„Sea Eye: Retter oder Schleuser?“ Das fragt mich provokant der Titel eines Kurzvideos des Bayrischen Rundfunks auf YouTube, gepostet im Juli dieses Jahres. Rund eine Minute und dreißig Sekunden Schilderungen der Arbeit und Herausforderungen für das Team der NGO, Erzählungen von Lebensrettung und bitterer Not, unterlegt mit Videoaufnahmen von dicht aneinander gedrängten, frierenden und zutiefst erschöpften Menschen. Seit ihrer Gründung im Jahre 2015 versucht die zivile Seenotrettungsorganisation Sea Eye ähnlich wie Sea Watch, Mission Lifeline oder SOS Méditerranée, das Massensterben auf dem Mittelmeer durch aufwendige und nur durch Spenden finanzierbare Rettungsaktionen einzudämmen. Und trotzdem dieser Titel. Ich bin empört und wütend über die bloße Andeutung, Sea Eye könne irgend ein anderes Ziel als die Rettung flüchtender Menschen in Not verfolgen. Wider besseres Wissen werfe ich einen Blick in die Kommentarspalte: Recht unausgewogen ist das Verhältnis von Lobpreisung der Crew als „Retter“ und Verunglimpfung als „Schleuser“. Letztere überwiegt deutlich. Es erschreckt mich, dass es im Gegensatz zu meinem persönlichen Umfeld in anderen Kreisen nicht Konsens zu sein scheint, dass Menschen, die auf offenem Meer ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, um andere vor dem Ertrinken zu retten, eine wertvolle und notwendige Arbeit verrichten. Ich versuche zu verstehen, auf welcher Grundlage NGOs wie Sea Eye vorgeworfen wird, sich als Schleuserorganisationen zu betätigen, und warum diese Problematik so vielen Menschen wichtiger scheint als die Tatsache, dass ohne zivile Seenotrettung viele Menschen sterben würden.
Von Ursache und Wirkung
Kritiker*innen der zivilen Seenotrettung stützen sich immer wieder auf dasselbe Argument: Die Aussicht auf eine Rettung motiviere mehr und mehr Menschen zur Flucht über das Mittelmeer, was eine Eindämmung von Fluchtbewegungen unmöglich mache. Der schlechte Zustand der Fluchtboote zeige doch eindeutig, dass flüchtende Menschen sich darauf verließen, von NGOs aufgegriffen und nach Europa gebracht zu werden, da eine Mittelmeerüberquerung in den eigenen Booten gar nicht möglich sei. Je mehr Menschen erfolgreich das Mittelmeer überqueren könnten, desto mehr würden noch folgen.
Ignoriert wird dabei, dass die zivile Seenotrettung lediglich eine Antwort auf ein seit Jahrzehnten bestehendes Problem ist. Dieses Problem sind nicht etwa die Flüchtenden selbst, sondern Kriege, Armut und weitere lebensbedrohliche Umstände in ihren Herkunftsländern. Es liegt auf der Hand, dass Fluchtbewegungen solange existieren werden wie ihre Ursachen. Ob den Flüchtenden dabei mehr oder weniger unter die Arme gegriffen wird, ändert gar nichts am Fortbestehen dieser Fluchtbewegungen. Wie die Crew des Seenotrettungsschiffes Aquarius der Organisation SOS Méditerranée in einer Dokumentarreihe des YouTube-Kanals reporter klarstellt, schreckt die Aussicht auf den Tod im Mittelmeer viele Flüchtende nicht ab. Eine Garantie, auf ein ziviles Rettungsboot zu treffen, haben sie auch jetzt nicht, schließlich sind alleine in diesem Jahr bereits mindestens 1.530 Menschen gestorben. Und dennoch gefährden Flüchtende in seeuntauglichen Booten ihr Leben, ein Risiko, wie es nur die absolute Verzweiflung rechtfertigen kann. Die NGOs sind sich einig: Die Mittelmeerüberquerungen der Flüchtenden finden so oder so statt. Es stellt sich nur die Frage, ob man Menschen beim Sterben zusieht, weil staatliche Rettungsorganisationen den Situationen nicht gewachsen sind, oder ob man selber tätig wird. Auch die Forschung, die bislang zu dem Thema betrieben worden ist, kommt übrigens weitgehend einheitlich zu dem Schluss, dass kein beweisbarer Zusammenhang zwischen der Anzahl Flüchtender und der Größe der Seenotrettungspräsenz im Mittelmeer besteht.
Die Unterstellung des Schleusens
Doch wie kommen in der Debatte um Anreize und Ursachen der Flucht die Schleuser-Vorwürfe gegen NGOs ins Spiel? Nun, Sea Eye und anderen Organisationen wird beispielsweise unterstellt, möglichst nah an der libyschen Küste Menschen einzusammeln und dann nach Europa zu bringen, um eine staatliche Rettung durch die libysche Küstenwache zu verhindern. Diese würde nämlich in den meisten Fällen für die Geflüchteten eine Rückfahrt nach Libyen zur Folge haben, da libysche Häfen weniger weit entfernt sind. Bringen NGOs flüchtende Menschen also etwa illegalerweise in weit entfernte europäische Häfen und schleusen diese dort unter dem Vorwand der Lebensrettung ein?
Nein, illegal ist das Ansteuern europäischer Häfen nicht, denn das internationale Seerecht schreibt vor, dass Gerettete in einen sicheren Hafen gebracht werden müssen, in dem sie keiner weiteren Verfolgung oder Gewalt mehr ausgesetzt sind. Libysche Häfen werden von der UNO-Flüchtlingshilfe eindeutig nicht als sicher eingestuft. Es gibt zahlreiche Berichte, nach denen nach Libyen zurückkehrende Geflüchtete von Milizen aufgegriffen, erpresst und ermordet werden. Ganz zu schweigen von den grausamen, menschenunwürdigen Lebensbedingungen in den Auffanglagern. Die geretteten Menschen nicht dorthin zurückzubringen, ist somit nicht nur eine ethisch sondern auch rechtlich begründbare Entscheidung und vollkommen legal. Über die wahren Verbrechen, nämlich die der EU-Grenzschutzagentur Frontex und ihres Kollaborationspartners, der libyschen Küstenwache, wird regelmäßig berichtet. Die für EU-Staaten illegale Rückführung in einen „unsicheren“ Hafen wie Libyen hat Frontex auf die libysche Küstenwache abgewälzt, für die die ,,Sicherer-Hafen-Auflage“ nicht gilt. Aber um diese gewaltsamen Pushbacks, das Ignorieren von Hilferufen und die aktive Verhinderung ziviler Seenotrettung durch staatliche Akteure soll es an dieser Stelle nicht gehen.
Na gut, das Ansteuern europäischer Häfen anstelle der libyschen ist also nicht illegal, ist sogar viel legaler als das Vorgehen der EU, aber hat nicht mal irgendwo irgendwer gesagt, die NGOs würden in direktem Kontakt zu libyschen Schleppern stehen und von diesen die Flüchtenden direkt übernehmen, es dabei aber als Seenotrettung tarnen? Dieses hartnäckige Gerücht liegt vielen Schleuser-Vorwürfen zu Grunde, ist aber tatsächlich völlig haltlos. Nicht nur die NGOs, sondern auch sämtliche europäische Institutionen betonen, dass es für Kontakte zwischen Schleppern und NGOs keinerlei Beweise gibt. Die Positionen aller Seenotrettungsschiffe werden von zentralen Seenotrettungsleitstellen kontrolliert und koordiniert. Es würde also unweigerlich auffallen, wenn NGOs eine nicht angeordnete Rettung vollziehen würden. Die Position eines jeden Rettungsschiffes ist zusätzlich auch öffentlich von Schleppern einsehbar, ohne dass sie dazu im Kontakt mit den NGOs treten müssten. Der Vorwurf erweist sich meiner Meinung nach nicht nur als falsch, sondern auch als Versuch, zivile Seenotrettung zu diskreditieren. Es überrascht kaum, dass Frontex auf irgendeine Weise in die Verbreitung dieser Behauptung verwickelt zu sein scheint: Zwar betont die Grenzschutzagentur, das sei nicht der Fall, etliche Medienberichte sprechen aber dagegen.
Ein strukturelles Problem
Ich bin frustriert, weil ich nach Beantwortung meiner ersten Frage nach der Legitimität der Schleuser-Vorwürfe merke, dass die Antwort auf meine zweite Frage eine noch viel banalere ist. Warum wohl sehen viele Menschen in den zivilen Seenotrettungsorganisationen lieber Schleuserbanden als Menschen, die tagtäglich Tode verhindern? Es ist, fällt mir einmal mehr auf, die Fremdenfeindlichkeit unter dem Deckmantel der Rechtsstaatlichkeit. Warum sich der Verantwortung der Aufnahme geretteter Menschen annehmen, wenn man stattdessen die Rettungsorganisation beschuldigen kann, die Geretteten illegal in das falsche Land gebracht zu haben? In der Bereitschaft Europas, die einzigen Organisationen zu diskreditieren und zu kriminalisieren, welche die Menschen nicht nach der Rettung vorm Ertrinken ins Elend im libyschen Auffanglager schicken, offenbaren sich rassistische und menschenverachtende Abgründe unserer Nationen. Es scheint uns lieber zu sein, dass außerhalb unserer Grenzen Geflüchtete leiden und sterben, als dass sie uns innerhalb unserer Grenzen vor die Herausforderung der Inklusion stellen. Die Ohnmacht, die ich spüre angesichts dieser Umkehrung der Verhältnisse, bei der plötzlich die menschlich Handelnden als Verbrecher*innen dastehen, lässt mich zynisch werden. Immerhin: In einem Dresdener Gerichtsentscheid aus dem Jahre 2018 wurde die Behauptung der Pegida, die Rettungsorganisation Mission Lifeline kooperiere mit Schleppern, unter Strafe gestellt. Dass sich die Anschuldigungen gegen NGOs trotzdem halten und selbst öffentlich-rechtliche Medien wie der Bayrische Rundfunk sie mit reißerischen Titeln mehr oder minder reproduzieren, ist ärgerlich, ja vielleicht auch beschämend, aber nicht verwunderlich.
In den Kommentaren unter dem Youtube-Video antworte ich übrigens niemandem, es hat ja sowieso keinen Zweck.
Zur weiteren Vertiefung:
Die folgenden beiden wissenschaftlichen Arbeiten befassen sich mit dem Zusammenhang zwischen ziviler Seenotrettung und der Anzahl flüchtender Menschen:
https://cadmus.eui.eu/bitstream/handle/1814/65024/PB_2019_22_MPC.pdf?sequence=5
https://blamingtherescuers.org
Für einen tieferen Einblick in die Arbeit einer Seenotrettungs-NGO kann ich die Dokumentarreihe des YouTube-Kanals reporter empfehlen:
Das Video des BR (samt frustrierender Kommentare) gibt es hier: