Male Flight – Die Geschlechterkluft in den Studiengängen
Wenn ich mich in meinen Seminaren umschaue, fällt eines sehr schnell auf: Der absolute Großteil der Teilnehmenden ist weiblich (gelesen). Männer gibt es nur wenige, in manchen Kursen fehlen sie ganz – nicht untypisch für meine Fachrichtungen, Gemanistik und Kommunikations- und Medienwissenschaften. Die geistes- und sozialwissenschaftlichen Studiengänge gelten ebenso wie Bio, Psychologie oder Humanwissenschaften als besonders frauendominiert. Doch das war nicht immer so: Denkt man an die Anfänge der Universitäten zurück, in denen es Männern allein vorbehalten war, zu studieren, gehörten all diese Disziplinen zu beliebten Fachrichtungen. Doch bald, nachdem Frauen ebenfalls das Recht hatten, zu studieren, und in diese Studiengänge vordrangen, schwanden gleichzeitig die Männer auf mysteriöse Weise. Wohin? Na, in die Bereiche, die wir heute als klassisch männlich betrachten, wo ihnen nicht unterstellt werden kann, unmännlich, oder – Gott bewahre! – schwul zu sein.
Ein geradezu putzig wirkendes Phänomen, welches sich nicht nur in den Seminarräumen bemerkbar macht, sondern sich durch sämtliche Aspekte unserer Gesellschaft zieht, von Hobbys und Interessen über Sportarten bis hin zu Berufen. Sobald Frauen anfangen, sich beispielsweise für eine bestimmte Fangemeinde zu interessieren und darin einen Platz einzunehmen, verliert jeweilige schnell ihre männlichen Fans. Ebenso gilt zum Beispiel Lesen als Hobby immer mehr als inhärent weiblich, zugleich wird es immer häufiger abgewertet, indem Frauen vorgeworfen wird, sie würden bloß unterkomplexe und wenig anspruchsvolle Literatur konsumieren. Und wusstet ihr, dass Cheerleading ursprünglich reine Männersache war? Erst im zweiten Weltkrieg übernahmen die Frauen diese Aufgabe und als der Krieg zu Ende war, kehrten die Männer nicht in die Disziplin zurück. Schließlich war sie in der Zwischenzeit zu weiblich geworden. In der Folge wurden die Cheerleaderinnen immer stärker sexualisiert und objektifiziert und ihr Können wird häufig herabgewürdigt.
Man merkt: Das Phänomen findet sich in nahezu jedem Lebensbereich. Und es hat auch einen Namen – Male Flight.
Dahinter steckt nichts anderes als ein – man kann es leider nicht anders sagen – misogyn und homophob geprägtes Gedankenbild, mit dem wir alle mehr oder weniger unbewusst aufwachsen. Alles, was Frauen interessiert, wird automatisch als grundsätzlich schlechter wahrgenommen, als weniger fordernd, weniger wichtig für die Gesellschaft. Es überrascht daher auch nicht, dass ausgerechnet Studiengänge wie Kunst-, Literatur- oder Sprachwissenschaften, dessen männliche Absolventen früher als besonders geistreich, gebildet und intellektuell galten, heute mit ihrer mittlerweile überwiegend weiblichen Studierendenschaft genau die Studiengänge sind, die gerne mal von Außenstehenden belächelt und als besonders einfach angesehen werden. Informatik, Mathematik, Physik oder Ingenieurswesen dagegen, die klassisch „männlichen“ Studiengänge, haben dagegen den Ruf, besonders anspruchsvoll zu sein und Absolventen werden häufig bestaunt, mit einem beeindruckten „also ich könnte das nicht!“ Für Geisteswissenschaftlerinnen ist dann eher ein Kommentar á la „der Abschluss wird einem doch hinterhergeworfen“ übrig und sogar innerhalb der Naturwissenschaften gilt Biologie als einziger frauendominierter Bereich als der zugleich einfachste.
Entsprechend wenig gewürdigt werden auch die Berufe, die Frauen nach ihrem Abschluss ergreifen. Es ist kein Geheimnis, dass Lehrerinnen wenig Respekt für eine extrem fordernde Arbeit erhalten und dass künstlerisch-kreative Berufe von vielen Menschen sowieso als überflüssig betrachtet werden.
Warum Frauen nicht einfach häufiger „klassisch männliche“ Studiengänge ergreifen? Während einige selbsternannte Experten dahinter auch heute noch irgendeine biologische Ursache vermuten, sind sich die tatsächlichen Wissenschaftler*innen einig, dass eine patriarchalisch geprägte Sozialisierung die Ursache hierfür ist. Viele Frauen fühlen sich unwohl in männerdominierten Räumen, trauen sich nicht zu, sich gegen Männer durchzusetzen und haben schon in der Kindheit weniger Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten in Bereichen wie Mathematik oder Technik – Bereiche, in denen gleichaltrige Jungs häufig besonders gefördert und bestärkt werden.
Dass Frauen sehr wohl genauso gut dazu in der Lage sind, in diesen Richtungen erfolgreich zu sein, dass es bloß Vorbilder und Repräsentation braucht, die zeigen, dass es möglich ist, zeigt der sogenannte Scully-Effekt. Darunter wird die Welle von Frauen verstanden, die sich, inspiriert durch die moderne, unabhängige Forensikerin Dana Scully, Hauptfigur der Kultserie Akte X, dazu entschieden, eine Karriere in einem MINT-Bereich zu ergreifen.
Für wahre Gleichberechtigung im akademischen, und damit auch verstärkt im beruflichen und alltäglichen Leben, braucht es also in erster Linie zwei Veränderungen:
Zum Ersten: Wir alle müssen unsere erlernten Geschlechterstereotype immer wieder bewusst hinterfragen und uns vor Augen führen, dass das Feminine nicht minderwertig ist, dass Berufe, die als klischeehaft „weiblich“ betrachtet werden, nicht weniger anspruchsvoll oder wertvoll sind. Und Männer müssen erkennen, dass sie sich daher auch nicht direkt panikartig aus jedem Bereich zurückziehen müssen, sobald Frauen anfangen, sich ebenfalls für diesen zu interessieren. Nein, liebe Heteromänner – Liebesromane zu lesen, Ballett zu tanzen, Fan einer Band mit größtenteils weiblichem Publikum zu sein – all das macht euch nicht weniger männlich oder weniger hetero. Und es wäre auch nicht das Ende der Welt, weiblich oder queer zu sein, keine Sorge.
Zum Zweiten: Es braucht Repräsentation in den Medien, ausgeglichene Diversität in realen Führungspositionen und eine diskriminierungs- und klischeefreie Erziehung und Förderung von Kindern und Jugendlichen durch Eltern, Erzieher*innen und Lehrer*innen.
Irgendwann könnten die Seminarräume dann in allen Studiengängen mit gleich vielen Frauen wie Männern gefüllt sein und wir wären der Gleichstellung der Geschlechter einen guten Schritt nähergekommen.
Quellen:
https://www.uni-erfurt.de/forschung/aktuelles/forschungsblog-wortmelder/alles-bloedsinn-teil-3
https://www.zeit.de/gesellschaft/2022-03/internationale-pisa-studie-talent-geschlecht-schulleistung
https://www.zdf.de/video/reportagen/usa-extrem-leben-im-land-der-gegensaetze-100/usa-extrem-cheerleader-zwischen-traum-und-albtraum-100









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