Ein heißer Sommertag Mitte Juli 2018. Über dem pechschwarzen Asphalt zittert die erwärmte Luft. Soeben habe ich mit meinem geliehenen Wohnmobil die Grenze zu Kanada überquert, befinde mich nun im Nordosten der Vereinigten Staaten. Einen Monat werde ich die neuenglischen Staaten sowie Teile American South und Midwest durchqueren. Meine Reise führt mich zu den Great Smoky Mountains zwischen Tennessee und North Carolina, Native Americans in den Blue Ridge Mountains und jüdischen Gemeinden in Baltimore und New York. Doch in den ersten Tagen meiner Reise bin ich auf der Suche nach einem ganzen anderen Amerika. Demjenigen Teil der USA, wo bis heute Straßennamen deutschen Ursprungs sind und Bier nach deutschem Reinheitsgebot gebraut wird. Eine Reise auf den Spuren deutscher Auswanderer in Nordamerika.
Erster Teil: New York
Meine Reise nimmt ihren Anfang dort, wo Millionen deutscher Auswanderer ihr neues Leben begannen: New York. Für sie war ab den 1840er Jahren die Schiffsverbindung von Bremen, wenige Jahrzehnte später von Bremerhaven zur am meisten genutzten Überquerung des großen Ozeans geworden, an dessen Horizont eine vielversprechende, in jeder Hinsicht bessere Zukunft zum Greifen nahe sein sollte. «Jungen Leute[n]», schrieb 1841 ein 20jähriger Bremer Auswanderer an seine daheim gebliebenen Brüder, „werde ich nie … abrathen, nach America zu reisen … . [A]uch verspreche ich euch, daß … ihr in New York ziemlich viel Geld verdienen könnt, mit leichter Handarbeit, und keine sclaverey welche in Hinsicht des Arbeitens in Deutschland existiert …“ Zwischen 1820 und 1920 nahmen allein mehr als fünf Millionen Deutsche die dreiwöchige Überfahrt auf sich, um in den Vereinigten Staaten von Amerika eine neue Heimat zu finden.
Bis heute Sehnsuchtsziel vieler Europäer: der pulsierende Big Apple. Bis spät in die Nacht sind Times Square und Umgebung belebt. Nur wenige Minuten Fußweg sind es von hier zu den südlich gelegenen Straßenzügen des ehemaligen „Kleindeutschland“.
Es verwundert mich daher nicht, heute im so modernen wie auch zeitlich stehen gebliebenen Big Apple Relikte aus der Hochzeit der deutschen Emigration zu entdecken. Zwischen den Schluchten der neu erbauten, stählernen Wolkenkratzer Manhattans erblicke ich weitaus ältere Fassaden: Es sind Bauten viktorianischen Stils, charakteristisch für das Amerika des 19. Jahrhunderts. Ebenso auffallend die in Majuskeln gehaltenen Inschriften: DEUTSCH-AMERIKANISCHE-SCHÜTZEN-GESELLSCHAFT, DEUTSCHES LYZEUM sind nur einige von ihnen. Hier, inmitten von Manhattan, befand sich einst „Kleindeutschland“. Die nicht abnehmende Auswanderungswelle brachte der deutschen Gemeinschaft New Yorks stetigen Zuwachs. Nicht selten trafen hier altbekannte Gesichter aufeinander. „Vor einigen Tagen hatte ich daß vergnügen“, berichtete gleicher Auswanderer in einem anderen Brief, „einen von meinen alten Schul Kameraden … hier zu sehn …“ Zu dieser Zeit zählte das von Englischsprachigen genannte „Little Germany“ ungefähr 50.000 Deutsche. Vierzig Jahre später waren es 170.000. Mit dem Ersten Weltkrieg jedoch verfolgte die Bewohner Kleindeutschlands eine Flut an Deutschfeindlichkeit bisher nicht gekannten Ausmaßes. Deutsche Geschäfte wurden boykottiert, Deutschamerikaner als Verräter beschimpft. In der Folge entschied sich die Mehrheit der deutschen Einwohner für die Vereinigten Staaten. Und damit auch gegen ihre deutsche Identität. Der bis dahin auf Deutsch erteilte Unterricht wurde aufgegeben, deutsche Lokale geschlossen, Großteile der deutschen Vereine und Feste eingestellt. Selbst mit Umbenennungen versuchte man, seine deutsche Herkunft zu verbergen: Aus dem teilweise für Generationen beibehaltenen „Schmidt“ wurde so der Familienname „Smith“.
Fließende Übergänge: An der Kreuzung von Mott und Hester St. treffen Chintatown und Little Italy aufeinander. In Zeiten seiner größten Ausdehnung reichten bis hierher die Grenzen von Little Germany. Historismus-Bauten sind Zeugen dieser wechselvollen Geschichte New Yorks.
Eine Wiedergeburt der deutschen Gemeinschaft, ein zweites „Little Germany“ lässt bis heute auf sich warten. Kein Straßenschild, keine Hinweistafel gibt ein Anzeichen darauf, dass ich soeben das ehemalige Viertel der deutschen Auswanderer betreten habe. Wären mir nicht die vereinzelten deutschen Inschriften aufgefallen, würde ich möglicherweise glauben, mich noch im benachbarten „Little Italy“ zu befinden. Tatsächlich hatte sich das italienische Viertel New Yorks in den 1920ern in Richtung Norden ausgebreitet, als deutsche Familien Geschäfte und Wohnungen in Kleindeutschland aufgaben. In Vierteln wie Brooklyn oder Queens zerstreuten sich die zuvor festen Verbünde. Aus deutschen Bäckereien und Metzgereien wurden so innerhalb weniger Jahre manch eine Pasticceria und Macelleria.
Kaum voneinander zu unterscheiden: Betritt man Little Italy, sind die roten Ziegelsteinfassaden nicht viel anders als im ehemaligen Little Germany. Viele der heute zum italienischen Viertel zählenden Gebäude sind einst von deutschen Familien geplant und deutschen Handwerksbetrieben gebaut wurden.
Doch weitaus nicht alle hielt es in der Millionen-Metropole, wo der für Europäer gigantisch wirkende Hudson River in den Atlantischen Ozean mündet. Denn für die meisten Auswanderer stellte die Hafenstadt noch nicht die Erfüllung ihrer Hoffnung auf ein besseres Leben dar. Im Gegenteil. Durch den nicht versiegenden Zustrom an neuen Glückssuchenden konnten Unternehmende auf billige Arbeitskraft setzen. „Mit vielen Geschäften ist hier nichts mehr zu verdienen, die immer neu Ankommenden arbeiten zuerst für jeden Lohn, und dadurch wird alles verdorben. Ein Bildhauer, mit dem ich auf einem Zimmer bin, ist 3 Jahre hier, und hat sich in der Zeit mit dem besten Willen noch keinen Thaler erübrigen können, was im Sommer verdient wird, das wird im Winter wieder verzehrt“, beklagte sich Johann Diedrich Sander in einem Brief an seine Eltern über die Arbeitsverhältnisse in New York City. Der gelernte Uhrmacher war 1852 von Bremerhaven aus aufgebrochen, glaubte zu Beginn noch, sich in der Metropole mit seinem Handwerk eine neue Existenz aufbauen zu können. Doch als ebenso bescheiden wie die Entlohnung erwiesen sich die Lebensbedingungen für den Großteil an Auswanderern, die nicht viel mehr als ein paar Kleidungsstücke mitbrachten. Einige waren untergebracht bei ihren Arbeitgebern oder in „Boarding Houses“: einfache Pensionen, mit denen meist ältere Bewohner der Stadt ihren Lebensunterhalt bestritten. Die Hälfte des Lohns, teilwiese auch mehr, bezahlten die Auswanderer hier für Unterkunft und Verpflegung. An Sparen auf eigenes Eigentum war in der Regel nicht zu denken. Andere leisteten sich unter Mühen eine kleine Wohnung in den baufälligen, über mehrere Stockwerke in den Himmel ragenden Wohnungsblöcken.
Überall in Manhatten stößt man kontrastreiche Straßenzeilen. Noch heute gibt es jene nur aus wenigen Stockwerken bestehenden Gebäude, in denen einst etliche Auswanderer eine erste Unterkunft fanden.
Denn auch das war New York, teilweise bis heute. Etliche Viertel bestanden aus diesen Bauten rotgebrannten Ziegelsteins, denen nicht selten fließendes Wasser fehlte. Regelmäßig verwüsteten Brandunfälle ganze Straßenzüge. „[I]m Herbst und Frühjahr ist es hier mit Feuer am Schlimsten, weil die Leute dann Miethe bezahlen müssen, und gehen diese als dann bei und stecken die Heuser in Brand damit sie von der Miethe entledigt bleiben“, wusste ein Bremer Auswanderer nach seiner Ankunft über New York zu berichten. Für viele der Auswanderer, die aus der Alten Welt hinüberkamen, wurde die neuenglische Großstadt selten mehr als ein Ankunftsort in einer neuen Heimat. Ihrem Traum, ihrer Hoffnung auf ein besseres Leben, wurde New York nicht gerecht.
Hallo Florian, ich finde die Art Deiner Berichterstattung „Roadtrip auf den Spuren deutscher Auswanderer“ sehr interessant – durch Zufall gefunden, zum Glück!
Ich recherchiere die hinterlassenen Spuren meines Opas, er folgte seinen fußgefassten ausgewanderten Schwestern nach Cleveland, OH, im Jahre 1927, Abfahrtshafen Bremen und dem Ankunftshafen New York mit Ziel Cleveland.
Vielen Danke! Ich werde auch Deine anderen Beiträge zum Lago Maggiore noch lesen.
Viele Grüße und mach weiter so!