Mit einem geliehenen Wohnmobil bin ich von der kanadischen Grenze aus zu einer Reise in die Vereinigten Staaten aufgebrochen. Einen Monat werde ich die neuenglischen Staaten sowie Teile American South und Midwest durchqueren. Meine Reise führt mich zu den Great Smoky Mountains zwischen Tennessee und North Carolina, Native Americans in den Blue Ridge Mountains und jüdischen Gemeinden in Baltimore und New York. Doch in den ersten Tagen meiner Reise bin ich auf der Suche nach einem ganzen anderen Amerika. Demjenigen Teil der USA, wo bis heute Straßennamen deutschen Ursprungs sind und Bier nach deutschem Reinheitsgebot gebraut wird. Eine Reise auf den Spuren deutscher Auswanderer in Nordamerika.
Zweiter Teil: New York-Cincinnati
Nur ein Teil der deutschen Auswanderer blieb in New York. Viele zogen weiter. Einige entschlossen sich wie Johann Diedrich Sander, ihre mitgebrachten Erfahrungen in der Landwirtschaft fruchtbar zu machen. Sander war in Wachendorf aufgewachsen, einem kleinen Dorf 30 Kilometer südlich von Bremen. Mit Weidewirtschaft war er vertraut. Mehr als zehn Jahre nach seiner Ankunft in Übersee siedelte Sander 1864 in Buenos Aires und wurde ein wohlhabender Viehzüchter. Ein Cousin aus einem Nachbarort, Gerd Preckel, folgte seinem Beispiel ein Jahrzehnt später. Aus dem Umland von Buenos Aires schrieb er seiner Familie 1879: „Ich habe jetzt 5500 Schafe in 2 Herden, … 70 Kühe, … 8 Pferde zum Reiten und 30 Stuten.“
Eine der wenigen Fotografien, die von amerikanischen Auswanderern aus dem Bremer Umland des 19. Jahrhunderts erhalten geglieben sind: Gerd Preckel (rechts), zusammen mit seinem Bruder Albert Preckel (links). Albert war nicht mit nach Argentinien gekommen und lebte als ärmlicher Brinksitzer in Bremen. Der Kontakt zu seinem ausgewanderten Bruder brach bis zu ihrem Tod nicht ab.
Andere zog es von New York aus Richtung Westen. In weiten Teilen der Vereinigten Staaten waren die Native Americans bereits in den 1860er Jahren zwar in gewalttätigen Umsiedlungsaktionen in Reservationen mit unfruchtbarem Ackerboden vertrieben worden. Das zur Besiedlung von der amerikanischen Regierung freigegebene Weideland, die an jahrhundertalten Baumriesen reichen Wälder boten den europäischen Auswanderern die Möglichkeit, sich ihren Traum von eigenem Besitz und Reichtum zu erfüllen. Ganz gleich auf wessen Kosten. Jener 20jährige Bremer, der 1841 seine Eltern und Brüder verließ, um zunächst in New York als Angestellter eines „Grocery Store“ sein Glück zu suchen, hatte die Metropole drei Jahre später verlassen. 1844 wurde er Geschäftsführer einer Tabakfabrik in einer Kleinstadt am Lake Michigan. „[V]or ungefähr 14 bis 15 Jahre waren die nicht gebornen Americaner d.h. die Indianer, oder … wilde Männer wie man sie nennt noch im besitz dieses theils von America, sehr viel unbebautes Land giebt es noch … welches alles mit sehr schweren Holze bewachsen ist, auch ist es gar nichts neues und seltenes wenn man hier im westlichen America noch öfters 50 bis 70 Meilen durch dicke Holzungen reist ohne ein einziges Haus anzutreffen“, beschrieb er die Weite des American West. Zwei Jahre später, 1846, siedelt er sich schließlich in der Großstadt Cincinnati im Bundesstaat Ohio an.
Auch ich habe meinen Weg fortgesetzt, bin von New York nach Buffalo an der kanadischen Grenze weitergereist. Was einst pulsierendes Industriezentrum der USA war, ist heute der amerikanische «Rust Belt»: Man fährt auf Highways, deren Asphalt unter Schlaglöchern und notdürftigen Teernähten zu verschwinden scheint. Blickt auf gigantische, leerstehende Fabriken, vor denen die einst für kilometerlange Güterzüge gelegten Eisenbahnschienen von Weidegras und jungen Ahornbäumen überwachsen sind. Fährt man vorbei an leerstehenden Einfamilienhäusern und solchen, von denen man nicht glauben könnte, dass sie tatsächlich bewohnt sind. «Mothers and children trapped in poverty in our inner cities, rusted out factories, scattered like tombstones across the landscape of our nation», kommt es mir unweigerlich in den Sinn. Viel unpathetischer klingen Donald Trumps Worte anlässlich seines Amtsantritts 2017 hier, wird seine Anziehungskraft für Millionen von Amerikanern mir verständlicher.
Heute suggeriert das Ufer des Erie-Sees eine malerische Idylle. Das himmelblaue Wasser schweigt über die unzähligen Toten der Native Americans, die hier im Zuge der Landnahme durch die US-amerikanische Regierung und europäische Siedler ihr Leben ließen.
Ich lasse Buffalo schnell hinter mir, fahre auf der Route 20 bis Cleveland am Ufer des Erie-Sees entlang. Zwar ist das Seeufer hier längst nicht mehr nur „unbebaut“, doch die Schönheit des Zusammenspiels von Mensch und Natur ist vielerorts geblieben. Strahlend sind hier die Farbtöne der Prachtvillen und Sommerhäuser, einst erbaut von reichen Industriellen der um den Erie-See verteilten Metropolen: Detroit, Cleveland, Pittsburgh. Und Buffalo. Nach zweihundert Kilometern Panoramaroute die Staatengrenze: Kurz hinter Erie beginnt der 17. Bundesstaat Ohio. Inzwischen sind etliche Jahrzehnte vergangen, seitdem „vor 14 oder 15 Jahren“ endgültig die Native Americans aus dem Staatengebiet von Ohio vertrieben wurden. Hier, zwischen Cleveland und Cincinnati, spielen sich ganze Mythen der nach Indiana und Oklahoma vertriebenen Stämme der Miami und Shawnee ab. Deren Häuptlinge Kleine Schildkröte, Blaue Jacke und Tecumseh sind selbst den Stämmen Montanas und Kaliforniens die Namen von Helden.
Helden des verzweifelten Widerstandes gegen ein Gewaltregime, welches in der Präambel seiner Unabhängigkeitserklärung stolz verkündete, dass „alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“ Die europäische Besiedlung Amerikas ist zugleich eine Geschichte der Ermordung und Vertreibung etlicher indigener Volksstämme. Ohio ist hier keine Ausnahme: Auf Befehl George Washingtons führten die Armee und kleine Söldnerverbände weißer Farmer zwanzig Jahre einen Guerilla-Krieg gegen die Shawnee und Miami. Blaue Jacke und Kleine Schildkröte gaben den bewaffneten Widerstand trotz der Verwüstung ihrer Städte, der Schändung von Frauen und Kindern nicht auf. Erst 1795 wähnte sich die US-Regierung mit dem Treaty of Greenville im Besitz des Bundesstaates. Gleich einem Phönix aus der Asche machte sich der Shawnee Tecumseh auf in den amerikanischen Südosten, um zum ersten Mal seit der Ankunft weißer Siedler in Nordamerika Stämme im Widerstandskampf zu vereinen. Mit mehreren hundert Mann zog er von den Blue Ridge Mountains bis nach Indiana. Sein Tod 1813 bedeutete den Zerfall der Allianz ostamerikanischer Stämme.
Umland von Millersburg, Zentrum der Amish-Community Ohios. Hier fährt man durch fruchtbares Weideland, vorbei an traditionellen Farmen mit Holzfassade und zylindrischem Getreidesilo. Vor zweihundert Jahren war der Großteil des hügeligen Landes vom Laub dichter Wälder bedeckt, siedelten hier die seminomadischen Ureinwohner Nordamerikas.
Fährt man heute durch das tiefgrüne Weideland Ohios, ist die einstige Präsenz der Native Americans kaum noch vorstellbar. Die Route 62 führt hinter Cleveland über Millersburg, Zentrum der Amish, bis zum gigantischen Ohio River. An seinem Ufer entlang bin ich nun in Cincinnati angelangt.