Im Mai 1970 protestieren tausende US-Bürger gegen die militärische Invasion Kambodschas. Dabei kommt es an der Kent State University im Bundesstaat Ohio zu den ersten Todesopfern seit Beginn der Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg. Noch im selben Jahr schreibt der Musiker Neil Young über das „Kent State Shooting“ eine Protesthymne. Während der fünf Jahrzehnte, die seit seinem Erscheinen vergangen sind, hat sich Youngs Song „Ohio“ in das kollektive Gedächtnis der westlichen Protestkultur eingebrannt.
“Probably the biggest lesson ever learned at an American place of learning”
Zwei Wochen nach den tragischen Ereignissen auf dem Campus der Kent State University veröffentlichte auch das Magazin Life, zu jener Zeit eine der meistgelesenen Zeitschriften auf dem nordamerikanischen Kontinent, eine emotional ergreifende, elfseitige Bildreportage. Teilweise über Doppelseiten erstrecken sich Aufnahmen von in Phalanx marschierenden Nationalgardisten und emotional aufgelösten Demonstrierenden. Auch die Musiker David Crosby und Neil Young bekamen im tausende Kilometer entfernten Kalifornien jene Ausgabe des Life-Magazins in ihre Hände.
Crosby und Young waren zwar bereits kurz nach den Geschehnissen in Ohio über die näheren Umstände informiert gewesen und hatten sich hierzu kritisch geäußert. Aber erst die Bilder des Life-Artikels riefen bei beiden Musikern eine tiefe emotionale Erschütterung hervor. Am schärfsten prägte sich ihnen wohl jene Fotografie auf Seite 35 ein: Neben der Leiche des erschossenen Studenten Jeffrey Glenn Miller kniet ein 14-jähriges Mädchen. Das Gesicht von Trauer und Schrecken gezeichnet, blickt sie hinauf zu einer neben ihr stehenden Person und hält ihr die linke Hand entgegen. Ihren rechten Arm in verzweifelter Pose zum Gesicht gebeugt, kommt dieses Mädchen ihrer ganzen Haltung einer Pietà gleich. Alles in dieser Fotografie ist nur auf eine einzige Frage gerichtet: „Warum?“
Gerade diese Fotografie inspirierte Neil Young zur Komposition eines Songs über die Geschehnisse vom 4. Mai 1970. Denn für Young bedeutete das Kent State Shooting „probably the biggest lesson ever learned at an American place of learning“, wie er sieben Jahre später schrieb. Am 21. Mai 1970 fand er sich mit seinen drei weiteren Bandkollegen zur Aufnahme im Studio zusammen.
Amerikanischer Country gegen den amerikanischen Staat? Die Erfolgsgeschichte von Crosby, Stills, Nash and Young
David Crosby war Mitbegründer von Crosby, Stills and Nash, kurz CSN. Alle drei Bandmitglieder waren bereits zum Zeitpunkt der Gründung von CSN 1968 in ihrer bisherigen musikalischen Laufbahn zu Popularität gekommen – David Crosby mit The Byrds, Stephen Stills mit Buffalo Springfield und Graham Nash bei The Hollies. Als Trio engagierten sie sich gegen die Fortführung des Vietnamkrieges und wurden mit ihren ersten Songs wie Wooden Ships zum Sprachrohr der westlichen Jugend.
Im Juli 1969 trat schließlich auch Neil Young, zuvor mit Stephen Stills aktiv bei Buffalo Springfield, der Gruppe bei, die sich fortan Crosby, Stills, Nash & Young (CSNY) nannte. Ihren zweiten Live-Aufritt absolvierten die vier Musiker zum Ende des Woodstock-Festivals. Am Montagmorgen des 20. August, um halb vier Uhr, kündigte Stephen Stills die neue Formation an: “This is the second time we’ve ever played in front of people, man. We’re scared shitless.“ Ihre Session auf dem Woodstock festigte nicht nur die internationale Bekanntheit von CSNY. Sie war zugleich Zeichen dafür, dass sich die Gruppe mit ihrem modernisierten Country weiterhin politisch zu positionieren gedachte.
Ohio – der erste wahre Protestsong gegen den Vietnamkrieg?
In seinem Song Ohio fasst Neil Young den Mut, den Feind der westlichen Protestbewegung beim Namen zu nennen. Gleich in der ersten Strophe werden in anklagenden Versen die Ereignisse vom 4. Mai besungen – und Nixon zum Hauptverantwortlichen erklärt:
Tin soldiers and Nixon’s coming
We’re finally on our own
This summer I hear the drumming
Four dead in Ohio
Bereits in diesen ersten Zeilen wird deutlich, dass sich Crosby, Stills, Nash and Young nicht als beobachtende Chronisten, sondern vielmehr als unmittelbar Involvierte verstanden. Graham Nash erklärte Jahrzehnte später in einem Interview, dass sie sich mit Ohio zur oppositionellen Kraft im eigenen Land bekennen wollten – um so der Jugend eine Stimme zu verleihen:
“What we wanted to do was bringing it [den Song Ohio, Anm. d. Verf.] instantly now. We were angry now. The kids were angry now. We wanted to scream and speak about this now.“
Im Refrain sind nicht die Nationalgardisten, sondern die Protestierenden Bewahrer und Schützer von Moral. Die mahnenden Worte der folgenden Verse richten sich direkt an jene Soldaten, die ihresgleichen – amerikanischen Bürgerinnen und Bürgern – gegenüberstehen:
Gotta get down to it
Soldiers are cutting us down
Should have been done long ago
What if you knew her
And found her dead on the ground?
How can you run when you know?
Es sind nicht mehr als diese eine Strophe und Refrain, zu der die vier Musiker in ihrer Aufnahme von Ohio einstimmen. Crosby, Stills, Nash and Young waren jedoch einige der wenigen Musiker ihrer Zeit, die eine offene und direkte Kritik an der US-amerikanischen Außenpolitik wagten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte nicht einmal Bob Dylan in seinen populären Protestliedern einen amerikanischen Politiker beim Namen genannt.
Mehr als ein amerikanischer Protestsong
Noch im Juni 1970 erschien Ohio als Single bei Atlantic – sofort wurde sie von allen amerikanischen Untergrundradios, Piraten- und Campussendern gespielt. Allerdings nicht von der Mehrheit großer Radiostationen: Zu „linksradikal“, zu „subversiv“ wäre der Liedtext. Ohio barg für die erregte Jugend jedoch eine derartige Kraft, dass Youngs Protestsong trotz aller Hindernisse Erfolge auf dem gesamten Erdball erzielte. In den USA wurde Platz 14 der Billboard Charts erreicht, in den Niederlanden der dreizehnte Platz. Die Veröffentlichung von Ohio auf dem Album 4 Way Street bedeutete schließlich den Siegeszug von Youngs Protesthymne: Platz 1 in den USA, 5 im Vereinigten Königreich, 4 in Frankreich, Platz 3 in den Niederlanden und Spanien.
Doch die Erfolgsgeschichte von Ohio endet nicht mit einer Generation. In den folgenden Jahrzehnten entstehen zahlreiche neue Arrangements und Reinterpretationen lokal und international bekannter Musikerinnen und Musiker. So etwa jene Adaption der afroamerikanischen Musiker Jon Batiste, Leon Bridges und Gray Clark Jr. aus dem Jahr 2017. Für sie, die den Vietnamkrieg lediglich als Erinnerung ihrer Eltern und Großeltern kennengelernt haben, ist Neil Youngs Protestsong nicht zeitgebunden. Er paraphrasiert genauso die sozialen Missstände des heutigen Amerikas wie das der 1970er Jahre. Klagt im gleichen Maße den Tod demonstrierender Afroamerikaner an. Ohio ist damit nicht ein Erinnerungsort der amerikanischen oder europäischen, sondern der globalen Protestkultur geworden. Einer Protestkultur, die nach der Bewahrung von Egalität und Humanität strebt.