Das „lange 19. Jahrhundert“ hatte mit seinen Nationalstaatsbildungen im südlichen Alpenraum eine neue politisch-kulturelle Konfliktdimension zwischen dem Königreich Italien und dem habsburgischen Österreich-Ungarn entstehen lassen. Mit dem 21. Jahrhundert ist diese Spannung jedoch keineswegs verschwunden – im Gegenteil: Anstelle gegenseitiger Anerkennung mit einem Plebiszit für ein geeintes Europa sind seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges unterschiedlichste Partikulargedächtnisse auf norditalienischem Boden entstanden. Eine Erkundung der im Trentino bis heute noch auffindbaren Frontverläufe des Ersten Weltkrieges bietet einen Einblick in diese spannungsreichen Erinnerungskulturen.
Zu meiner Suche nach den bis in die Gegenwart sichtbar gebliebenen Überresten österreichisch-italienischer Geschichte breche ich in Trento, der Provinzhauptstadt des Trentino, in südöstliche Richtung auf. Dabei gelange ich auf eine schmale Gebirgsstraße, deren Serpentinen mich in zunehmende Höhenlagen führen. Nach nur wenigen Kilometern befinde ich mich außerhalb des städtischen Zentrums und blicke hinab von den Ausläufern der Dolomiten, an die sich im Tal die norditalienische Kleinstadt schmiegt. Nach mehreren Tagen nicht enden wollenden Regens durchbricht nun wieder die Sonne die noch tiefhängende Wolkendecke: Über die Dolomiten mit ihren nahezu zweitausend Meter in die Höhe ragenden Gipfeln erhebt sich blau schimmernder Dunst. Und auch die Rebstöcke der zahlreichen Weinberge, durch welche sich der Straßenasphalt seinen Weg bahnt, sind von einem Schleier aus blau-gräulichem Dunst umhüllt.
Nicht mehr als eine Silhouette bleibt vom norditalienischen Provinzstädtchen Trento: Bereits der Weg zu den ländlichen Hochebenen vermittelt einen Kontrast zum urbanen Alltag, der im Trentino seit den 1970er Jahren Einzug gehalten hat.
Hier – im Trentiner Hochland – nur einige Kilometer entfernt von der urbanen norditalienischen Zivilisation, glaube ich einen ursprünglichen italienischen Kulturraum wahrzunehmen. Die Hochebenen, im Italienischen altipiani genannt, sind mit ihren Weinreben, den Obstgärten, ihren rustikalen Bergstädtchen und teilweise mehrere Jahrhunderte alten Almwirtschaften Ausdruck einer italianità, die einen scharfen Kontrast zur „Hochkultur“ Nord- und Mittelitaliens und dolce vita des sonnenreichen Südens erzeugt. So auch der Altopiano della Vigolana, der zu seinem westlichen Ende nur wenige Kilometer von den städtischen Grenzen Trentos entfernt liegt: Monokulturelle Weinstöcke und Obstplantagen einerseits, die sich nicht wesentlich von der Tiefebene unterscheiden, andererseits weitläufige Weiden- und Wiesenlandschaften.
Hier trifft rationalisierte Monokultur auf regionalen Traditionalismus: Der Altopiano della Vigolona hat sich in gewissem Maße den Modernisierungsschüben entzogen – wie viele Bergdörfer und Kommunen in der Peripherie des Trentino
Hinter dem Städtchen Vattaro, kurz vor dem Ende des altopiano, ändert sich die Landschaft drastisch. Und zwar zu einer solchen, die ich gewöhnlicherweise nicht mit Norditalien, allenfalls Südtirol in Verbindung brächte: Die Straßenverbindung führt mich nunmehr als Passstraße durch dicht bewaldetes Mittelgebirge und karge Felslandschaften. Außer einigen Transportwagen der lokalen Forstwirtschaft treffe ich nur noch selten auf Gegenverkehr, unmittelbar an den Gebirgskämmen der Dolomiten verzeichnet man eine der geringsten Bevölkerungsdichten des Landes.
Inmitten dieser dem Menschen mehr oder minder feindlich gesinnten Landschaft lässt sich erahnen, welche Bedeutung dem Trentino über ein halbes Jahrhundert als Grenzregion zwischen dem habsburgischen Österreich und dem Königreich Italien zukam. Wie für die Mehrheit an Gebieten mit einer sprachlich-kulturellen und ethnischen Fluidität führte schließlich auch im Trentino die Propagierung eines homogenen Nationalismus im „langen 19. Jahrhundert“ zu einer tiefgreifenden, gesamtgesellschaftlichen Konfliktsituation.
Il Risorgimento - Das Ende multinationaler Vielstaaterei auf dem italienischen Stiefel
Bis in das 19. Jahrhundert hinein glich die politische Situation auf der italienischen Halbinsel weitestgehend derjenigen des Deutschen Kaiserreiches, nach 1815 des Deutschen Bundes: Ein über Jahrhunderte gewachsener Partikularismus führte zu einer Zersplitterung des Landes in Republiken, Fürstentümer und Königreiche unterschiedlichster Ausdehnungen und Machtkompetenzen. Ihre divergierenden Einzelinteressen hatten seit dem Rinascimento, der italienischen Renaissance, die Ansätze einer territorialen und politischen Einigung verhindert. Stets wurden diese Einigungsbestrebungen jedoch von gesellschaftlichen Minderheiten getragen; Wortführer waren politische Berater und Denker wie etwa Francesco Petrarca und Niccolò Machiavelli, die nur selten eine Verbindung mit der mehrheitsgesellschaftlichen Unterschicht – dem popolo minuto – aufzubauen bestrebt waren. Erst die revolutionären Zäsuren des 18. und 19. Jahrhunderts, welche erfolgreich die Vorstellung eines souveränen, vom Volkswillen getragenen Nationalstaates verbreiteten, etablierten auch auf der Halbinsel die Idee eines Italiens als schichtenübergreifende Massenbewegung. Zentrum dieses italienischen Nationalismus war ab den 1840er Jahren der Norden des Landes geworden: Vittorio Emanuele II., König von Sardinien-Piemont, erblickte in den nationalistischen Forderungen die Hoffnung auf einen politischen Machtzuwachs und vereinnahmte sie zu seinen Gunsten. Öffentlich bekannte er sich zu einem unter der savoyischen Dynastie, das heißt dem Königreich Sardinien-Piemont, geeinten Italien. Entscheidend für die Verbreitung dieser Forderung eines Regno d’Italia, einem Königreich Italien, wurde Camillo Benso di Cavour, Minister unter Vittorio Emanuele II. Als Mitbegründer der Zeitschrift „Il Risorgimento“, zu Deutsch „Die Wiederauferstehung“, konkretisierte er in seinen Schriften die Vorstellung eines italienischen Nationalstaates als konstitutionelle Monarchie; zugleich forderte er ein Ende der Fremdherrschaft in den italienischsprachigen Gebieten und griff damit einen von den Unterschichten bis zum Bürgertum beklagten Missstand auf. So waren italienisches Festland und Inseln seit dem Mittelalter zu einem Spielball der internationalen Politik geworden, der Wiener Kongress von 1815 hatte diesen Umstand nicht verändert: Im Norden herrschte in Lombardo-Venetien das habsburgische Österreich, in Mittelitalien der von Spanien und Frankreich getragene Kirchenstaat, im Süden regierte die französische Dynastie der Bourbonen das Königreich beider Sizilien. Dem Königreich Sardinien-Piemont mit seinen nationalistischen Bestrebungen stand somit eine machtvolle internationale Opposition gegenüber. Die wesentlich vom Königreich Sardinien-Piemont getragene Revolution von 1848/49 konnte dementsprechend militärisch unterdrückt werden. Das Risorgimento, wie die nationalistische Bewegung in Anlehnung an Cavour nunmehr genannt wurde, hatte jedoch eine derartige gesellschaftliche Tragweite entwickelt, dass er auf lange Sicht nicht mehr aus der politisch-gesellschaftlichen Realität zu verbannen war.
Ein Jahrzehnt nach der fehlgeschlagenen Revolution von 1848/49 strebte das sardisch-piemontesische Königreich erneut die nationale Einigung Italiens an. Im Norden wie im Süden des Landes führten piemontesische und alliierte französische Truppen sowie bürgerliche Milizen eine militärisch erzwungene Ablösung der fremdherrschaftlichen Regime herbei. Der „Sardische Krieg“ von 1859, der gegen das österreichische Heer in Lombardo-Venetien geführt wurde, stellte für die italienischen Nationalisten einen ersten entscheidenden Zugewinn dar: Die seit dem Wiener Kongress zum österreichischen Kaiserreich gehörende Lombardei musste an das Königreich Sardinien-Piemont abgetreten werden. 1866 ging schließlich auch der habsburgische Vorposten an der Adria – die Region Venetien – an das Sardinien-Piemont über, das sich seit 1861 nunmehr als Regno d’Italia, als das „Königreich Italiens“, bezeichnete.
Die italienischen Einigungskriege hatten gemäß der italienischen Nationalisten nicht zu einer vollständigen Verdrängung der österreichischen Monarchie auf italienischem Boden geführt. Nicht nur unter strategischem Vorbehalt beharrte Habsburg auf seinem Anspruch auf das Trentino und Südtirol: Der politische wie auch kulturelle Einfluss süddeutscher und österreichischer Fürsten bis zu Kaufleuten und Landwirten lässt sich bis in das frühe Mittelalter zurückverfolgen. Ein engmaschiges soziales Gefüge aus deutsch-österreichischen und italienischen Komponenten bildete so eine traditionsreiche, historische Kontinuität. Vertreter des Risorgimento negierten jedoch diese kulturelle Fluidität, postulierten einen genuin italienischen Anspruch auf das Trentino wie auch Südtirol. Auch nach dem Abschluss der eigentlichen nationalen Einigung Italiens in den 1870er Jahren hielt diese Wehmut nach einer unvollständigen Nationswerdung an: Le terre irredente, „die unerlösten Gebiete“, wurde zu einem Synonym für all jene Grenzregionen, auf die italienische Gruppierungen weiterhin Anspruch erhoben.
Bis zu den Versailler Friedensverträgen blieb eine Eingliederung der „unerlösten Gebiete“ – die meisten von ihnen zu finden an der adriatischen Küste und im Alpenraum – politisch undenkbar. Erst mit dem Sieg der Alliierten konnte das Regno d’Italia Ansprüche auf einzelne Gebiete, wie das Trentino-Alto-Adige, gültig machen. Andere wiederum, etwa die griechische Insel Korfu, wurden erst unter Mussolini zum zentralen Angriffspunkt der italienischen Außenpolitik.