Von Isabell Grothaus

Abbildung 1 – Quelle: Dall-E.

Zucker wird in unserem Körper nicht nur in Energie umgewandelt, er beschützt uns auch vor Krankheiten und Infektionen. Denn nahezu all unsere Zellen sind mit einer dichten Zuckerglasur überzogen. Knabbern allerdings Parasiten an den Zuckern herum, kann es für uns gefährlich werden.

Süße Verführung lauert überall: Beim morgendlichen Frühstück verbirgt sich Zucker in der Marmelade und abends lockt er uns in Form von Schokolade. Wer kennt es nicht? Am Ende des Tages ärgern wir uns über die süßen Versuchungen, denen wir erlegen sind. Denn eins ist klar: Zucker gilt als ungesund.

Aber wie steht es um die Kartoffeln beim Mittagessen? Kaum einer denkt darüber nach, dass sie chemisch betrachtet, zu etwa 73 % aus Kohlenhydraten– sprich Zucker bestehen. Der Großteil davon ist Glukose, dasselbe Monosaccharid, das auch in unserem Haushaltszucker steckt. Die Frage drängt sich auf: „Warum schmecken Kartoffeln nicht süß, obwohl sie soviel Zucker enthalten?“

Der subtile, jedoch entscheidende Unterschied, liegt in der Art und Weise, wie Monosaccharide, die fundamentalen Bausteine der Zuckermoleküle, miteinander verknüpft sind. Kurze Formen wie Lactose bestehen aus wenigen linear verbundenen Monosacchariden und schmecken süß. Hingegen ist die Stärke, die den überwiegenden Anteil von Zucker in einer Kartoffel ausmacht, ein Molekül mit vielen Verzweigungen, das aus weit mehr als 1000 Glukoseeinheiten besteht. Rezeptoren auf unserer Zunge können kürzere Zuckermoleküle viel besser erkennen als Große, was in unserm Gehirn zu dem Signal „süß“ führt.

Man könnte meinen, Zucker spiele in unserem Leben nur als Nahrungsmittel eine Rolle. Dabei ist viel spannenderer, dass jede unserer Zellen von Zuckermolekülen überzogen sind, wie kandierte Äpfel auf dem Weihnachtsmarkt. Und wenn zwei Zellen miteinander interagieren, tun sie dies meist über ihre Zuckermoleküle auf der Oberfläche, ebenso wie kandierte Äpfel aneinanderkleben würden, wenn sie sich berührten. Selbst der Raum zwischen unseren Zellen besteht zu einem großen Teil aus langen Zuckerketten, die dem Gewebe die nötige Stabilität und Struktur verleihen. Man stelle sich viele kandierte Äpfel in einem Berg aus Zuckerwatte vor.

Unsere Zelloberflächen sind so gut gezuckert, weil die darin vorkommenden Proteine häufig mit speziellen Zuckermolekülen, N-Glykane genannt, überzogen sind. Es handelt sich hierbei um eher kleine Moleküle, bestehend aus 10 bis 20 unterschiedlichen Monosacchariden, die wie ein Baum mit einem Stamm und mehreren verzweigenden Ästen aufgebaut sind. Das Ende des Stammes, dort wo beim Baum die Wurzeln ansetzen, ist mit dem Protein verbunden und die Zweige schwingen wie bei einem Baum im Wind hin und her. Man stelle sich dabei eher eine Weide mit flexiblen jungen Ästen vor, als eine knorrige Eiche.

Diese zuckersüße Vorstellung hat allerdings einen bitteren Beigeschmack, denn treten Anomalien in den Zuckerketten auf unseren Zellen auf, so als würde sich etwa die Farbe oder Struktur der Zuckerglasur verändern, ist das häufig ein Anzeichen für eine Erkrankung oder Infektion. So ist bekannt, dass zum Beispiel Tumorzellen bei Brust-, Darm- oder Hautkrebs auf ihrer Zelloberfläche stärker verzweigte Zuckermoleküle mit einem unterschiedlichen Aufbau beherbergen, als gesunde Körperzellen. Dieser Unterschied führt zu einer veränderten Interaktion mit dem Rest des Gewebes und begünstigt die Ausbreitung von Metastasen.

Veränderung in der Zuckerglasur werden durch die Zelle selbst hervorgerufen, denn sie stellt mithilfe spezieller Enzyme, die Monosaccharide miteinander verbinden oder voneinander trennen, im Zellinneren alle N-Glykane Schritt für Schritt selbst her. Tritt ein bestimmtes Enzym, z.B. die alpha-Mannosidase 2, durch Veränderungen des Zellstoffwechsels zu häufig in der Zelle auf, kommt es zu einer Änderung im Muster der Zuckerglasur, wie etwa bei Tumorzellen. Um das Gleichgewicht mit „gesunden“ N-Glykanstrukturen wiederherzustellen, gilt es, das problematische Enzym zu hemmen. Dies kann unter anderem mithilfe von Medikamenten erfolgen, die an das betreffende Enzym anbinden und die Bindung des eigentlichen N-Glykans verhindern. Das ist leichter gesagt als getan, denn, dass ein Medikament sich erfolgreich und dauerhaft an nur dieses eine Enzyme bindet, und somit keine Nebenwirkungen hervorruft, ist eine große Herausforderung. Man muss zunächst sowohl die Struktur des Enzyms kennen, als auch die Struktur des N-Glykans, wenn es gebunden ist, denn es gilt: Enzyme sind sehr selektiv und können nur spezifische 3D-Strukturen binden, etwa wie bei einem Schloss, in das nur der eine Schlüssel passt.

Und genau das ist die Herausforderung. Denn wie ein Baum im Wind, kann so ein N-Glykan nicht nur eine 3D-Struktur annehmen, sondern wechselt durch seine Flexibilität zwischen unterschiedlichen Formen hin und her. Diese strukturelle Variabilität lässt sich in Laborexperimenten kaum ermitteln, es gelingt nur ein unscharfes Bild, so als würde man einen Baum bei Sturm mit einer Belichtungsdauer von zwei Minuten fotografieren. Was es allerdings bräuchte, wäre eine Zeitrafferaufnahme über jede einzelne Schwingung eines jeden Ästchens.

Die Lösung dieses Problems sind Computersimulationen. Sie funktionieren wie ein Film, in dem jedes Atom explizit dargestellt wird und die Bewegungen der Zuckermoleküle über die Zeit beobachtet werden können. Dabei wird in bestimmten Zeitabständen immer wieder die Struktur des N-Glykans ermittelt, indem die Winkel zwischen den einzelnen Monosacchariden im Zuckerbaum berechnet werden. Oftmals ergeben diese Simulationen einen Stapel von über 10.000 Fotos, der sortiert werden muss. Dafür haben wir eine neue Methode entwickelt, um die unterschiedlichen Zuckerbaumstrukturen auf den einzelnen Fotos, basierend auf den gemessenen Winkeln, zu klassifizieren und gruppieren. Dies gab uns die Möglichkeit, quantitative Aussagen darüber treffen zu können, welche 3D-Strukturen ein N-Glykan namens M5G0 annimmt und welche Interaktionen es mit dem Enzym alpha-Mannosidase 2 eingeht. Dies sind wegweisende Erkenntnisse über die Signifikanz der Zuckerstrukturflexibilität in der Medizin und können in der Zukunft zur Entwicklung eines Medikamentes gegen Krebs beitragen.

Die Bewegungen von Zuckermolekülen auf mikroskopischer Ebene analysieren zu können, gibt Einblick in viele weitere Prozesse unseres Körpers. So kann die Zuckerglasur auf unseren Zellen ebenso durch eindringende Parasiten verändert werden und zu Erkrankungen wie der Schlafkrankheit, weit verbreitet auf dem afrikanischen Kontinent, führen. Einzellige Parasiten gelangen durch Bisse der Tsetsefliege in unseren Blutkreislauf. Sie beherbergen auf ihrer Oberfläche das Enzym Trans-Sialidase, welches sich an der Zuckerglasur unserer roten Blutkörperchen zu schaffen macht und bestimmte Monosaccharide abknabbert. Die resultierende Strukturveränderung führt letztendlich zu Symptomen wie Blutarmut und kann je nach Art der Infektion auch tödlich enden. Wir konnten zeigen, dass auch hier die Flexibilität der N-Glykane, vorkommend auf der Oberfläche der Trans-Sialidase, eine wichtige Rolle spielt, denn sie beeinflusst die Aktivität des Enzyms, die im direkten Zusammenhang mit der Infektiosität und den Symptomen der Schlafkrankheit steht. Eine Entfernung des regulierenden N-Glykans hat in Laborexperimenten zu einer reduzierten Aktivität der Trans-Sialidase geführt, ein Mechanismus der in der Bekämpfung der Schlafkrankheit wegweisend sein könnte.

Das Feld der Glykobiologie steht noch am Anfang und ist relativ unbekannt, doch macht vor allem die Entwicklung der „Bioorthogonalen Chemie“ durch Carolyn Bertozzi, Chemie Nobelpreisträgerin 2022, Hoffnung. Sie hat gezeigt, dass N-Glykane auf Zelloberflächen spezifisch markiert werden können und dadurch die Möglichkeit besteht, in Zukunft Medikamente gerichtet im Körper wirken zu lassen. Solange wir uns weiter damit beschäftigen, die Geheimnisse des Zuckers in unserem Körper zu entschlüsseln, können wir uns im Hinblick auf die nächste Tafel Schokolade immerhin darauf berufen, dass wir mit dem aufgenommenen Zucker unseren Zellen durchaus etwas Gutes tun. Wir müssen nur aufpassen, dass die Zuckerglasur eine gesunde Struktur beibehält. Also heißt es am Ende doch leider wieder: Alles nur in Maßen.