozialismus wirklich geglaubt haben, dann gabs Leute die davon einfach profitiert haben, dann gabs Leute die das komplett abgelehnt haben und in den Westen wollten und aus verschiedenen Gründen nicht durften oder konnten, und dann gabs die die so extrem dagegen waren dass sie dafür in den Knast gegangen sind. Was auch später nach Entlassung mit einer totalen Ächtung einherging und dazu führte dass die keinen Job fanden oder nur einen beschissenen, und dass deren Kinder auch in der Schule totale Probleme hatten, und dann gabs Leute die in der DDR geboren wurden, und das ist glaube ich die schwierigste Gruppe. Ich bin glaube ich kein durchschnittlicher Repräsentant, wir hatten 30 oder mehr Verwandte im Westen. Wir wurden mit allem versorgt was wir brauchten und auch nicht brauchten, wir hatten eine richtige Lieferkette. Für uns war das nicht so schlimm. Und wenn die uns besucht haben, wir hatten permanenten Besuch aus dem Westen, brachten die nicht nur viel Zeug mit, sondern erzählten einerseits viel von ihren Auslandsreisen und schönen Häusern und Gärten, aber da kamen schon Worte wie Arbeitslosigkeit und sowas vor, und das kannten wir nicht. Es konnte z.B. in der DDR sehr schwer sein, eine Wohnung zu finden aber wenn du eine hattest, dann hat die vielleicht zehn Prozent von deinem Monatslohn gekostet. Du hattest also keine finanziellen Sorgen, weil deine Existenzgrundsicherung geregelt war. Das war so subventioniert vom Staat dass du da sehr wenig für ausgeben musstest, und diese Vorteile waren uns sehr bewusst. Wir haben gehört wieviele Tausend die in Miete und Strom und Autos stecken mussten. Und das war halt für Leute die dort geboren wurden, und dies von Anfang an nicht so in Frage gestellt haben wie sie es nicht anders kannten, so der Punkt wo die eben nicht nur Vor- oder Nachteile gesehen haben, sondern manches eben akzeptiert haben wie es für sie schon immer war, während es für Andere aber davor viel besser oder schlechter war, und für nochmal Andere danach. Ich glaub tatsächlich dass ich die schwierigste Gruppe bin. Es gab viel was ich vermisse. Ich fand nicht wir sollten uns einfach der BRD anschließen. Ich war auf den Montagsdemos und ich wollte das wir die Grenzen öffnen und eine richtige Regierung kriegen die demokratisch gewählt wurde, aber ich wollte nicht dass wir uns einfach dem Westen anschließen. Für die waren wir nur ein freier Absatzmarkt der infiltriert wurde. Aber kurz mal zurück zur DDR – das Gemeinwohl stand über deinem Einzelinteresse, was im Falle der persönlichen Meinungsdivergenz natürlich scheiße war, und das Volk wurde bei vielem auch mundtot gemacht, aber eine Pandemie zum beispiel hätte bei uns keine Chance gehabt. Wir waren einfach viel besser organisiert, dass muss man so sagen. Es hätte einen Lockdown gegeben, die Leute hätten sich impfen lassen, und nach zwei Wochen wäre das Ding durch gewesen. Trotzdem war das eine menschenverachtende totalitäre Kultur. Da habe ich gelernt, rede mit den einen, mach mit den Anderen nur Blödsinn. Entscheide immer sehr schnell wem du vertraust und wem nicht, und hör auf dein Bauchgefühl. Wenn du hörst irgendeine Krise rollt, kauf genug ein. Das mache ich bis heute so.

Ich glaube der größte Unterschied zum Westen ist: Glaub bloß nicht du wärst wichtig. Das war das Motto meines Lebens da.