Mit einem geliehenen Wohnmobil bin ich von der kanadischen Grenze aus zu einer Reise in die Vereinigten Staaten aufgebrochen. Einen Monat werde ich die neuenglischen Staaten sowie Teile American South und Midwest durchqueren. Meine Reise führt mich zu den Great Smoky Mountains zwischen Tennessee und North Carolina, Native Americans in den Blue Ridge Mountains und jüdischen Gemeinden in Baltimore und New York. Doch in den ersten Tagen meiner Reise bin ich auf der Suche nach einem ganzen anderen Amerika. Demjenigen Teil der USA, wo bis heute Straßennamen deutschen Ursprungs sind und Bier nach deutschem Reinheitsgebot gebraut wird. Eine Reise auf den Spuren deutscher Auswanderer in Nordamerika.

Vierter Teil: New Bremen

Cincinnatis Downtown verlasse ich über Over-the-Rhine – dem deutschen Einwanderviertel der Stadt, das in den vergangenen zwanzig Jahren von der „most dangerous neighborhood“ zum kultigen Wohn- und Szeneviertel aufgestiegen ist. Noch einmal passiere ich die Suburbs bevor ich auf der Route 127 den eigentlichen Weg nach New Bremen antrete.

Wenige Stunden Fahrt sind es bis in die 3.000 Einwohner zählende Kleinstadt westlich von Columbus. Die Asphaltstraße bahnt sich ihren Weg durch dünn besiedeltes Weideland, immer parallel zur Staatengrenze von Indiana. Dorthin sind in den 1830er und 40er Jahren die letzten Überlebenden der indigenen Stämme Ohios vertrieben worden. Dichte Wälder, an deren Lichtungen Wildblumen und Beerenpflanzen gediehen, die den europäischen „Entdeckern“ und „Pionieren“ gänzlich unbekannt waren. Frauen und Kinder der Miami und Shawnee sammelten diese im Sommer und stellten Nahrung, auch Medizin daraus her. Zwischen dem dichten Laub eine Fauna, die für die Native Americans Jagdgrund und zugleich Zentrum ihres religiösen Weltbildes war. All dies ist den Wiesen und Weideflächen für die Milchkühe der europäischen Siedler gewichen, die ich rechts und links der Route 127 erblicke.

Inmitten dieser vom europäisch-amerikanischen Kolonialismus gezeichneten Landschaft liegt das kleine New Bremen. Eine Abzweigung nach rechts auf die 274, und ich fahre in die Ortschaft ein. Wie in Cincinnati ist auch in New Bremen das erste, auf dass ich an deutschen Relikten stoße – ein Straßenschild. „Herman St.“. Viktorianische Bauten roten Ziegelsteins,  reich versehen mit dekorativen Elementen, lassen eine einstmalige Blütezeit erahnen. Im gesamten Ort trifft man auf Straßennamen, die deutschen Ursprungs sind: Kuening St. und Schwieterman St., Klee Ave. und Boesel St.

Aber nicht nur die Herkunft der Straßennamen verbindet die Großstadt am Ohio River mit der Kleinstadt am Miami und Erie-Kanal. Im hundert Meilen entfernten Cincinnati wurde New Bremen vor fast zwei Jahrhunderten von deutschen Auswanderern gegründet. 1832 schlossen sich Bremer Auswanderer zur „Bremen Company“ zusammen. Erklärtes Ziel der 33 Mitglieder zählenden Gemeinschaft: Die Gründung einer eigenen Stadt. Durch die Zusammenlegung des Kapitals der Gesellschaftsmitglieder – Familienväter, die ihren noch kleinen Kindern eine eigenständige Existenz ermöglichen wollten – war die Bremen Company erst zum Landerwerb in der Lage. Die heutige Lage New Bremens wäre ohne die gewaltsame Landnahme der europäischen Siedler nicht denkbar. Im selben Jahr der Gründung der Bremen Company, 1832, waren die «wilden männer» aus dem Wapakoneta Reservat abgeschoben worden. Das Gebiet war nun „frei“, die Landpreise mehr als billig. An seine Eltern schrieb ein Bremer Auswanderer über diese für Europäer günstigen Siedlungsverhältnisse im nördlichen Midwest: „Daß Land welches noch unbebauet und wie wild alhier umher liegt ist größtenteils Eigenthum der Regierung, aber auch manches daß der mehreren Spekulanten, und tausende Acker werden täglich verkauft zu den Höegst billigen Preise von 1 ½ – bis 2 Dollars …“

Die Mitglieder der Bremen Company nutzten diese Gelegenheit für sich und erwarben 1832 eine Fläche von 80 solcher „Acker“, ein wenig mehr als dreißig Hektar. Per Losverfahren wurden 102 Grundstücke an die Gesellschaftsmitglieder und weitere deutsche Siedler vergeben, das übrige Land im Laufe der Zeit an hinzugekommene Kolonisatoren verkauft. Im Juni des darauffolgenden Jahres wurde die Siedlung als „Bremen“, später als „New Bremen“ eingetragen. Anders als Cincinnati kam es hier nicht zu einem rasanten Wachstum von Wirtschaft und Bevölkerung. Das unerschlossene Land stellte die deutschen Siedler – die anders als die indigene Bevölkerung weder mit der dortigen Natur vertraut waren – vor eine Herausforderung. „[F]reilich ist es in Anfang sehr viel Mühe dies Land für Saat in Ordnung zu bringen und kostes es manch harte Stunde arbeit ehe man sagen kann, einen Acker Land von Holz befreit zu haben…“ Hinzu kam die Abgeschiedenheit der Siedlung. Denn bis zum nächsten „supply store“ waren es von New Bremen aus ganze 23 Meilen. In Zeiten von Pferd und Wagen sowie schlecht ausgebauter Wegnetze eine Reise von mindestens zwei Tagen. So kamen bis in die 1840er Jahre nur wenige Siedler hinzu, meist aus Bayern und dem Norden Deutschlands.

Der Miami und Erie Kanal war einst Sinnbild für den Reichtum des nördlichen Ohios. Auch wenn diese Zeiten längst vergangen sind, ist die Erinnerung weiterhin lebendig.

Die Fertigstellung des Miami und Erie-Kanals 1845 änderte die Situation jedoch rasch. Über Wasser war das kleine New Bremen nun leicht von Cincinnati aus erreichbar geworden. Binnen weniger Jahre stieg die Ortschaft zu einem zentralen Umschlagplatz von Getreide und Vieh auf. Der Ausbau des Eisenbahnnetzes erreichte den Ort in den 1870er Jahren, womit New Bremen zu einem der wichtigsten Zentren für den Schweinetransport Ohios wurde. Die Bevölkerung wuchs daraufhin auf mehrere hundert Einwohner an.

Zu dieser Zeit kam auch Anna Adelheid Evers nach New Bremen. Geboren 1850 im 20 Kilometer von Bremen entfernten Leerßen, wanderte sie mit 22 Jahren in die Vereinigten Staaten aus. Ihren Ehemann, Hermann Meyer aus dem nahe Leerßen gelegenen Gödestorf, lernte sie hier kennen. Zusammen gründeten sie im New Bremen der 1880er Jahre eine Familie, partizipierten am in der Entstehung begriffenen Wirtschaftsleben. Zusammen mit anderen deutschen Siedlern gründete Hermann nach seiner Ankunft in New Bremen eine Brewing Company.

Diese Fotografie sendete das Ehepaar Evers ihren daheim gebliebenen Familienmitgliedern Ende der 1880er Jahre. Über die Jahre ist es im Familienbesitz geblieben und stellt bis heute eine Verbindung zum Bremen in Übersee dar.

 

Übrig geblieben sind vom deutschen Leben heute nicht nur Straßennamen. Die „New Bremen Historic Association“ hat es sich zum Ziel gesetzt, die Wurzeln der Stadt zu konservieren und einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Im ältesten Haus der Stadt ist das städtische Museum untergebracht. Auch das Domizil der Boesel-Familie ist ein zentraler Erinnerungsort der Stadt. Das Adolph Boesel House, das von außen mit einer prächtigen Holzfassade im Heimatstil beeindruckend wirkt, ist als ein „Historic Place“ den Besuchern New Bremens vom National Park Service zugänglich gemacht worden.

Es sind dies nur die ersten Tage meiner insgesamt vier Wochen andauernden Reise durch den amerikanischen Osten und Mittleren Westen. Doch bereits jetzt habe ich ein vollkommen neues Bild der USA erhalten. Und Europas. All meine Erlebnisse und Eindrücke der letzten Tage haben mich erneut vor die Frage gestellt, wo Europa endet. Vor dem Atlantischen Ozean sicherlich nicht. Ich habe aber auch erfahren, dass die deutsche, ja europäische Geschichte nicht nur mit der amerikanischen aufs Innigste verwoben ist. Wir teilen uns eine Verantwortung gegenüber all jenen, deren Identität als Native Americans und First Nations für lange Zeit aus dem kollektiven Bewusstsein verdrängt worden ist.