10.12.2020, Michael Müller (SPD), regierender Bürgermeister der Stadt Berlin, wohnt der Entzündung der Chanukka-Kerze am Brandenburger Tor bei. Das Entzünden markiert den Beginn des wichtigen achttägigen Festes, bei welchem sich Juden in aller Welt gegenseitig beschenken und gemeinsam speisen. Gerade Letzteres führt im Europa des 21. Jahrhunderts zu Problemen, denn im Judentum gilt das Gesetz des koscheren Essens. Genau wie im Islam gehört dazu die Vorschrift, Tiere, welche auf dem Teller landen, ordnungsgemäß zu schlachten. Das bedeutet, dass in den meisten Fällen das sogenannte „Schächten“ ohne eine Betäubung durchgeführt wird. Nach einem präzisen Schnitt am Hals bluten die Tiere hängend aus. Die Region von Flandern sprach 2017 ein Schächtungsverbot aus, welches besagt, dass das Schlachten ohne Betäubung unzulässig ist. Klagen von jüdischen und muslimischen Verbänden führten schließlich dazu, dass der Rechtsstreit vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ausgetragen wurde.
Der EuGH, ein transnationales Gericht und eines der zentralen EU-Organe, bestehend aus 27 Richtern (je einer pro EU-Mitgliedsland), macht damit
Gebrauch von seiner Macht, welche sich innerhalb der letzten Jahrzehnte enorm vergrößert hat. Der EuGH hat seit seiner Gründung in den 1950er Jahren zunehmend die Geschehnisse auf dem europäischen Kontinent beeinflusst und damit Supranationalität erlangt.
Maßgebliche Kompetenzen dieses judikativen EU-Organs sind zum einen das Vorabentscheidungsverfahren, bei welchem nationale Gerichte bei
Unsicherheiten bezüglich der Vereinbarkeit nationalen Rechts mit europäischem Recht eine Einschätzung des EuGHs erhalten. Zum anderen die
Vertragsverletzungsklagen, welche die Nichtanwendung des EU-Rechts benennen und schlussendlich bestrafen sollen. Damit soll vor allem „Trittbrettfahrern“ , d.h. solchen, welche EU-Verpflichtungen nicht einhalten, jedoch von anderen Mitgliedsstaaten profitieren, welche sich an die Verträge halten, Einhalt geboten werden. Zusätzlich wird dem EuGH, in Bezug auf die Auslegung der EU-Verträge, eine enorme Macht zuteil. Vage Begriffe und Eventualitäten in den Verträgen legt der EuGH aus.
Was ist nun aber aus Flandern und dem Schächten geworden? Was hat das mit der Supranationalität des EU-Rechts zu tun? Wie hat der EuGH seine Macht angewandt? Und warum ist das Urteil umstritten?
Während die EU-Grundrechtecharta die Religionsfreiheit als fundamentales Recht benennt, ist im Artikel 13 der EU-Verträge jedoch auch ein hohes
Tierschutzniveau vorgegeben: „Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere als fühlende Wesen [werde] in vollem Umfang Rechnung“ getragen. Es liegt also am EuGH, die Quellen und die Grundsätze der EU auszulegen.
2020 fiel in letzter Konsequenz das Urteil des EuGHs: EU-Staaten dürfen das Schächten von Tieren verbieten. In Deutschland fallen die Reaktionen darauf gemischt aus:
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, sieht in dem Urteil einen „Angriff auf die Religionsfreiheit“. Genauso wie der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, welcher betont, das Urteil bewerte, was Teil des religiösen Ritus sei. Es sei folgerichtig der „falsche Weg“.
Der deutsche Tierschutzbund hingegen begrüßt die Regelung. Das Urteil zeige, dass es auch möglich sei, Tierschutz und Religionsfreiheit zu vereinen. Es wird besonders auf Betäubungsarten verwiesen, welche von einem Großteil der Muslime bereits akzeptiert und angewendet werden.
Das alles zeigt uns vor allem eines: Der EuGH – und das wird nochmals klar, wenn man beobachtet, wie rasant die Anzahl der Verfahren vor dem EuGH in
den letzten Jahrzehnten gestiegen ist – ist ein maßgeblicher Motor der Europäischen Integration. Die EU hat somit über die Jahre einen rechtlich föderalen Charakter erlangt. Und das Geniale dabei: Josef Schuster, Aiman Mazyek, der Tierschutzbund, die Umweltministerin, deine Professorin und auch dein Opa haben die Möglichkeit direkt zu klagen. Genau deswegen ist der EuGH als supranationale Institution so einzigartig: Jeder Bürger besitzt eine Direktwirkung. Auch DU!