Im Rahmen des Studiums zu Reisen und neue Länder kennenzulernen ist seit nunmehr 2 Jahren wegen der Corona-Pandemie alles andere als selbstverständlich. Umso glücklicher bin ich deshalb 2021 die Möglichkeit gehabt zu haben in eine der abgelegensten und extremsten Regionen der Welt zu fliegen. Für beinahe 6 Monate habe ich in der arktischen „Metropole“ Longyearbyen auf Svalbard gelebt und an dem University Centre in Svalbard (UNIS) gearbeitet. Der Ort Longyearbyen wurde im frühen zwanzigsten Jahrhundert als Kohlearbeiterstadt durch den amerikanischen Unternehmer John Munro Longyear gegründet und ist heute die nördlichste Siedlung mit mehr als 1000 permanenten Einwohnern. Obwohl heute immer noch Kohle für das Kraftwerk im Ort abgebaut wird, ist mittlerweile vor allem der Tourismus und die Wissenschaft zur neuen „Goldader“ Longyearbyens geworden. Das wirkte zunächst etwas skurril und gegensätzlich, in einem durch Kohlekraft betriebenen Ort die Folgen des Klimawandels auf das selbige Umfeld zu studieren. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass die Arktis zu den weltweit am stärksten durch den Klimawandel betroffenen Regionen gehört (Pörtner, H. O., Roberts, D. C., Masson-Delmotte, V., Zhai, P., Tignor, M., Poloczanska, E., & Weyer, N. M. (2019). The ocean and cryosphere in a changing climate: A Special Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change.).
Nach monatelangen Vorbereitungen, einem Haufen Papierarbeit und Abreisestress startete die Reise zum „Ende der Welt“ im Juli 2021. Als ich dann nach 10 Tagen Quarantäne in Oslo endlich aus dem Flugzeug stieg und meine Füße auf den Permafrost setzte, hatte ich noch keine Ahnung von all den einzigartigen Erfahrungen, die ich sammeln und Menschen, die ich kennenlernen würde. Mir bleibt in Erinnerung, wie mich als aller erstes die ewig scheinende Mitternachtssonne und verblüffende Menge an Leben (Vögel, Rentiere, Wale, etc.) in dieser arktischen Wüste beeindruckte. Zwischen den deutlich vom Wetter vernarbten und erodierten Bergen, strahlte auf dem Weg vom Flughafen zum Studentenwohnheim das eiskalte Wasser des Fjords neben der satten und dicht von Gänsen besetzten Tundra. Auch die berühmte Svalbard Global Seed Vault konnte ich durch die verstaubten Fenster des Airport Shuttles erspähen. Abgesehen von einigen schneebedeckten Bergspitzen waren die Zeichen des Winters bereits überwiegend weggewischt und mit molligen 5 bis 10 °C war es nicht so kalt wie erwartet. Der Sommer hatte bereits begonnen und die ersten Gräser und Blumen fingen schon bald an zu blühen.
Der Bus brachte mich direkt zur Universität, welche sich durch ein modernes Design in die Silhouette der Landschaft schmiegte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich der Wohnblock für die Studenten. Die Studentenwohnungen waren überraschend geräumig allerdings spartanisch eingerichtet. Man teilte sich auf einem Stockwerk mit circa 20 anderen Master-, Bachelor- und PhD Studenten eine große Küche mit mehreren Kochplatten und einer gemütlichen Sitzecke. Da Covid-19 zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf Svalbard nachgewiesen wurde, gab es keine klassischen Kontaktbeschränkungen wie auf dem deutschen Festland. Das bedeutet, dass man sich abends zusammen nach der Arbeit für Filme-, Spielabende oder zum gemeinsamen Kochen mit Studenten aus fast allen Regionen der Welt treffen konnte. Das war nach dem langen Winter in Isolation eine besonders willkommene Veränderung.
Nachdem ich mich einige Wochen eingelebt hatte, entdeckte ich den Ort und die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung mit jedem Tag etwas mehr. Es gab einen modernen Supermarkt, einige Cafés, Restaurants, Bars, ein Kino sowie ein großes Sportzentrum wo unter anderem geklettert und geschwommen werden kann. So konnte man schnell vergessen, dass man sich eigentlich in einem kleinen Dorf im arktischen Nirgendwo befand. Andere regelmäßige Aktivitäten waren fast tägliche, ausgedehnte Wanderungen in den Tälern, Bergen und Gletschern in der Umgebung sowie Bootsausflüge in andere Fjorde oder die alte verlassene russische Kohlesiedlung „Pyramiden“ in Billefjorden. Hier hatte ich für meine Arbeit auch die meiste Zeit zusammen mit meinen Kollegen verbracht, um Daten über das Vorkommen von Kelp in Gletscher- und Flussnähe zu sammeln.
Um sich außerhalb des Ortes frei bewegen zu können, musste man allerdings zuerst einen Sicherheits- und Waffenkurs ablegen. Als Mensch ist man hier oben nämlich zu Gast im natürlichen Zuhause des größten Landraubtieres, dem Eisbären. Diese sind auf Svalbard sogar zahlenmäßig stärker vertreten und können hier potentiell überall angetroffen werden. Leider kam es in der Vergangenheit auch einige Male zu tödlichen Vorfällen zwischen Mensch und Bär. Um gefährliche Begegnungen zu vermeiden, ist es demnach wichtig besondere Verhaltensregeln und Notfallszenarien zu trainieren. Das heißt ganz einfach formuliert, dass man die „safe zone“ der Stadt nicht ohne Signalpistole und Gewehr verlassen darf und am besten auch nicht ohne Begleiter und Satellitentelefon. Ich bin sehr froh sagen zu können, dass ich in meinen 6 Monaten nie in eine solche Situation gekommen bin. Die Eisbären die ich sehen durfte hatte ich stets aus sicherer Entfernung und meist während der Arbeit vom Boot aus beobachtet.
Mit dem Voranschreiten der Jahreszeiten konnte man einen schnellen Wechsel beobachten. Die Tage wurden sehr schnell kälter und nach dem ersten Sonnenuntergang des Jahres auch kürzer und dunkler. Die flach am Horizont wandernde Sonne sorgte für spektakuläre Farbverläufe am Himmel und maskierte die drastischen Umweltveränderungen mit einer sanften, leicht melancholischen Stimmung. Die meisten Vögel zogen innerhalb weniger Wochen komplett ab und nahmen somit das chaotische schon fast normal gewordene Gewimmel aus der Landschaft mit sich in den Süden.
Das ausgewogene balancieren von Arbeit und Freizeit konnte bei den vielen möglichen Aktivitäten und langen Arbeitstagen schon mal zur Herausforderung werden. Durch das unablässige Scheinen der Sommersonne, verschmolzen die Tage scheinbar ineinander und man verlor schnell das Gefühl für Zeit. Mit der Dunkelheit kehrte allerdings wieder etwas Ruhe ein und somit mehr Zeit für die Arbeit an der Universität, die im Wesentlichen aus der Auswertung der im Sommer gesammelten Daten in meinem Büro bestand.
Ein Highlight der „dark season“ war natürlich auch die aurora borealis – besser bekannt als Polar- oder Nordlichter. Das farbig-tanzende Leuchten das erste mal am Sternenhimmel zu sehen war unwirklich und wunderschön. Jedoch bedeutete das auch, dass meine Zeit im Norden langsam zu einem Ende kommen würde, was mich sowohl mit Freude als auch Wehmut erfüllte. Freude meine Familie und Freunde in Deutschland wieder zu sehen und Wehmut diesen Ort und die Menschen hinter mir zu lassen. Immerhin habe ich dort für ein halbes Jahr gelebt und bin gewissermaßen ein Teil der Landschaft und Gesellschaft geworden. Nicht nur als Student und zukünftiger Wissenschaftler sondern vor allem als Mensch habe ich mich hier spürbar weiterentwickelt.
Zum Schluss meiner Reise in die Arktis kann ich sagen, dass ich in Longyearbyen einen Ort der extremen Gegensätze entdeckt habe. Polarnacht und Mitternachtssonne, Isolation (geografisch) und Gesellschaft (sozial), Wandel und Beständigkeit sowie Leben unter lebensfeindlichen Bedingungen. All diese Gegensätze machten jeden Moment auf ihre eigene Art und Weise unvergesslich. Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass ich ganz besonders dankbar bin für all die geknüpften Kontakte und gemeinsamen Momente und Abenteuer. Ohne meine Kollegen auf der Arbeit und neu gewonnenen Freundschaften wären diese Momente und der Aufenthalt auf Svalbard nicht annähernd so bedeutend gewesen. Um es mit den Worten von Christopher McCandless aka “Alexander Supertramp“ zusammenzufassen:
„Happiness is only real, when shared.“
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