Interview mit Dieter Senghaas

Für Prof. Dieter Senghaas gelingt Entwicklung nach einem Schema. Uneingeschränkter Freihandel gehört nicht zum Erfolgsrezept. Stattdessen braucht es eine selektive Abkopplung. Doch die tauchte in den Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschafts-ordnung (NIEO) in den 1970er Jahren nicht auf. Wie Entwicklung im globalen Süden trotz einem liberalen Weltmarkt gelingen kann.

 

Quelle: Privat

„Es gibt keine Neue Weltwirtschaftsordnung durch Freihandel“

Warum Entwicklung immer dasselbe Problem hat. Ein Interview.

 

von Lea Scholz

Lea Scholz: Herr Senghaas, Sie waren einer der ersten in Deutschland, der sich mit der Dependenztheorie beschäftigte. Mit Ihrer Arbeit leisteten Sie einen großen Beitrag zur deutschen Entwicklungsforschung. Was verstehen Sie unter dem Begriff der Entwicklung?
Dieter Senghaas: Ich beziehe mich dabei auf die Perspektive der Entwicklungsforschung: Es gibt das Phänomen, dass sich manche Länder aus einer traditionalen in eine moderne Gesellschaft verändert haben. In der Entwicklungsforschung war dann die Frage, wie diese Entwicklung zustande gekommen ist.

Und wie erklären Sie diese Entwicklung hin zu industrialisierten Gesellschaften?
In traditionalen Gesellschaften sind 80 bis 90 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Als dieser Agrarsektor nun produktiver wurde, konnte ein Teil der Bevölkerung in die Städte abwandern. Es kam zu dem Prozess der Verstädterung und gleichzeitig nahm die Alphabetisierung zu. Darüber hinaus hat sich der handwerkliche Bereich in den Städten in verschiedene industrielle Betriebe ausdifferenziert, die unterschiedliche Güter produzierten – beispielsweise Kleidung. Weil man immer an Produktivitätswachstum interessiert war, entstand natürlich auch das Interesse an neuen Maschinen und Technologien.

 

„DURCH DIE ENTWICKLUNG VON MODERNEN GESELLSCHAFTEN KAM ES ZU EINER KONFRONTATION MIT DEN ‚NICHT-ENTWICKELTEN‘ GESELLSCHAFTEN.“

 

Diese Prozesse prägten dann die neue industrialisierte Gesellschaft im städtischen Milieu?
Genau. Diese Entwicklung fand zunächst einmal in West-Europa statt – also in England und in Skandinavien, dann in Teilen des damaligen Deutschlands. Infolgedessen breitete sich diese Botschaft der Entwicklung allmählich in übrige Teile der Welt aus, die sich nicht alle und auch eigentlich nicht vergleichbar entwickelt haben.
So kam es zu dieser Konfrontation: Auf der einen Seite spricht man dann von „entwickelten Gesellschaften“, auf der anderen Seite von traditionalen „nicht-entwickelten Gesellschaften“ – den Peripherien.

 

Neben den Peripherien, also den Gebieten abseits der großen Industriezentren, beschreiben Sie in diesem Zusammenhang noch die Begriffe der Metropolen, Submetropolen und Subperipherien.
Ja, diese Typologie ergibt sich, wenn man sich die Länder der Welt anschaut: Es gibt die nordwestlichen Länder als Metropolen. Dann gibt es Gesellschaften, die sich zum Teil in diese Richtung entwickelt haben – Submetropolen, wie beispielsweise Brasilien. Neben den eben erläuterten Peripherien gibt es noch die marginalisierteren Subperipherien.

 

„DIE FORDERUNGEN DER NEUEN WELTWIRTSCHAFTSORDNUNG MACHTEN KEINEN SINN“

 

Genau diese asymmetrische Beziehung sollten die in den 1970ern ausgearbeiteten Ansätze der NIEO ausgleichen. Diese sollten die Benachteiligung der Entwicklungsländer in der Weltwirtschaft zu beseitigen. Was ist Ihre Meinung zu NIEO und ihren Ansätzen?
Also die Forderung danach war verständlich, weil man davon ausgegangen ist, dass alles gut läuft, wenn sich alle Staaten gegenüber dem Weltmarkt öffnen. Das war die Orientierung am Freihandel. Und ich habe das schon in den späten 1970er Jahren kritisiert, weil mir völlig klar war, dass der Verdrängungswettbewerb noch stärker wird, wenn alle sich gegenüber dem Weltmarkt öffnen. Diese Asymmetrie zwischen den Metropolen und Peripherien zu intensivieren, machte schon damals keinen Sinn.

In Ihrem Buch „Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik“ (1977) fordern Sie stattdessen eine Dissoziation. Was meinen Sie damit?
Meine These war damals, dass es eine selektive Abkopplung braucht. Für eine periphere Gesellschaft ist der entscheidende Punkt: Wie verhindert man den Verdrängungswettbewerb und wie integriert man sich in die Weltwirtschaft, so dass man mit höher entwickelten Gesellschaften einen Austausch hat, der einen in der Entwicklung fördert. Und das funktioniert eben bei asymmetrischen Situationen nicht durch Freihandel.

 

„NUR DURCH SELEKTIVE ABKOPPLUNG KÖNNEN SICH PERIPHERE GESELLSCHAFTEN SO IN DEN WELTMARKT INTEGRIEREN, DASS ES DIE ENTWICKLUNG FÖRDERT.“

 

Was heißt das für die inneren Strukturen der Peripherien konkret?
In den Peripherien muss das geschehen, was Friedrich List bereits im 19. Jahrhundert „die Produktion produktiver Kräfte“ genannt hat. Das heißt, dass Infrastruktur produziert werden muss, die es nicht gibt. Man muss Ausbildung produzieren, und zwar in der Breite – von ganz einfacher zu hoch spezialisierter Ausbildung. Von staatlicher Seite müssen zudem jene Bereiche spezifisch gefördert werden, die sich entwickeln müssen, was in diesen Bereichen aus konkurrenz-kapitalistischen Gründen ohne diese Förderung nicht möglich wäre.

Und wenn diese Voraussetzungen inländisch erst einmal geschaffen sind, wie sollen sich periphere Gesellschaften gegenüber dem Weltmarkt verhalten – vorausgesetzt, sie verfolgen Ihre Strategie der selektiven Abkopplung?
Periphere Gesellschaften müssen vor allem einen Teil davon, was sie selbst schon produzieren können, im Ausland absetzen. Gleichzeitig sollte ein Import nur für die Güter stattfinden, die für die „Produktion produktiver Kräfte“ förderlich sind. Das umfasst beispielsweise alle Güter, die es braucht, um eine gute Infrastruktur zu schaffen oder die notwendige Technologie für die eigene Verarbeitung von Produkten. Sodass eine Gesellschaft, die zum Beispiel Kaffee anbaut, diesen auch zu dem fertigen Produkt verarbeiten und bei ausreichender Produktionskraft auch exportieren kann.

„DAS PROBLEM IST DASSELBE WIE IMMER.“

 

Also würden Sie Entwicklungsländern noch immer raten, eine selektive Abkopplung vorzunehmen?
Ja, selbstverständlich. Das Problem ist dasselbe wie immer. In allen Fällen lautet die Frage: Wie viele Sachen können wir selbst produzieren, die wir bisher importiert haben, um unsere eigene Ökonomie zu inszenieren und zu diversifizieren? Dann haben Sie genau das Problem, das Friedrich List bezogen auf den europäischen Kontinent damals thematisierte. Sobald es diese Asymmetrie und die Möglichkeit des Verdrängungswettbewerbs von den Metropolen in die Peripherien gibt, ist das die entscheidende Problematik, die unsere Welt bis heute prägt.

Aber die Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung kamen doch maßgeblich von Vertretern der sogenannten Dritten Welt – also von (Sub-)Peripherien.
Ja, die Eliten aus der Dritten Welt haben das natürlich gefordert, weil sie als Intermediäre vom globalen Freihandel profitieren. Aber für die Gesellschaft ist das nicht gut. In diesem Zusammenhang spricht man in den Sozialwissenschaften von „struktureller Heterogenität“. Wenn – wie beispielsweise im Fall von Brasilien – multinationale Konzerne Güter für die herrschende Elite produzieren, wird damit die lokale Industrie kleingehalten. Dies hat zur Folge, dass die Gesellschaft marginalisiert wird. Aníbal Quijano nennt diesen Teil der Weltbevölkerung den „marginalen Pol“. Das Problem beobachten wir heute immer noch so! Interessant ist, wie sich dann China oder Südkorea aus dieser Falle heraus entwickelt haben.

 

Also jene ostasiatische Staaten, die in den letzten Jahrzehnten enorme ökonomische Entwicklungserfolge erzielen konnten, während sie in den Weltmarkt integriert waren. Wie erklären Sie diese Entwicklung?
Mit der selektiven Abkopplung: Sie haben Produkte exportiert und sich gleichzeitig abgekoppelt – sich also selektiv in den Weltmarkt integriert. Beispielsweise gelang es China eine produktive Textilindustrie zu hochzuziehen, die auf dem Weltmarkt sogar die US-amerikanische Textilproduktion verdrängte. China oder auch Südkorea haben eben genau das gemacht, was Friedrich List die „Produktion produktiver Kräfte“ genannt hat. Dasselbe zeigt sich aber auch, wenn man sich die Entwicklung von europäischen Staaten vor 150 Jahren anschaut – beispielsweise indem man Dänemark mit Rumänien vergleicht, wie ich es in meinem Buch „Von Europa lernen“ tat.

„DAS IST EIN MÜHSAMER UND NICHT ZIELGERICHTET ERFOLGREICHER PROZESS. ABER ER IST MACHBAR.“

 

Und wie können Metropolen zur Entwicklung von Peripherien beitragen?
Die Metropolen müssen zunächst einmal eine Brücke schlagen zu einer Elite, deren Ziel tatsächlich die Entwicklung vor Ort ist. Auch die Zivilgesellschaft, die sich dort entwickeln muss, können Staaten wie Deutschland fördern. Diese neue zivilgesellschaftliche Organisation bekommt dann ihre eigene Identität, ihre eigenen Interessen und kämpft gegen die jeweilige Elite mit ihren eigenen bisher herrschenden Interessen, die alles verhindern, was zu einer Diversifizierung führen könnte. Metropolen können beispielsweise auch in Humankapital – wie in ein funktionierendes Schulsystem – investieren. Das ist natürlich ein mühsamer Prozess, der, obgleich zielgerichtet, nicht immer erfolgreich ist. Aber er ist machbar.

 

Und warum verfolgt Deutschland diese Strategie in der Entwicklungspolitik nicht?
Weil Deutschland auf die alten Konzepte des Freihandels fixiert ist. Diese Doktrin des Freihandels liegt der Entwicklungspolitik zugrunde. Bei einer konkreten Analyse aller Länder ergibt sich allerdings die Typologie, die ich geschildert habe. Nur, wenn diese globale Schichtungsstruktur erfasst wird, kann erkannt werden, dass Freihandel nicht der Schlüssel zur Entwicklung ist. Und diese konkrete Erfahrung wurde bei der Forderung nicht beachtet – weder bei den südlichen Staaten und ihren Vertretern noch hierzulande.

Dieter Senghaas

Emeritierter Professor (Uni Bremen)

Prof. Dr. Dieter Senghaas ist deutscher Sozialwissenschaftler und Friedensforscher. In den 1970er Jahren war er einer der ersten, der sich in Europa mit den lateinamerikanischen Dependenztheorien beschäftigte. Von 1978 bis 2005 war er Professor an der Universität Bremen.

Im Zusammenhang dieser asymmetrischen globalen Strukturen prägte Dieter Senghaas den Begriff der „strukturellen Abhängigkeit“. Von dieser Form der Abhängigkeit spricht Senghaas bei der Übertragung des Kapitalismus, der von den Metropolen dominiert wird, auf die Gesellschaften der Peripherien. Als Bedingung dessen formuliert Senghaas die Einordnung der Peripherien in den Weltmarkt, der durch Freihandel geprägt ist. Dies führte zu einer „Soziale[n] Marginalisierung von [peripheren] Ländern, Produktionszweigen und gesellschaftlichen Gruppierungen“ (Senghaas 2019).

Senghaas, Dieter (2019): Zwiespältige Globalisierung: aufwärts – abwärts – abgehängt. In: Soziologie heute, 4/19, S. 17-18