Je höher die Temperatur, desto höher das Risiko

Klima Special – Theorie

von Hanna Knahl

Einige Elemente unseres Klimas, z. B. das Grönländische Eisschild, stehen auf der Kippe… Bild: Pixabay

Die globale Erwärmung sollte die 1,5°C-Marke nicht überschreiten, so steht es im Pariser Klimaabkommen. Fridays for future und andere klimaaktivistische Gruppen kämpfen dafür. Warum eigentlich 1,5°C?

Im Klimasystem gibt es eine Vielzahl von möglichen sogenannten Kipppunkten. Diese Kipppunkte reagieren sensibel auf Temperaturveränderungen. Aber first things first…

Was sind Kipppunkte?

Beim Überschreiten eines Kipppunkts ändert sich der Zustand eines Systems durch eine Veränderung von außen.

Simples Beispiel:

Äußerer Umstand Zustand
Glas steht aufrecht Wasser im Glas
Glas liegt auf der Seite Glas leer

Irgendwo zwischen dem äußeren Umstand „aufrecht“ und „liegend“ befindet sich der Kipppunkt. An diesem Kipppunkt entscheidet sich, ob das Glas umkippt und sich entleert oder nicht.

Eine wichtige Eigenschaft eines Kipppunkts beschreibt, ob er reversibel ist oder nicht. Ist er nicht reversibel, so kippt das System nicht so leicht wieder zurück wie es hinein gekippt ist. Das Glas umzukippen ist ganz leicht und passiert allzu schnell, wie die eine oder andere Tastatur schon schmerzlich zu spüren bekommen hat. Ist das Glas einmal ausgekippt, wird es sehr mühsam, das ganze Wasser von der Tastatur wieder ins Glas zu bringen (“Ereignis frei erfunden – bei mir war es Cola…”). Allein das Glas wieder aufzustellen genügt nicht. Und ganz nebenbei ist dann vielleicht auch noch die Tastatur vom Zustand „funktionsfähig“ in „kaputt“ gekippt. Schhhh…ade.

Das kennt wahrscheinlich jede*r: Wasserglas kippt von der Tischkante. Danach das Wasser wieder ins Glas zurück bringen? Schwierig… Bild: Eigene Zeichnung

Kipppunkte im Klimasystem hängen ganz oft vom äußeren Umstand Temperatur ab [1]. Erwärmen sich die Luft oder der Ozean, kann dies bewirken, dass verschiedene Elemente des Klimasystems von ihrem aktuellen Zustand in einen anderen kippen:

Wie zum Beispiel in den Alpen: Gletscher → Kein Gletscher

Oder in der Arktis: Permafrost stabil → Permafrost taut auf

Einen solchen Kipppunkt besitzt auch das Eisschild in der West-Antarktis. Es ist sowohl von der Lufttemperatur, als auch von der Ozeantemperatur abhängig. Denn große Teile des Eisschilds „schwimmen“ auf dem Ozean als sog. Eisschelfe. Werden Luft und Ozean wärmer, so wird das Eisschild sowohl von oben, als auch von unten abgeschmolzen. Dadurch ist es besonders verletzlich. Und sein Kipppunkt ist irreversibel. Es braucht sehr viel mehr Zeit und eine größere Änderung der äußeren Umstände zum Aufbau eines Eisschilds als zum Abschmelzen.

Die Antarktis ist weit weg, betrifft uns aber sehr, denn das Eisschild speichert eine Menge Wasser. Gelangt dieses Wasser in die Ozeane, ändert sich der Meeresspiegel überall auf der Welt. Er ändert sich nicht überall gleich (spannend, aber führt hier zu weit), aber im Mittel steigt er.

Wir sind aktuell bei +1,1°C  globaler Erwärmung [1]. Zur Erinnerung: Wir wollen die +1,5°C eigentlich nicht überschreiten. Ein Kommentar veröffentlicht im Journal „nature climate change“ im Januar 2023 von Uta Klönne und Weiteren  [1] hat verschiedene Kipppunkte des Klimasystems und deren aktuelle Studienlage gesammelt. Sie stellt dar, bei welcher globalen Temperaturerhöhung, welche Kipppunkte erreicht werden könnten. Die Kipppunkte sind natürlich etwas komplexer als bei unserem Glas und es wird nicht nur zwischen „voll“ und „leer“ unterschieden, sondern in mehreren Abstufungen.

Ergebnisse

Am sensibelsten ist das Eisschild am anderen Pol, in Grönland. Schon jetzt bei +1,1°C ist das Grönländische Eisschild stark bedroht. Alle anderen aufgeführten Kipppunkte verhalten sich noch eher ruhig. Aber ab +1,5°C “geht’s richtig ab”. Gletscher, Meereis in der Arktis, Permafrost, Versauerung des Süd-Ozeans und auch das Eisschild der West-Antarktis bekommen dann ein Problem.

Die betrachteten Kippelemente und ihre Gefährdung bei globaler Erwärmung. Je mehr „!“, desto größer die Gefahr des Überschreitens des Kipppunkts. Bildquelle: Vereinfachte eigene Darstellung angelehnt an [1]

 

Und damit bekommen wir ein Problem. Der Meeresspiegel steigt schon bei +1,5°C langfristig gesehen global um 2-3 Meter. Aktuell sind wir bei +20cm globalem Meeresspiegelanstieg [2] und schon jetzt kämpfen kleine Inseln in der Karibik oder im Pazifik um ihre Existenz [3]. Etwa 10% der Weltbevölkerung leben in Küstenregionen, die weniger als 10 Meter über dem Meeresspiegel liegen (The Ocean Conference, UN, 2017). Entsprechend viele Menschen sind ganz direkt vom Anstieg des Meeresspiegels betroffen. Falls wir die +1,5°C überschreiten, steigt die Wahrscheinlichkeit, die Kipppunkte der großen Eisschilde zu erreichen. Und der Meeresspiegel würde langfristig noch erheblich höher steigen (also höher als 2-3 Meter).

Wie können +1,5°C noch eingehalten werden?

+1,5°C können wir in etwa einhalten, wenn wir bis 2030 die Emissionen um 40% (31-59) reduzieren und bis 2050 um 88% (77-100) [1].

Deswegen sagen die Wissenschaftler*innen um Uta Klönne, nur die Halbierung unserer Emissionen bis 2030 könne das Risiko, Kipppunkte zu erreichen, minimieren. Um diese Botschaft zu unterstreichen nannten sie ihr Paper gleich genau so: “Only halving emissions by 2030 can minimize risks of crossing cryosphere thresholds” – Nur die Halbierung der Emissionen bis 2030 kann das Risiko minimieren, Kipppunkte der Kryosphäre (alles, was mit Eis zu tun hat) zu überschreiten.

Und damit haben wir auch schon die passende Forderung zu dieser Forschung gefunden:

Politik und Industrie sind aufgefordert, die Emissionen bis 2030 zu halbieren!

Etwas Hoffnungsvolles zum Schluss? Auch das Auftauen des Permafrosts besitzt einen Kipppunkt. Beim Auftauen würden riesige Mengen von Treibhausgasen entstehen, die dann das Klima weiter erwärmen. Wo bleibt das Positive? Ein viel diskutierter Runaway Effekt, bei dem sich das Klima einfach immer weiter erwärmen würde durch das Tauen des Permafrosts, würde wohl nicht auftreten [4]. Ein Horrorszenario weniger.

Noch mehr Infos zu Kipppunkten

Wenn ihr euch für weitere Kippelemente des Klimasystems interessiert, empfehle ich euch die Infoseite des Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung zu diesem Thema.

Außerdem gibt es das Greenpeace Projekt @Grad.jetzt , das Kipppunkte sichtbar machen will.

Meereisdaten von 01. bis 31. Juli 2023 stammen von www.meereisportal.de (Förderung: REKLIM-2013-04).

Auch in Bremen und Bremerhaven wird eine Menge zu Kippelementen geforscht und visualisiert. Ein gutes Beispiel ist die Entwicklung des Meereises. Das Schwinden des Meereises in der Arktis könnt ihr auf dem Meereisportal des Alfred-Wegener-Institus in Bremerhaven mitverfolgen. Dort könnt ihr selbst erkunden, wie viel Meereis es aktuell gibt und wie sehr es schon geschrumpft ist. Außerdem findet ihr dort topaktuelles Meereiswissen, das am AWI und am Institut für Umweltphysik in Bremen erforscht wird.

Forscher*innen diskutieren immer wieder, welche Elemente des Klimasystems tatsächlich Kipppunkte besitzen und welche eventuell doch reversibel sind oder sich graduell verändern. Das Meereis der Arktis ist ein Beispiel dafür, bei dem sich Wissenschaftler*innen uneinig sind, ob es ein Kippelement ist oder nicht. So oder so, das Meereis ist ein wichtiger Teil des Klimasystems und es verändert sich extrem schnell. Überzeugt euch selbst im Meereisportal.

Von der Theorie zur Aktion

Politik und Industrie haben eine ganze Menge zu tun, um die globale Erwärmung auf 1,5°C zu begrenzen. Aber auch Studierende der Uni Bremen können etwas tun. Ein Beispiel dafür findet ihr in unserem zweiten Klima Special. Habt ihr schon vom Krümelmonster gehört? Amelie stellt euch eine Gruppe vor, die für klima- und soziale Gerechtigkeit an der Uni kämpft und dafür die Keksdose besetzt hat.

Quellen:

[1] Kloenne, U., Nauels, A., Pearson, P. et al. Only halving emissions by 2030 can minimize risks of crossing cryosphere thresholds. Nat. Clim. Chang. 13, 9–11 (2023). https://doi.org/10.1038/s41558-022-01566-4

[2] https://www.climate.gov/news-features/understanding-climate/climate-change-global-sea-level (24.08.23)

[3] Betzold, C. Adapting to climate change in small island developing states. Climatic Change 133, 481–489 (2015). https://doi.org/10.1007/s10584-015-1408-0

[4] Josep G. Canadell, Pedro M.S. Monteiro, Marcos H. Costa, Leticia Cotrim Da Cunha, Peter M.
Cox, et al.. Global Carbon and other Biogeochemical Cycles and Feedbacks. IPCC AR6 WGI, Final
Government Distribution, chapter 5, 2021. hal-03336145

[5] Spreen, G.; Kaleschke, L. and Heygster, G. (2008), Sea ice remote sensing using AMSR-E 89 GHz channels J. Geophys. Res.,vol. 113, C02S03, doi:10.1029/2005JC003384.

2 Kommentare

  1. Patrick

    Tolle verständlicher Artikel. Endlich habe ich was dazu gelernt, zu diesem wichtigen und schwierigen Thema

  2. Hans

    Vielen Dank für Deine einfachen und nachvollziehbaren Erklärung. Jetzt habe ich das endlich besser verstanden. Super.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert