Ob Integrierte Europastudien oder ein vollkommen anderer Studiengang – Das Praktikum bildet einen essentiellen Bestandteil des Studiums. Manch einem stellt es eine Pforte in das zukünftige Leben dar. Schließlich eröffnet die praktische Erfahrung gewöhnlicherweise ein breites, schier unbegrenztes Experimentierfeld, um eigene Vorstellungen einer beruflichen Zukunft zu erleben. Auch zu verwerfen und neue zu denken. Den Möglichkeiten sind dabei nahezu keine Grenzen gesetzt. Gewöhnlicherweise. Doch seit mehr als einem Jahr befindet sich unsere Gesellschaft in einem Zustand, der große Teile unserer bisherigen Gewohnheiten einschränkt. Ist deswegen die Chance auf ein facettenreiches und aktives Praktikum unerreichbar geworden?
Mein Weg zu einem Praktikumsplatz
Syke, eine Kleinstadt mit 25.000 Einwohnern in der Peripherie Bremens. Es ist ein sonniger Montagnachmittag, an dem ich in die Rathausstraße mit ihrem alten Klinkerpflaster einbiege. Geradewegs führt sie auf das alte Rathaus des 1974 eingegliederten Ortsteils Barrien zu. Die braunrote Ziegelsteinfassade wirkt rustikal, birgt aber zugleich den Charme einer vergangenen Zeit. Seit einem Jahr befinden sich hier die Räumlichkeiten des neuen Barrier Jugendhauses. Hier treffe ich den Jugendpfleger der Stadt Syke, Abdelhafid Catruat. Jede zweite Woche. Denn das vorgesehene Praktikum meines Studienganges absolviere ich hier.
Getroffen habe ich Abdelhafid zum ersten Mal im Sommer vergangenen Jahres. Damals nahm ich als Praktikant an einem von der Coaching und ManagementBeratung Gabriele Wichert veranstalteten Seminar im Jugendhaus Syke teil. Im Laufe der eintägigen Veranstaltung lernten wir einander kennen und schätzen. Ich erfuhr von seinen kulturellen Hintergründen und welche Bedeutung er diesen beimisst. Bei seinen Eltern handelt es sich um marokkanische Berber, Abdelhafid selbst spricht mit ihnen bis heute Berberisch. Aufgewachsen ist er aber in Deutschland, die Geschichte Marokkos und diejenige der nordafrikanischen Berberstämme ihm teilweise unbekannt. Auch erfuhr ich, was Abdelhafid mit seiner Position als Jugendpfleger verbindet: Das interaktive Zusammenführen von sozial und kulturell heterogenen Gruppen. Gelungen ist ihm dies bereits. So im Januar 2019, als Abdelhafid in Kooperation mit dem Stadtarchivar Hermann Greve in Syke polnische, marokkanische und deutsche Schüler zusammenbrachte, um ein gemeinsames Projekt anlässlich des Holocaust-Gedenktages auszuarbeiten. Auch ich hatte diese Unternehmungen positiv wahrgenommen, sodass unsere gemeinsamen Gespräche an diesem Tag immer wieder auf kulturelle Jugendarbeit zurückkamen.
Wenige Monate später kam Abdelhafid schließlich auf mich zu. Die ersten Sitzungen meines dritten Semesters waren bereits vergangen, wo ich zum ersten Mal die Gelegenheit bekam, im institutionellen Rahmen die Auswirkungen des Kolonialismus in der Gegenwart zu diskutieren. Ihre negativen, aber vielleicht auch prospektiven Aspekte gegeneinander abzuwägen. „Identität“ – ein hierbei stets gegenwärtiger Begriff, der mir sogleich vielfältig wie auch verschwommen zu sein schien. In meinen Gedanken zu einer solchen „postkolonialen Identität“ zogen an mir vorbei die vielen Erlebnisse, die mich seit meinem Jugendalter begleiten und geprägt haben: US-amerikanische Reservationen mit Spielcasinos für „Weiße“; Gespräche mit der Kuratorin des Museums über die Underground Railroad im kanadischen North Buxton und mit First Nations in British Columbia. Aber auch albanische Dörfer in der kargen Gebirgslandschaft Kalabriens; Begegnungen mit kleinasiatischen und nordafrikanischen Minderheiten in Deutschland und anderen Teilen unseres Kontinents, deren heutige Präsenz ohne einen europäischen Kolonialismus mit all seinen Folgen möglicherweise undenkbar wäre.
Mit all diesen für mich sehr emotionalen Eindrücken und Erlebnissen im Bewusstsein berichtete Abdelhafid mir von seinem Projekt eines trinationalen Jugendaustauschprogramms im Sommer, vielleicht auch Herbst 2021. Im nordmarokkanischen Al Hoceima an der Grenze zum Rif-Gebirge sollten sich Jugendliche und junge Erwachsene aus Syke, deren polnischer Partnergemeinde Wabrzezno und Al Hoceima zusammenfinden, um mittels interaktiver Workshops zu einem gegenseitigen Austausch zu gelangen. Werte der Toleranz, Solidarität neu zu erleben. Auf die Frage, ob ich Interesse an der Mitgestaltung und Planung des Jugendaustausches hätte, willigte ich sofort begeistert ein.
Nicht nur, dass ich zu diesem Zeitpunkt ein generelles Interesse an einem vielfältigen Austauschprogramm besaß. Auch hatte ich bereits viele Überlegungen hinsichtlich meines zu absolvierenden Praktikums angestellt, dem ich spätestens im vierten Semester hätte nachkommen sollen. All diejenigen mich reizenden Ideen – ein Praktikum in einem Museum, einer Organisation mit kulturellem Schwerpunkt – erwiesen sich mit den zunehmenden Beschränkungen als unrealisierbar. Insofern verhalfen mir meine Erfahrungen und im Laufe der Jahre aufgebauten Kontakte, trotz aller vorhandenen Hindernisse ein in aller Hinsicht vielfältiges Praktikum zu finden. Nicht zuletzt aber auch durch ein gewisses Maß an Eigeninitiative. Schließlich liegt es zunächst nicht unbedingt nahe, internationale Jugendarbeit mit einem kulturwissenschaftlichen Studiengang wie den Integrierten Europastudien verbinden zu wollen. Hierbei kamen mir meine persönlichen Erfahrungen und nicht zuletzt Abdelhafids eigenes Interesse an der Geschichte Marokkos zu Gute. Und nicht zuletzt die koloniale Vergangenheit des heutigen Marokkos, die in weiten Teilen des Landes bis heute allgegenwärtig ist.
Der Veranstaltungsort des geplanten trinationalen Jugendaustauschs – Al Hoceima – befindet sich im Herzen der ehemaligen, teilweise aber bis heute existierenden Plaza de soberania – dem spanischen „Hoheitsplatz“ und damit dem einstmaligen spanischen Kolonialreich auf afrikanischem Boden. Die Spuren des spanischen Kolonialismus in Marokko lassen sich bis in das 15. Jahrhundert zurückverfolgen, die marokkanische Gesellschaft ist bis in unsere Tage von den kolonialen Herrschaftsstrukturen geprägt. Sozial-strukturell durch sprachliche Segmentierung und Minderheiten der ehemaligen „Kolonialherren“, durch noch heute zu Spanien gehörende Enklaven und durch spanische Architektur. Aber auch ökologisch durch den Einsatz chemischer Kampfstoffe in der Rif-Rebellion der 1920er Jahre. Damals setzte Spanien tausende Tonnen von Senfgas gegen die rebellierenden Berberstämme und andere marokkanischen Volksgruppen ein. Zunächst auf dem Schlachtfeld in Form von Handgranaten. Wenig später mit Bombardements auf Bazare und Gassen. Bis heute belastet das Senfgas die Böden marokkanischer Bauern, zählt die Region des Rif-Gebirges zur derjenigen mit der höchsten Rate an Krebserkrankungen in Marokko. Die Auswirkungen des Kolonialismus in Marokko sind in vieler Hinsicht präsent.
Die Alhucemas-Inseln um 1909. Bis heute gehört die Inselgruppe zum spanischen Staat und stellt bis heute eine der südlichsten Militärbasen Spaniens.
Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die Idee, eine interaktive Auseinandersetzung mit dem spanischen Kolonialismus im Rif-Gebirge und dessen Folgen in das Programm des Jugendaustausches zu integrieren. Abdelhafid, selbst interessiert an einer größeren Kenntnis über die Neue Geschichte der Heimat seiner Familie, schuf mir schließlich den hierfür nötigen Raum. Seit einem halben Jahr nimmt diese Idee einer kritischen, kulturorientierten internationalen Jugendarbeit immer konkretere Formen an. Von Beginn an ließ mich Abdelhafid an diesem Entstehungsprozess teilhaben. Der Antragstellung auf Fördergelder beim Auswärtigen Amt ist nun die tatsächliche Ausarbeitung des Programms gefolgt. Was ursprünglich an Sven Linqvists Dig Where You Stand orientiert war, hat sich zu einem Pilotprojekt in der internationalen Jugendarbeit entwickelt: Voraussichtlich werden Ende Oktober diesen Jahres Jugendliche und junge Erwachsene daran teilhaben, einem europäisch-afrikanischen Gedächtnis nachzuspüren. Und damit zum aktuellen Diskurs um die politische und ökologische Verantwortung in dekolonialisierten Gebieten beitragen. Gemeinsam werden die Jugendlichen Schauplätze der Rif-Rebellion begehen und sich mit der Identität der Bewohner der Rif-Region auseinandersetzen. Im Zentrum dieser Spurensuche: die eigenständige Befragung von Zeitzeugen und Erstellung von Filmmaterial.
Mein derzeitiges Praktikum in der Jugendarbeit der Stadt Syke ist damit beides, lokal und gleichzeitig international. Europäisch, und gleichzeitig über die von der Europäischen Union gesetzten Grenzen hinaus. Unmittelbar in der Nähe meines Heimatortes, und doch wieder an mehreren Orten zugleich. Trotz den Problematiken und Hindernissen, denen wir uns in diesen Zeiten stellen müssen. Erfahren habe ich, dass es zweier entscheidender Voraussetzungen bedarf, um ein zufriedenstellendes, interessantes Praktikum zu finden. Einerseits ein gewisses Maß an Initiative und Kreativität. Andererseits ein Heranziehen der eigenen Erfahrungen und der aufgebauten Beziehungen.