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Die Regelstudienzeit — Zeitgemäß und realistisch?

Seien wir mal ehrlich: Wie viele von euch rechnen damit, ihr Studium innerhalb der Regelstudienzeit abzuschließen? Und wie viele mussten sich für ihre Überschreitung dieser unverbindlichen Angabe auf der Uni-Informationsseite schon den ein oder anderen belustigten oder tadelnden Kommentar von Seiten der Verwandtschaft anhören?
Obwohl die Regelstudienzeit eigentlich angeben soll, wie viele Semester ein Studium in der Regel in Anspruch nimmt, erscheinen diese Angaben vielen Studis spätestens nach einigen Semestern an der Uni völlig unrealistisch. Zurecht?

Nur wenige der Bachelor- und Masterstudierenden erreichen ihren Abschluss innerhalb der Regelstudienzeit

Tatsächlich entspricht die angegebene Regelstudienzeit in den meisten Fällen keineswegs dem Durchschnitt, sondern beschreibt vielmehr einen Idealfall; so wurden im Jahr 2021 nur 20,4% der Bachelorabschlüsse innerhalb der jeweiligen Regelstudienzeit erreicht, der gleiche Prozentsatz findet sich auch bei den Masterabschlüssen.
Die Frankfurter Allgemeine schrieb bereits 2014 davon, dass „Bachelor-Studenten bummeln“ — aber ist eine solche Formulierung wirklich fair? Kann Trägheit oder Bequemlichkeit tatsächlich als Begründung für die Überschreitung der empfohlenen Studiendauer betrachtet werden, wenn das Phänomen doch offenbar so viele Studierende betrifft? Wohl kaum. Stattdessen sind die Gründe sehr vielfältig und in den meisten Fällen keinsfalls unerheblich.

Leider hält sich das Klischee, Studierende würden ausschweifende Lebensstile auf Kosten von Eltern und Staat pflegen, noch immer hartnäckig. Dabei sieht die Realität in der Regel völlig anders aus — im Jahr 2021 waren ganze 37,9% aller Studierenden armutsgefährdet und fast drei Viertel aller Studierenden jobbten 2020 neben dem Studium. Dass ein arbeitsaufwendiges Vollzeitstudium und ein Job (oder sogar zwei, in Anbetracht der stetig steigenden Mietpreise in den Städten) nur mit signifikanten Einbußen im Bereich der Freizeit miteinander zu vereinen sind und eine große psychische wie körperliche Belastung darstellen können, sollte wohl auf der Hand liegen. Darüber, was für Probleme eine solche Arbeitsbelastung mit sich bringen kann, haben wir kürzlich in diesem Artikel ausführlich erläutert.
Umso problematischer wird es also, wenn zu der hohen Arbeitslast und den potentiellen finanziellen Problemen bereits bestehende oder sogar dadurch entstandene psychische Erkrankungen oder langwierige/chronische körperliche Erkrankungen hinzukommen, Kinder zu versorgen oder Familienmitglieder auf Pflege angewiesen sind.
All diese Faktoren können dafür sorgen, dass die Regelstudienzeit kaum noch eingehalten werden kann.

Eine Aussage darüber, wie zielstrebig, motiviert oder gar begabt eine Person ist, kann anhand der benötigten Semesterzahl allein also keineswegs getroffen werden. Auch die Annahme, dass sich jemand, der die Regelstudienzeit überschreitet, weniger intensiv mit seinen Studieninhalten befasst, ist haltlos — tatsächlich kann sogar das genaue Gegenteil der Fall sein; dass der häufig hastige, mittlerweile stark verschulte Unialltag mit seiner hohen Frequenz an Prüfungsleistungen in einem Semester zum sogenannten Bulimielernen führt und somit eher einem Hürdenlauf ähnelt, als einem Marathon, ist schließlich längst kein Geheimnis mehr. In dem Wunsch, sich mehr Zeit dafür zu nehmen, sorgfältig und nachhaltig zu lernen, in verschiedene Fachgebiete und Berufsfelder zu schnuppern und in Ruhe die eigenen Stärken und Interessen zu erkunden, kann ich absolut nichts Schlechtes erkennen.
Vor einem existentiellen Problem stehen viele Studierende jedoch vor allem dann, wenn sie aufgrund einer Überschreitung der Regelstudienzeit ihren BAföG-Anspruch verlieren.

Vielleicht wäre es also langsam an der Zeit, das Prinzip der Regelstudienzeit zu überarbeiten, zum Beispiel die angegebene Semesterzahl der aktuellen, durchschnittlichen Studiendauer anzupassen oder sie umzubenennen in eine „Mindeststudienzeit“ und somit ihre Bedeutung zu verändern.
Dass der aktuelle Zustand vielen Studierenden Zukunftssorgen und Versagensängste bereitet und im schlimmsten Falle die Freude am Lernen nimmt, steht in jedem Fall fest und macht eine Reform dringend erforderlich.

2 Kommentare
  1. Monique
    Monique sagte:

    Danke Paulina für diesen reflektierten Artikel und deine Gedanken dazu!
    Die Regelstudienzeit ist m.M.n. auch längst kein guter Maßstab mehr. Sollte es eben nicht im Kern um das Fach gehen, statt nur alles schnell hintersich zu bringen? Oftmals bedarf es auch viel mehr Zeit um sich mit Themen gründlich auseinander zu setzen. In Kuwi wird schon lange versucht die Regelstudienzeit hoch zu setzen, leider ohne Erfolg.
    Schöner Artikel!😊

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