Entstehung und Kontext

Als der globale Süden eine neue Weltwirtschaftsordnung forderte: Die Entstehung der NIEO

 

von Jasper Holl

Gibt es Ideen für eine andere, vielleicht gerechtere Weltwirtschaftsordnung? Dass die heutige Weltwirtschaftsordnung zu schier unauflösbaren globalen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten geführt hat, ist den meisten klar. Die globalen Vermögensverhältnisse haben sich seit der Kolonialzeit nicht grundlegend verändert. Der industrialisierte globale Norden ist die Heimat der weltweit größten Unternehmen und die Wirtschaften des Nordens sind die, die die Weltwirtschaft dominieren. Die Wirtschaften des globalen Südens hingegen sind dem übermächtigen Norden ausgesetzt. Dies spiegelt sich auch in der Bevölkerung wider. So herrscht im Großteil des globalen Südens, beispielsweise in Algerien, Jamaika und Tansania, Armut: oft reicht das Geld nicht für die Erfüllung der alltäglichen Bedürfnisse wie Ernährung, Bildung und Medizin.

Die ungerechte Verteilung des Wohlstands wurzelt in einem globalen Wirtschaftssystem, das der globale Norden nach seinen Bedürfnissen geschaffen hat: ein System, das auf neo-kolonialen Strukturen beruht und sowohl die Menschen als auch die natürlichen Ressourcen systematisch ausbeutet. Die Ausbeutung konstituierte damals und konstituiert auch in der Gegenwart den Reichtum des globalen Nordens. Aufgrund der Folgen des Kolonialismus, beziehungsweise der noch gegenwärtigen neo-kolonialen Strukturen, verarbeitet der globale Süden beispielsweise noch heute selten die im eigenen Land abgebauten Rohstoffe wie Kakao, Kaffee, Lithium oder Kobalt selbst, sondern agiert vor allem als Rohstofflieferant für den globalen Norden (Dohmen 2021). Dieses Phänomen resultiert aus dem Kolonialismus, denn die Wirtschaften der kolonialisierten Staaten waren „nach außen“ orientiert, ausgerichtet nach den Bedürfnissen der ehemaligen Kolonialmächte, nicht aber nach den Bedürfnissen der eigenen Bevölkerung. Dies hatte zur Konsequenz, dass die neu-unabhängigen Staaten gezwungen waren, viele grundlegende Waren zu importieren und keine eigene Industrie aufbauen konnten (Getachew 2019: 152). Kritik zu diesen neo-kolonialen Wirtschaftsstrukturen wuchs ab den 1950er Jahren. Die Initiative für eine neue Weltwirtschaftsordnung, die „New International Economic Order“ (NIEO), war der Höhepunkt dieses kritischen Dialogs. Unter welchen Umständen entstand diese Initiative und welche Persönlichkeiten waren federführend?

NIEO Deklaration und Prebisch

Im Jahr 1974, vor fast 50 Jahren, wurde auf der sechsten Sondertagung der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) die Resolution zur Etablierung der NIEO verfasst:

We, the Members of the United Nations (…), Solemnly proclaim our united determination to work urgently for the Establishment of a New International Economic Order based on equity, sovereign equality, interdependence, common interest and cooperation among all States, irrespective of their economic and social systems which shall correct inequalities and redress existing injustices, make it possible to eliminate the widening gap between the developed and the developing countries and ensure steadily accelerating economic and social development and peace and justice for present and future generations (…) ” (United Nations 1974).

Ziel der Initiative war, transnationale wirtschaftliche Beziehungen zu reformieren. Sie fundierte auf der Prämisse, dass die bestehenden globalen ökonomischen Verhältnisse durch den Kolonialismus und Imperialismus maßgeblich geprägt sind und der globale Norden in Handelsbeziehungen mehr profitiert als der globale Süden (Getachew 2019: 145, 159). In diesem Sinne war die NIEO ein Versuch, die Welt nach dem Ende des formalen Kolonialismus gerechter zu gestalten. Einseitige Dependenzen des Südens zum Norden die verhinderten, dass post-koloniale Staaten sich tatsächlich selbst regieren. Sie sollten durch beidseitige Interdependenzen ersetzt und eine faire Verteilung globaler Handelsprofite geschaffen werden, wodurch eine Weltordnung tatsächlich souveräner Staaten entstehen sollte.

Ursprünglich geht der Begriff der „New International Economic World Order“ auf den argentinischen Ökonomen Raúl Prebisch zurück, der auch die meisten Forderungen der NIEO formulierte (Arndt 1982: 431; Getachew 2015: 161). Bekannt ist Prebisch unter anderem für die Prebisch-Singer-These.  Inspiriert von einer Arbeit des Ökonomen Hans Wolfgang Singer verfasste Prebisch eine Abhandlung, in welcher er zwischen Primärgütern (wenig verarbeitete Rohstoffe und Nahrungsmittel) und Sekundärgüter (Maschinen, verarbeitete Produkte) unterscheidet. Die These besagt, dass sich die „terms of trade“, das Austauschverhältnis von Exporten und Importen, bei Ländern, die vor allem Primärgüter exportieren und Industriegüter importieren langfristig verschlechtert, wohingegen sich das Austauschverhältnis von Industriestaaten langfristig verbessert. In anderen Worten führt dies dazu, dass Entwicklungsländer beständig mehr Waren exportieren müssen, um die gleiche Menge an Importen aus den Industrieländern zu erhalten (Möller 2020: 163-164).

Prebisch war der erste Generaldirektor der 1964 gegründeten Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (auf Englisch: UNCTAD). Die UNCTAD ist ein eigenständiges Organ der UN-Generalversammlung, dass die Position und Entwicklungsmöglichkeiten des globalen Südens im Welthandel verbessern sollte (Dohmen 2022). Während der UNCTAD alle UN-Mitgliedsländer angehören, sind in der Gruppe der 77 (G77) vorwiegend Länder aus dem globalen Süden vertreten. Die G77 hat sich im Verlauf der ersten UNCATD- Konferenz 1964 gegründet und sieht sich als Sprachrohr des globalen Südens innerhalb der UN. Unter der Führung von Prebisch fungierte die UNCTAD als Hauptakteur zur Formulierung der NIEO-Deklaration 1974 (Arndt 1982: 431; Gilman 2015: 3).

Neben diesen Formaten, in denen sich post-koloniale Staaten zusammentun, hat sich zudem in den 1960ern Jahren die Bewegung der Blockfreien Staaten gebildet: Grundlegend wollten sich dessen Mitgliedsländer, unter anderem Jugoslawien, Ägypten, und Indien, im Ost-West-Konflikt keiner der beiden Seiten anschließen. Darüber hinaus bezeichnete sich die Bewegung als antiimperialistisch, befürwortete die NIEO und hat Wurzeln in der ersten asiatisch-afrikanischen Konferenz, der Bandung Konferenz von 1955 (Mattes 2012:1-2).

Keine Erfolge in der Loslösung von Dependenzen?

Die Regierungschef*innen zahlreicher Länder des globalen Südens, wie Tansanias Präsident Julius Nyerere, Jamaikas Premierminister Michael Manley, oder Algeriens Präsident Houari Boumedienne, fanden sich in den 1970ern in ähnlichen Situationen wieder: Nach Jahrzehnten und teilweise Jahrhunderten kolonialer Ausbeutung hatten die Gesellschaften in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg nach und nach ihre formale Unabhängigkeit erlangt. Sie befanden sich in prekären wirtschaftlichen Situationen und standen vor der Aufgabe, ihr jeweiliges Land in einer von den Industrienationen dominierten globalen Wirtschaft weiterzuentwickeln (Getachew 2019: 142,144).

Ein weitverbreitetes politisch-ökonomisches Modell vieler post-kolonialen Staaten, darunter beispielsweise Ghana, war das „development model“, das Entwicklungsmodel. Dieses beruht im Wesentlichen auf den Idee des Ökonomen William Arthur Lewis (Getachew 2019: 146). In diesem Modell wird dem Staat eine zentrale Rolle zugewiesen, der stark in die Wirtschaft eingreifen sollte (Getachew 2019: 143). Nach Lewis muss einer Industrialisierung eine landwirtschaftliche Revolution voraus gehen. Eine gleichzeitige Erhöhung der Nahrungsproduktion führt zu einem Nahrungsmittelüberschuss, der einem größeren Teil der Gesellschaft ermöglicht, im industriellen Sektor, statt in der Landwirtschaft, zu arbeiten (Getachew 2019: 146-147). Diese landwirtschaftliche Revolution soll von Verbesserungen der Infrastruktur und Bildung begleitet werden, wodurch die Industrialisierung beginnen kann. Für Lewis ist die Entwicklung eines Staates ein universeller, reproduzierbarer Prozess, der durch die landwirtschaftliche Revolution beginnt (Getachew 2019: 147-148).

Die ökonomische Lage der Länder des globalen Südens, die das „development model“ verfolgten, war jedoch äußerst prekär. Die Austauschverhältnisse verschlechterten sich in den folgenden Jahren durch einen Preisverfall der Rohstoffe und die steigenden Ölpreise, ausgelöst von der Ölkrise von 1973, verschärfte

die Situation. Das Ziel, sich von bestehenden neo-kolonialen Dependenzen zu lösen und mithilfe nationaler Industrien zur Rohstoffverarbeitung eine autonome Wirtschaft mit einem eigenen Markt zu schaffen, wurde nicht erreicht. So verstärkte sich die Dependenz der jungen Staaten zum Norden und dies führte zu einem Teufelskreis der Verschuldung. Denn die Staaten sahen sich gezwungen, Gelder aus dem Norden anzunehmen, um Haushaltsengpässe zu vermeiden. Doch um diese Schulden zu begleichen, mussten sie zusätzlich finanzielle Hilfen und Kredite annehmen, was die Abhängigkeit weiter verstärkte (Getachew 2019: 143-144).

Vor dem Hintergrund des ernüchternden Ergebnisses des „development model“ wurden neue Konzepte der „Entwicklung“ diskutiert. So wurde zunächst die Idee eines universalen Entwicklungsprozesses angezweifelt, da diese die Kolonisierung nicht in den Fokus setzt (Getachew 2019: 151). Michael Manley und Julius Nyerere, die damaligen Regierungschefs von Jamaika und Tansania, argumentierten, dass jedes Konzept von Entwicklung den durch jahrhundertelange Kolonisierung gewachsen Strukturen Rechnung tragen muss (Getachew 2019: 152). Ein struktureller Effekt der Kolonialisierung ist beispielsweise, dass die Wirtschaft der post-kolonialen Staaten „nach außen orientiert“ ist. Im Zuge der Diskussionen für eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung entstand ausgehend aus einer antikolonialen Perspektive die Initiative der NIEO, die auch diese Problematik anstrebt aufzulösen.

Aufbruch zementierter Strukturen – NIEO realistisch?

Die Öl-Krise von 1973 war ein Wendepunkt der Nord-Süd-Beziehungen (Corea 1977: 178, Gilman 2015: 3). Die durch das Ölembargo der OPEC- Staaten (Organisation of Petroleum Exporting Countries) entstandene Krise führte den Entwicklungsländern vor Augen, dass sie sich in sogenannten Produzentenkartellen zusammenschließen und damit fundamental Einfluss auf die Weltpolitik nehmen können. Zu den OPEC- Gründungsmitglieder gehörten 1973 Irak, Iran, Kuwait, Saudi-Arabien und Venezuela. Zu dem Zeitpunkt waren diese Länder auch dem globalen Süden zuzuordnen, da auch sie kolonisiert worden waren sind und sich aufgrund von neo-kolonialen Abhängigkeiten nicht entwickeln konnten. Die Organisation wurde mit dem Ziel gegründet, im Kollektiv hohe Einnahmen durch Öl-Exporte zu generieren und Einfluss auf den Weltmarkt zu nehmen. Die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen des Ölembargos auf diejenigen Staaten im globalen Süden, die auf Öl-Importe angewiesen waren, war immens. Trotzdem sahen viele Länder im globalen Süden in der OPEC einen Hoffnungsschimmer: Zum ersten Mal gelang es einer Allianz von Staaten aus dem Süden, höhere Preise für ihre Rohstoffe zu erzwingen (Gilman 2015: 3-4, Corea 1977: 178). Scheinbar ganz im Sinne der Eigenständigkeit und Selbstbestimmung hatten die OPEC-Länder sich kollektiv gegen die ökonomischen Interessen des globalen Nordens durchgesetzt. Zusätzlich kam es 1973 zur Auflösung des Bretton-Woods Währungssystems, einem System fester Wechselkurse, in dessen Zentrum der US-Dollar stand (Schubert, Klein 2020). Der globale Norden, so schien es, befand sich in einer historisch schwachen Position. Vermeintlich zementierte Strukturen schienen plötzlich veränderbar, die Durchsetzung einer Reform der Weltwirtschaftsordnung auf einmal realistisch (Gilman 2015: 3-4).

Die Initiative der NIEO entstand also in einem längeren Prozess und schien durch die Öl-Krise und die Auflösung des Bretton-Woods System auf einmal erreichbar (Gilman 2015: 4). Die NIEO ist eine Antwort auf die ungleiche Verteilung des Reichtums der Welt. In der ersten Phase der antikolonialen Selbstbestimmung, in der das „development model“ weit verbreitet war, konnten die Dependenzen zu den ehemaligen Kolonialstaaten nicht verringert werden. Auf der Suche nach neuen Ideen wurde aus dem globalen Süden das Konzept der NIEO entwickelt. Die NIEO überzeugte viele Länder des globalen Südens und schaffte es schlussendlich bis zur UN-Generalversammlung, bei der 1974 die Umsetzung der NIEO beschlossen wurde.

 

 

 

Quelle: Public domain / Arquivo Nacional Collection
CC BY-SA 3.0 RS

Die Bewegung der Blockfreien Staaten

Die „Bewegung der Blockfreien Staaten“ strebte in den 1970er Jahren nach wirtschaftlicher Emanzipation und Unabhängigkeit von den Industrieländern. Hier könnt ihr tiefer in das Thema eintauchen.

Literatur

Arndt, Hans W. (1982): The New International Economic Order: A Retrospect. In: Internationale Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 28 (4), 431-434.

Corea, Gamani (1977): UNCTADand The New International Economic Order. In: International Affairs, 53 (2), 177-187.

Dohmen, Caspar (2021): Reich an Schätzen, trotzdem arm. In: Deutschlandfunk Kultur am 05.10.2021. Text abrufbar unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/globaler-sueden-reich-an-schaetzen-trotzdem-arm-100.html (Zugriff am 31.08.2022).

Dohmen, Caspar (2022): Als der globale Süden eine Neue Weltwirtschaftsordnung forderte. In Deutschlandfunk am 12.04.2022. Text abrufbar unter:  https://www.deutschlandfunk.de/weltwirtschaftsordnung-entwicklungslaender-industrielaender-100.html (Zugriff am 31.08.2022).

Getachew, Adom (2019): The Welfare World of the New International Economic Order. Worldmaking after Empire. The Rise and Fall of Self-Determination. Princeton: Princeton University Press, 142-175.

Gilman, Nils. (2015): The New International Economic Order: A Reintroduction. In: Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism, and Development, 6 (1), 1–16.

Mattes, Hanspeter (2012): Die Blockfreienbewegung: Quo vadis? GIGA Arbeitspapier 8/2012, Hamburg: GIGA.

Möller, Sebastian (2020): Raúl Prebisch & Hans W. Singer. In: Janusch, Holger (Hrsg.), Handelspolitik und Welthandel in der Internationalen Politischen Ökonomie. Ein ideengeschichtlicher Überblick. Wiesbaden: Springer VS, 157- 176.

Schubert, Klaus/Martina Klein (2020): Das Politiklexikon. 7., aktualisierte und erweiterte Auflage. Bonn: Dietz.

United Nations (1974): Resolution adopted by the General Assembly. 3201 (S-VI). Declaration on the Establishment of a New International Economic Order. Text abrufbar unter: http://www.un-documents.net/s6r3201.htm. (Zugriff am 31.08.2022).