Mit einem geliehenen Wohnmobil bin ich von der kanadischen Grenze aus zu einer Reise in die Vereinigten Staaten aufgebrochen. Einen Monat werde ich die neuenglischen Staaten sowie Teile American South und Midwest durchqueren. Meine Reise führt mich zu den Great Smoky Mountains zwischen Tennessee und North Carolina, Native Americans in den Blue Ridge Mountains und jüdischen Gemeinden in Baltimore und New York. Doch in den ersten Tagen meiner Reise bin ich auf der Suche nach einem ganzen anderen Amerika. Demjenigen Teil der USA, wo bis heute Straßennamen deutschen Ursprungs sind und Bier nach deutschem Reinheitsgebot gebraut wird. Eine Reise auf den Spuren deutscher Auswanderer in Nordamerika.
Dritter Teil: Cincinnati
Um Downtown Cincinnati zu erreichen, muss zunächst der mächtige Ohio River passiert werden. Über die blauen Stahlgitter der einst weltweit längsten Hängebrücke blicke ich hinab in den Strom, in dessen Wasser das Sonnenlicht mal himmelblau widerscheint, mal von einer schlammigen Trübe verschluckt wird. Dieses Wasser war der Reichtum der Stadt. Über Transportschiffe wurden nicht nur die kleinen Ortschaften Ohios versorgt; der Warenaustausch über Wasser verband das nördliche Ohio mit dem südlichen Louisiana. Im pulsierenden Handelszentrum Cincinnati siedelten sich alsbald Produktionsfirmen jeglicher Art an. Von der Holz- über die Ölindustrie bis zur Tabakproduktion. Jener 20jährige Bremer Auswanderer stieg hier vom Angestellten eines Grocery Store zum Geschäftsführer eines Zigarren-Geschäfts auf. „Cincinnati ist eine noch neue blühende Stadt“, schrieb er enthusiastisch 1846 an seinen Vater, „zählt circa 90000 Einwohner, worunter sich ungefähr 25000 Deutsche befinden“. Damit waren fast ein Drittel der Bevölkerung Cincinnatis deutscher Herkunft, mehr als zu jener Zeit in New York City.
Vor der Skyline Cincinnatis erhebt sich die John A. Roebling Suspension Bridge über den mächtigen Strom des Ohio River. Um weiterhin schiffbar bleiben zu können, musste die Hängebrücke in Höhe und Länge einen Superlativ bilden. Bis zum Bau der Brooklyn Bridge 1883 war sie mit 322 Metern die längste Hängebrück der Welt – und damit Zeichen des Wohlstandes von Cincinnati.
Durch den oft anhaltenden Kontakt mit den in der Heimat verbliebenden Verwandten machte sich Cincinnati in Deutschland einen Namen. Die aus Bremen und seinem Umland Fortgezogenen suchten in der Neuen Welt ein Stück ihrer alten Heimat. Hier, in Cincinnati, 700 Meilen westlich von New York City, konnten sie es finden. Man traf nicht nur auf Freunde aus alter Zeit: Auch das kulturelle Leben der Großstadt ließ die Illusion entstehen, nicht tausende Kilometer entfernt von dem Orte zu sein, wo man Familie und Freunde zurückgelassen hatte. Deutsche Schulen und christliche Gemeinden, deutschsprachige Zeitungen und Verlage ließen die deutsche Sprache zu einem festen Bestandteil Cincinnatis werden. Konnten in einer der vielen deutschen Metzgereien und Lokalitäten traditionelle Gerichte Nordwestdeutschlands und Bayerns erworben und verspeist werden, wurde in der Brauerei des bayrischen Auswanderers Christian Morelein Bier nach bayrischem Reinheitsgebot hergestellt und von Cincinnati aus bis in die Alte Welt exportiert.
Doch die deutschen Auswanderer stießen in Cincinnati nicht nur auf Akzeptanz. Immer wieder kam es zu vereinzelten Übergriffen – Schlägereien oder Vandalismus in deutschen Geschäften und Lokalen, bei denen gegenseitige Ressentiments den Hass schürten. Ein zusätzlicher Grund wohl, weshalb in den 1850er Jahren ein deutsches Wohnviertel oberhalb von Downtown Cincinnati entstand: Das Einwandererviertel „Over-the-Rhine“. Um zu diesem höher gelegenen Teil der Stadt zu gelangen, musste zunächst der neu gebaute Miami und Erie-Kanal überquert werden. Viele der deutschen Auswanderer überkam hier, bei der Überquerung des gigantischen Kanals, ein Hauch von Nostalgie: Man ginge über den Rhein, riefen sich die Auswanderer vergnügt auf dem Weg zur Arbeit weiter unten in der Innenstadt zu. Binnen kürzester Zeit hatte sich hier die Mehrheit der deutschsprachigen Unternehmen angesiedelt; lebten die deutschsprachigen Fabrikarbeiter in den hier neuentstandenen Wohnblöcken.
Die Wirtschaft Cincinnatis wuchs mit der haltlos zunehmenden deutschen Bevölkerung. War die Einwohnerzahl mit der immer neuen Gründung von Produktionsstätten in den 1880er Jahren bereits auf 255.000 gestiegen, bezeichnete sich fast die Hälfte der Bevölkerung Cincinnatis als Deutschamerikaner. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges waren es zwei Drittel gewesen. Doch ebenso wie in New York, ebenso wie in nahezu allen Großstädten der Vereinigten Staaten bedeutete der Kriegseintritt der USA 1917 das Ende der pulsierenden deutschen Gemeinschaften. Binnen weniger Jahre schien das kulturelle Erbe der deutschen Auswanderer aus dem Stadtbild Cincinnatis ausradiert worden zu sein: Keine deutschen Druckereien mehr, kein Sauerkraut und Bretzeln an den Theken der innerstädtischen Lokale. Wie in New York wurden Familiennamen anglisiert, aber auch die in Cincinnati vorhandenen Straßennamen größtenteils in einen obskuren Sinn verkehrt. Die „Mueller Avenue“ wurde in ihren Buchstaben gespiegelt, hieß mit einem Male „Relleum Avenue“.
Und heute? Ist tatsächlich jede Spur deutschen Lebens hier in Cincinnati bis in unsere Zeit verwischt? Schon die Fahrt nach Downtown Cincinnati stellt sich all meinen Erwartungen entgegen. Während ich an einer Kreuzung auf das Umstellen der Ampel warte, betrachtete ich das Straßenschild näher – WACHENDORF ST. Ich fahre rechts ran und mache begeistert eine Aufnahme. Das Wachendorf von Johann Diedrich Sander, der aus dem Bremer Land gen Westen zog? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Denn insgesamt fünf Orte führen in Deutschland den Namen „Wachendorf“, Familiennamen nicht mitgerechnet.
Im Zentrum angelangt, parke ich das Wohnmobil an einem Parkplatz, der zwischen den Schluchten baufälliger Hochhäuser liegt. Schon bei der Einfahrt in die Großstadt habe ich erfahren, dass dies die eine Seite Cincinnatis ist. Denn der Rust Belt hört nicht am Erie-See auf. Zunächst mussten Arbeiter Maschinen weichen; dann wurde die Produktion der großen Firmen Cincinnatis nach Asien verlagert. Hatte die Stadt 1960 schon 40 Prozent seiner Einwohner verloren, sank die Bevölkerungszahl weiter. Zählte Cincinnati zu seinen größten Zeiten mehr als eine halbe Million Einwohner, sind es heute knapp 300.000. Ein Großteil von ihnen lebt unterhalb der Armutsgrenze, sodass die Stadt am Ohio River zu den ärmsten Großstädten der Vereinigten Staaten zählt. Gepaart ist die wirtschaftliche Armut mit sozialen Konflikten. Die Masse der sozial Deklassierten sind afroamerikanische Bürger, die sich im Over-the-Rhine konzentrieren. Nicht ohne Grund eskalierten hier 2001 die Proteste am Mord eines unbewaffneten Afroamerikaners durch einen weißen Polizisten. Over-the-Rhine erhielt alsbald den Ruf der „most dangerous neighborhood“.
Dies ist die eine Seite Cincinnatis. Vielerorts ist sie offensichtlich. Mein Parkplatz war dabei keine Ausnahme: Immer wieder treffe ich auf solche «parking lots», wo einst ganze Wohnblocks gestanden haben. Zahlreiche Schaufenster sind mit Holzbrettern vernagelt, Käufer seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten gesucht. Die andere Seite aber ist das zunehmend hohe soziale und wirtschaftliche Engagement der Einwohner und Unternehmer Cincinnatis seit den vergangenen zwanzig Jahre. Als Antwort auf die „Cincinnati riots“ folgte 2001 ein Revitalisierungsprogramm. Seither sind hunderte Millionen an US-Dollar in wirtschaftliche, soziale und kulturelle Programme geflossen. Und auch dies wird offensichtlich, sobald ich durch die Straßen der Downtown ziehe. Historische Gebäude wurden restauriert; das alte Cincinnati erlebt nun eine Renaissance. Die Stadt kann so mit architektonisch herausragenden Gebäuden des Art déco glänzen. Auch vermischt sich Altes mit Neuem: Künstler aus ganz Amerika haben in der gesamten Downtown Rückfassaden mit Wandmalereien belebt.
Eine Stadt der Kontraste: In Cincinnati reihen sich verlassene Häuserblocks an vor wenigen Jahren renovierte Hochhäuser und Industriebauten. Gemeinsam versuchen Bürger, Künstler und Unternehmer, die Stadt wieder mit Leben zu füllen.
Im ehemaligen deutschen Einwandererviertel Over-the-Rhine ist wieder städtisches Leben zurückgekehrt. Gemeinsam veranstalten Einwohner und Unternehmer alljährlich ein mehrtägiges Straßenfest, dass sich zunehmender Beliebtheit erfreut. Auch außerhalb der Stadtgrenzen.
Selbst das deutsche Leben ist in die Stadt zurückgekehrt. Bemerken tue ich dies, als ich aus der „Doerr Alley“ in eine belebte Straße trete, die von Marktständen gesäumt ist. Zufällig treffe ich auf das Stadtfest, das Bürger, kulturelle Institutionen und Ladeninhaber in der Downtown jährlich organisieren. Vorbei an Ständen, an denen neben Burgern und Pies afrikanische und deutsche Gerichte angeboten werden, gelange ich in den nördlicheren Brewery District, der schon zum „Over-the-Rhine“ gehört. Einst waren hier die deutschen Brauereien und Bierhäuser angesiedelt. Heute gibt es sie wieder hier: Die Christian Morelein Brewing Company hat 2010 den Betrieb wieder aufgenommen, auch das alte Hofbrauhaus wird wieder besucht. Hier gehe ich aus dem Marktgeschehen heraus, um in einen der vielen Kunst- und Vintage-Läden der Stadt einzutreten. Ich blättere mich durch die Gemälde eines einheimischen Künstlers, der Kinos, Theater und Hochhäuser der Stadt in intensiven Farben zum Leuchten bringt. An der Kasse komme ich mit der Ladenbesitzerin ins Gespräch.
Die europäisch anmutende Frau scheint mir anzusehen, dass ich von „drüben“ komme. Als ich erzähle, dass ich aus Bremen – „a town in Northern Germany near Hamburg“ – stamme, kommt Begeisterung auf. Ob sie Bremen kenne? Aber natürlich, ihre Eltern kamen von Hamburg, sind in den 1960er Jahren nach Cincinnati gezogen! Nach weiterem Reden holt sie aus einer Schublade einen Flyer hervor und hält ich mir entgegen. „Cincinnati Brewery Tours“, steht hierauf in großen Lettern. Die Ladeninhaberin erzählt mir von der neugegründeten Bürgerinitiative. Sie bietet geführte Touren durch das aus der Prohibition stammende Kellersystem von Brauereien an, in denen die Einwohner der Stadt geschützt vor dem Gesetz ihr tägliches Bier zu sich nahmen. „Auch deutsche Brauereien gehörten dazu.“
Ein Relikt der deutschen Vergangenheit Cincinnatis ist auch das Haus der ehemaligen „Deutschen Gegenseitigen Versicherungsgesellschaft von Cincinnati“. Der Bau kündigt die Vermengung europäischer und amerikanischer Einflüsse in der nordamerikanischen Großstadt um die Jahrhundertwende an.
Weiter erkunde ich die Stadt und stoße im Laufe des restlichen Tages immer wieder auf vergangene und gegenwärtige Zeugnisse deutschen Lebens. Vorbei an einem viktorianischen Gebäude, in dem einst die «Deutsche Gegenseitige Versicherungsgesellschaft von Cincinnati» untergebracht war, gelange ich schließlich zum Ende des Einwandererviertels. Hier ragt ein Glockenturm aus rotem Ziegelstein empor – eine Hommage an die deutsche Baukultur. In weißen Majuskeln steht hierauf „Over-the-Rhine“ geschrieben. Auf einer nur wenige Meter entfernten Wiese eine Reklame zum kommenden Schützenfest. Und nicht nur Schützenfeste werden heute von den Deutschamerikanern wieder organisiert. Cincinnati ist Veranstaltungsort des größten Oktoberfestes außerhalb von Deutschland! Ob Tradition, Folklore oder einfach nur Touristenmagnet: Das kulturelle Erbe der deutschen Auswanderer ist heute nicht mehr ein Schandfleck amerikanischer Familien.
Die deutsche Vergangenheit ist im Stadtbild Cincinnatis weiterhin präsent. Dafür zeugt auch der noch junge Glockenturm, der Anfang und Ende des deutschen Einwandererviertels „Over-the-Rhine“ markiert.
Bevor ich Cincinnati verlasse, gehe ich noch einmal herunter zur neu gestalteten Uferpromenade. Auf meiner weiteren Reise muss ich mich zunächst vom Ufer des Ohio River trennen. Denn meine Suche nach den Spuren Bremer Auswanderer führt mich Richtung Norden in eine Kleinstadt von Ohio: New Bremen.