Das „lange 19. Jahrhundert“ hatte mit seinen Nationalstaatsbildungen im südlichen Alpenraum eine neue politisch-kulturelle Konfliktdimension zwischen dem Königreich Italien und dem habsburgischen Österreich-Ungarn entstehen lassen. Mit dem 21. Jahrhundert ist diese Spannung jedoch keineswegs verschwunden – im Gegenteil: Anstelle gegenseitiger Anerkennung mit einem Plebiszit für ein geeintes Europa sind seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges unterschiedlichste Partikulargedächtnisse auf norditalienischem Boden entstanden. Eine Erkundung der im Trentino bis heute noch aufzufindenden Frontverläufe des Ersten Weltkrieges bietet einen Einblick in diese spannungsreichen Erinnerungskulturen.

Der mit der Gründung des ersten italienischen Nationalstaates entstandene Irredentismo stellte sich fortan zwischen Italien und seine benachbarten Nationen, erschwerte die internationale Diplomatie. Das Habsburgerreich entschloss sich gegenüber dem Königreich Italien zu einer militärischen Defensive mit der Ambition, die südlich der Alpenkette beibehaltenen Gebiete langfristig zu sichern. Damit bahnte sich inmitten des heutigen Norditaliens ein politischer Konflikt an, der in der kargen Gebirgslandschaft des Trentino und Südtirols mehr und mehr zum Vorschein trat. Ab den 1880er Jahren begann man beiderseits mit dem Ausbau militärischer Gebirgsfestungen. Italiener wie Österreicher gruben sich in die Gebirgskämme, legten mancherorts kilometerlange Stollensysteme an; errichteten mit weiß-gräulichem Stahlbeton in die Höhe ragende Befestigungsanlagen und Geschützstellungen – einer sah dem anderen bei dieser Arbeit zu. Über dreißig Jahre, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

Inzwischen habe ich den letzten Gebirgsort Lavarone hinter mir gelassen und befinde mich unmittelbar vor dem Passo del Sommo, auf einer Höhe von fast 1400 Metern. In früheren Zeiten stellte dieser Gebirgspass eine der wenigen Möglichkeiten für die hiesige Bevölkerung dar, die Gebirgsmassive der Dolomiten nach Süden Richtung Venetien zu überwinden. Während des Ersten Weltkrieges schließlich wurde der Passo del Sommo zum Niemandsland: An ihm entlang verlief einer der am meisten umkämpften Frontabschnitte zwischen Italien und Österreich-Ungarn. Vor dem Beginn des Gebirgspasses biege ich jedoch ab in eine Nebenstraße, auf der ich ein abgeschiedenes Tal durchquere. Das Val d’Astico unterscheidet sich von den Gebirgskämmen und Talschneisen, die ich bisher auf meiner Fahrt erblicken konnte: Noch steiler erhebt sich die Gebirgskette hier in den Himmel; noch tiefer fällt mein Blick in eine dicht bewaldete Schlucht, an deren Ende sich das Dunkelgrün der Tannen nur noch verfinstert.
Tief fällt in diesen Höhenmetern der Blick in das Val d’Astico, unter österreichischer Herrschaft noch „Asticotal“ genannt: Mit dem Kriegseintritt Italiens 1915 wurde es schließlich zum Synonym für den italienisch-österreichischen Stellungskrieg. Tiefste Minusgrade, Schneeverwehungen und Lawinen führten nicht nur zu Unterkühlung und Erfrierungen – die extremen Witterungen machten nicht selten den Transport von Proviant unmöglich. In diesem „weißen Krieg“ fielen letztendlich mehr Soldaten der Natur zum Opfer als dem hoffnungslosen Feuerwechsel des Grabenkrieges.
In diesem Tal, auf einer Höhe von 1177 Metern, befinden sich die Überreste einer der zahlreichen österreich-ungarischen Gebirgsfestungen – das „Werk Gschwent“. Entstanden zwischen den Jahren 1908 und 1914, stammt sie aus der letzten Bauphase, die dem Ersten Weltkrieg unmittelbar voranging. Zusammen mit örtlichen Arbeitskräften legte das österreichische Heer auch im Val d’Astico – zu habsburgischer Zeit ausschließlich Asticotal genannt – ein weitreichendes „Verteidigungssystem“ an. Neben der dreigeschossigen Kasematte des Werk Gschwent errichtete man vier über unterirdische Stollensysteme miteinander verbundene Außenposten, wodurch sich das gesamte Asticotal kontrollieren ließ.

Hinzugekommen ist nur die elektrische Beleuchtung: Die unterirdischen Stollengänge haben die Kriegsjahre unbeschadet überdauert – und lassen den heutigen Besucher die Absurdität des „Grande Guerra“ wahrnehmen.

Erst ein Jahr nach Beginn des Ersten Weltkrieges brach schließlich auch in der österreichisch-italienischen Grenzregion der militärische Konflikt aus. Im Mai 1915 hatte das Königreich Italien seine vorherige Neutralität gegenüber Österreich-Ungarn aufgegeben und schloss sich den Alliierten an – mit dem Ziel, die über Jahrzehnte erfolgslos beanspruchten terre irredente mit dem Sieg über Habsburg in den italienischen Nationalstaat einzugliedern. Unter diesen Voraussetzungen ging die italienische Armee zu einer Großoffensive gegen den ehemals Verbündeten über, die aber bei den altipiani, den Hochebenen des Trentino, nach nur kurzer Zeit zum Erliegen kam. Ein Stellungskrieg, der von den jeweiligen Gebirgsfestungen aus geführt wurde, bestimmte für die weiteren Wochen und Monate den Kriegsalltag.
Heute lässt sich das Ausmaß der Kriegshandlungen an diesem Ort nur noch erahnen: Die durch Geschützeinschläge beschädigte Kasematte des Werk Gschwent wurde in den 1960er Jahren einer umfassenden Restaurierung unterzogen.

Nicht jeder der im Werk Gschwent stationierten Tiroler Kaiserjäger glaubte zu diesem Zeitpunkt noch an die Uneinnehmbarkeit der Festungskomplexe, schwelgte weiter in radikal-patriotischen Tagträumereien wie zu Beginn des Krieges. Auch Robert Musil, der sich zum Ausbruch der Kampfhandlungen im Werk Gschwent befand, gehörte zu denjenigen, die den stagnierenden, nicht minder brutalen Grabenkrieg zunehmend kritisch wahrnahmen. In seinem Tagebuch hielt er Momente emotionaler Fassungslosigkeit und tiefster Resignation fest.

„Krieg. Auf einer Bergspitze. Tal friedlich wie auf einer Sommertour. Hinter der Sperrkette der Wachen geht man wie Tourist. Fernes Duell schwerer Artillerie (…); erinnert an Knaben, die auf große Entfernung einander mit Steinen bewerfen. Ohne Bestimmtheit des Erfolgs lassen sie sich immer zu noch einem Wurf verleiten. (…) Gefühl einer bösartigen Sinnlosigkeit.“
Robert Musil (1880-1942), österreichischer Schriftsteller