von Elisa Brauße
Hast du dich je gefragt, wer du bist und was dich ausmacht? Hast du dich je gewundert, wie wir lernen und warum wir manches wieder vergessen? Oder dich gefragt, wie optische Täuschungen entstehen? Wie können Krankheiten wie Schizophrenie geheilt werden? Können Tiere Sprache verstehen? Was passiert, biologisch betrachtet, wenn das Gehirn “arbeitet”? Und wie können wir dem Gehirn beim Arbeiten zusehen? Kann man ein Gehirn nicht einfach nachbauen oder simulieren? Oder noch besser: so manipulieren, dass es noch viel mehr kann?
Das alles (und noch viel mehr) sind Fragen, die die Neurowissenschaften versuchen zu beantworten. (Disclaimer: Die Antworten gibt es in diesem Artikel nicht. 😉) Kurz gesagt: Neurowissenschaften wollen verstehen,
- wie das Gehirn aufgebaut ist,
- wie es funktioniert und sich entwickelt,
- wie daraus Denken, Emotionen und Verhalten entstehen und
- was bei unterschiedlichen neurologischen Krankheiten im Gehirn schief läuft.
Um genau zu sein, stammt der Wortteil “neur” aus dem Griechischen und bedeutet “das Nervensystem betreffend”, was sowohl das komplette zentrale Nervensystem (Gehirn und Rückenmark), als auch das periphere Nervensystem (das restliche Nervensystem) umfasst. In der Praxis beschäftigen sich allerdings die meisten NeurowissenschaftlerInnen hauptsächlich mit Fragen rund um das Gehirn.
Dieses komplexe, wabbelige Konstrukt besteht aus geschätzt 80 Milliarden Neuronen (Nervenzellen, die Signale weiterleiten können) und noch einmal etwa genauso vielen Gliazellen (Zellen im Nervensystem, die keine Neuronen sind). [1] Um es zu verstehen, arbeiten NeurowissenschaftlerInnen mit WissenschaftlerInnen aus einem breiten Spektrum von Disziplinen zusammen: Biologie und Psychologie, Mathematik und Informatik sowie Sprachwissenschaften (Linguistik) und einige mehr treffen hier aufeinander. Der Übergang zwischen den Neurowissenschaften und den neurowissenschaftlichen Spezialisierungen der einzelnen Disziplinen ist oft fließend. Wenn es darum geht, ob ein Teilgebiet zu den Neurowissenschaften oder zu einer anderen Disziplin gehört, scheiden sich zum Teil die Geister. Ist zum Beispiel die Neurolinguistik (siehe unten) ein Teilgebiet der Neurowissenschaften? Oder doch eher der Linguistik zuzuordnen? Fakt ist lediglich, dass sich die Neurowissenschaften mit allen (oder zumindest mehreren) neurowissenschaftlichen Bereichen auseinandersetzen, während sich zum Beispiel die Linguistik nur mit neurolinguistischen Fragestellungen befasst.
Während die Neurowissenschaft früher als Spezialgebiet der Biologie angesehen wurde, sind die Neurowissenschaften heutzutage also deutlich breiter gefächert. Aber welche Teildisziplinen der Neurowissenschaften gibt es eigentlich? Hier nur einige:
- Molekulare und Zelluläre Neurowissenschaften untersuchen Nervenzellen und wie Moleküle und Gene sich auf das Nervensystem auswirken.
- Die Neurophysiologie beschäftigt sich mit der Funktionsweise des Nervensystems, unter anderem den Grundlagen für neuronale Aktivität.
- Affektive Neurowissenschaften befassen sich mit dem Zusammenspiel von Neuronen und Emotionen, z.B.: Was passiert im Gehirn, wenn ich Angst bekomme oder gestresst bin?
- Die Biopsychologie untersucht die neurobiologischen Grundlagen von Verhalten.
- Kognitive Neurowissenschaften erkunden die höheren kognitiven Prozesse wie das Problemlösen, Merken und Erinnern.
- Klinische Neurowissenschaften gehen den Krankheiten des Nervensystems (neurologischen und psychiatrischen) auf den Grund, z.B.: Wie entsteht Schizophrenie? Wie kann Parkinson geheilt werden?
- Die Neurolinguistik klärt Fragen rund um die Sprachverarbeitung und -produktion im Gehirn, z.B.: Ab welchem Alter kann unser Gehirn unsere Muttersprache von anderen Sprachen unterschieden?
- Computational Neuroscience versucht Prozesse, die im Gehirn stattfinden, mathematisch zu modellieren und mit Computern zu simulieren, um zu verstehen, wie das Gehirn funktioniert.
- Und die Neurotechnik möchte das Nervensystem mit Methoden aus den Ingenieurwissenschaften reparieren, Abhilfen für Einschränkungen schaffen oder das gesunde Gehirn verbessern, z.B.: Wie können Prothesen durch Nervenimpulse gesteuert werden und, wie normale Gliedmaßen, Feedback ans Gehirn senden?
Und wie untersuchen Neurowissenschaftler das alles? Um neurowissenschaftliche Fragen zu beantworten, werden Zellkulturen (z.B.: Wie entstehen Synapsen zwischen Neuronen?), Tierversuche (z.B.: Mit welchen Mitteln können Angststörungen überwunden werden?), bei Humanstudien (z.B.: Wie funktioniert Aufmerksamkeit?) vor allem EEG und verschiedene Bildgebungsverfahren (z.B. die (funktionelle) Magnetresonanztomographie (f)MRT, die Unterschiede der magnetischen Eigenschaften verschiedener Gewebe ausnutzt, um mit einem Magnetfeld und Radiowellen Bilder der unterschiedlichen Strukturen des Körpers zu erstellen), sowie mathematische Modelle (z.B. Wie können wir die Kommunikation zwischen Neuronen simulieren?) genutzt. Welche Methoden in einem neurowissenschaftlichen Experiment angewendet werden, ist letztendlich abhängig von der konkreten Fragestellung, die untersucht werden soll.
Bleibt noch die Frage: Wozu das Ganze? Einerseits aus reiner Neugier und um hoffentlich irgendwann das Gehirn und die Vorgänge darin genauso gut beschreiben zu können, wie die anderer Organe. Vielen geht es allerdings eher darum, das Gehirn gut genug zu verstehen, um eine ganze Liste neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen besser verstehen, effektiv behandeln und schließlich heilen zu können. Die Liste ist lang: Schizophrenie, Depression, Epilepsie, Schlaganfall…
Und zu guter Letzt auch: Um uns als Menschen besser zu verstehen. Denn dieses wabbelige Etwas in deinem Schädel konstruiert dein ganzes Leben lang deine ganz persönliche Wahrnehmung von der Welt und deine Sicht auf die Welt. Und genauso geht es den anderen Menschen, mit denen du dir diese Welt teilst.
Quellen:
[1] Azevedo, F. A., Carvalho, L. R., Grinberg, L. T., Farfel, J. M., Ferretti, R. E., Leite, R. E., … & Herculano‐Houzel, S., “Equal numbers of neuronal and nonneuronal cells make the human brain an isometrically scaled‐up primate brain,” Journal of Comparative Neurology, 513(5), pp. 532-541, 2009, DOI: 10.1002/cne.21974.
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