Ein Gastbeitrag von Galina Michaleva

Galina Michaleva ist Professorin für Politikwissenschaft an der Geisteswissenschaftlichen Universität Moskau (RGGU). Sie ist assoziierte Wissenschaftlerin der Forschungsstelle Osteuropa und Lehrbeauftragte am Institut für Europastudien der Universität Bremen. 

In der letzten Zeit ist mit das wichtigste Thema in den Medien, in den Diskussionen sowie in privaten Gesprächen, ganz abgesehen von den offiziellen Erklärungen und den Verhandlungen auf der internationalen Ebene, die Möglichkeit bzw. die Wahrscheinlichkeit des Kriegs mit der Ukraine. Die Positionen der Eliten und unterschiedlicher Gruppen in der Gesellschaft in Russland divergieren sehr stark voneinander.

Moskau, Juni 2014. Galina Michaleva führt die Kolonne der Partei JABLOKO auf dem „Marsch für den Frieden mit der Ukraine“. Auf dem handgeschriebenen Plakat steht auf Ukrainisch: „Lasst uns so sein, wie wir sind!“

Die Medien, vor allem die dem Staat nahestehenden Fernsehkanäle (1 Kanal, NTV, RT usw.), schüren den Hass gegenüber der Ukraine sowohl in den Nachrichten als auch in diversen Talkshows. Es wird behauptet, dass die Ukraine kein richtiger Staat sei, dass das ukrainische Territorium – ganz oder in Teilen – Russland gehören sollten, dass in der Ukraine Faschisten an der Macht seien, dass Politiker in der Ukraine keine selbstständigen Positionen hätten und vom Westen abhängig seien, dass Russen in der Ukraine bedroht seien. Letztendlich wird behauptet, dass der Krieg notwendig sei, weil hinter der Ukraine die USA und die NATO stünden, die Russland zerstückeln wollten.

Eine Reihe von prominenten Politikern behauptet dasselbe. Stellvertretend sind Vladimir Zhirinovsky oder Ramsan Kadyrow zu nennen sowie die letzte Initiative der Kommunisten, die fordern, die sogenannten Republiken Donezk und Lugansk (DNR bzw. LNR) als Staaten anzuerkennen, was der Minsker Vereinbarungen widerspricht. In der Staatsduma gibt es keine Gegenstimmen, alle Abgeordneten sind sich einigermaßen einig, dass die Ukraine ein feindlicher Staat sei.

Die Positionen des Präsidenten und des Außenministeriums sind doppeldeutig. Einerseits gibt es direkte ultimative Forderungen in Bezug auf die Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens in der NATO sowie auf die Stationierung von Waffen und Truppen an den Grenzen Russlands. Andererseits wird behauptet, das Russland auf keinen Fall in die Ukraine einmarschieren wolle und dass die russischen Armee-Einheiten das Recht hätten, auf eigenem Territorium Militärübungen durchzuführen. Dazu kommt noch die Behauptung, dass in der DNR und LNR keine russischen Soldaten kämpften und die Angriffsgefahr von der Ukraine ausgehe.

Die Militärführung hat keine eigene Position dazu. Es werden bloß Armee-Einheiten und Waffen an der Grenze konzentriert und immer neue Truppen aus anderen Regionen (die Region Ferner Osten inklusive) bewegt.

Kritische Stimmen kommen aus den Kreisen der schwachen Opposition (Partei Jabloko, Kongress der Intelligenzia), von einzelnen prominenten Personen und wenigen Medien, von denen die meisten inzwischen zu „ausländischen Agenten“ erklärt worden sind  (Echo Moskvy, Dozhd, Meduza usw.). Das betrifft auch bekannte Experten, die davor warnen, eine Offensive zu beginnen. Schon jetzt ist der Rubelkurs gefallen und alle Prognosen, was die westlichen Sanktionen mit sich bringen können, sehen für die Wirtschaft und für die Leute schlecht aus. Im Unterschied zu der Situation von 2014 bis 2020, als Demos gegen den Krieg mit der Ukraine möglich waren, sind jetzt praktisch alle öffentlichen Äußerungen, Einzelpersonen-Mahnwachen inklusive, verboten. Menschen, die es wagen, werden verfolgt und bestraft. Die Geldstrafen sind hoch, und beim zweiten Mal droht Gefängnisstrafe.

Deswegen kann man eine Reaktion von der Seite der Gesellschaft kaum erwarten. Nach den Umfragen, die das Levada- Zentrum vor kurzem durchführte, halten 75% einen Krieg für möglich, 50% denken, dass die Schuldigen die NATO–Länder und die USA sind. Die staatliche Propaganda wirkt. Dabei sind die Ukrainer nach der Zahl in Russland nach Russen und Tataren mit fast 2 Millionen die drittstärkste nationale Gruppe.

Galina Michaleva