Die brasilianische Landlosenbewegung MST: Ansätze für eine andere Landwirtschaft

Der MST: Ein Erbe der NIEO?

von Arwed Junglas

 

Die NIEO hat ihre Spuren in der Welt hinterlassen. Aber wo lassen sie sich entdecken? Welche Forderungen und Ideen wurden Jahre später aufgegriffen und wie wurden sie verändert und an die neuen historischen Umstände angepasst? Um diese Fragen, zumindest beispielhaft und in Bezug auf Rohstoff und Agrarpolitik zu beantworten wollen wir uns mit der brasilianischen Landlosenbewegung, dem Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST) beschäftigen. Als organisierte soziale Bewegung setzt der MST sich in Brasilien für die Rechte der besitzlosen Landarbeiter*innen einsetzt. Er wurde 1984 offiziell gegründet und ihr werden etwa 1,5 Millionen inoffizielle Mitglieder zugerechnet (Girardet 2007: 185; Fernandes 2009: 90-99). Im Jahr 2014 veröffentlichte der MST unter dem Namen „The People’s Agrarian Reform: An Alternative to the Capitalist Model“ ein umfassendes Programm zum Umbau der brasilianischen Landwirtschaft, anhand derer wir uns auf der Suche nach NIEO-Einflüssen in der heutigen Zeit machen.

Mit Blick auf die Ziele und ideologischen Hintergründe der beiden ambitionierten Politik-Entwürfe des MST und der NIEO, werden zunächst sehr unterschiedliche Ausgangspunkte deutlich. Die NIEO hatte als primäres Ziel, das wirtschaftliche Wachstum der Entwicklungsländer voranzutreiben und gleichzeitig die weltweite Versorgung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu garantieren. Im Vergleich dazu organisiert der MST die besitzlose Landbevölkerung Brasiliens und strebt einen demokratischen Sozialismus an. Die hier in den Fokus genommene Agrarreform soll Druck auf den Staat ausüben, dessen Beeinflussung einen wichtigen Teil der Strategie des MST zur Gesellschaftsveränderung darstellt. Sie soll außerdem als Grundlage für Mobilisierung und Agitation dienen und die eigene Basis durch ein gemeinsames Programm und durch politische Erfolge stärken. Und letztendlich ist sie als ein Gegenmodell zum agribusiness zu verstehen, also einer auf Profitmaximierung ausgelegten Landwirtschaft, oft finanziert durch ausländische Investoren und organisiert durch transnationale Konzerne. Dafür soll die Landwirtschaft großflächig bedürfnisorientiert umverteilt und dem Gemeinwohl unterstellt werden, sowie ihre Profitorientierung auch unter Einbeziehung von ökologischen Aspekten gestoppt werden (Sixth National MST Congress 2014: 21-34).

Trotz dieser sehr unterschiedlichen zeitlichen und ideologischen Rahmenbedingungen wurde von den ursprünglichen NIEO-Ideen einige in der Agrarreform des MST aufgegriffen. So sprechen sich beide entschieden für eine nationale Souveränität über die natürlichen Ressourcen aus, die allerdings nach sehr unterschiedlichen Maßstäben genutzt werden sollen. Im Umgang mit transnationalen Konzernen und der Verteilung des Reichtums unterscheiden sie sich fundamental: Die NIEO sieht ausländische Kapitalströme zu Entwicklungszwecken als etwas positives, außerdem will sie transnationale Konzerne, solange die Gewinne im Land verteilt werden, als Katalysatoren der Entwicklung zulassen. Für den MST ist diese Art der Einhegung nicht möglich, in ihrem Modell der nicht gewinnorientierten Landwirtschaft haben ausländische Investoren und transnationale Konzerne keinen Platz, da sie als Finanziers und Akteure des agribusiness zwangsläufig nach Profit streben würden (Sixth National MST Congress 2014:35-39; United Nations General Assembly 1974: 3-12). Bei der NIEO sind ökologische Aspekte bereits mitgedacht, allerdings stehen sie für den MST viel stärker im Mittelpunkt: Während der MST Wasser und Wälder als schützenswerte kollektive Güter ansieht, die nicht in Privatbesitz sein sollten, will die NIEO zur Ankurblung der Weltwirtschaft zugunsten der Entwicklungsländer die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen generell verstärken. Auch bei der Erfüllung der Grundbedürfnisse sind sich die Ziele ähnlich und es unterscheiden sich die politischen Vorgehensweisen: Beide wollen eine großflächige Versorgung mit Nahrung und Energie erreichen. Die NIEO nutzt hierfür ihr special program, um den ärmsten Ländern Direkthilfen in Form von Nahrungsimporten, günstigen Krediten und Schuldenerlässen durch die Industrienationen zukommen zu lassen. Die Strategie des MST dagegen will die nationale Produktion am Bedarf an Nahrung orientieren und außerdem Ernährung und Energie zum Grundrecht deklarieren. Letzteres soll durch eine großflächige, lokale und erneuerbare Energieproduktion gewährleistet werden (Sixth National MST Congress 2014:35-39; United Nations General Assembly 1974: 3-12).

Auch wenn sich die Ziele der beiden Programme teilweise ähneln, so wurde die Herangehensweise der NIEO vom MST grundlegend in Frage gestellt. Die Ansätze unterscheiden sich fundamental: die NIEO versucht durch die Ankurblung der Weltwirtschaft insgesamt und durch eine globale Umverteilung von Ressourcen den Lebensstandard der Menschen in den Entwicklungsländern zu heben. Ihre Achillesferse war die Notwendigkeit des guten Willens der Industrienationen. Der MST will sich von diesem guten Willen nicht abhängig machen. Sie wollen ein antikapitalistisches Modell der Landwirtschaft entwickeln und sind bereit, die Konfrontation mit den Besitzenden durch großflächige Enteignungen zu forcieren. Für den MST ist ihre Basis, die landlosen Arbeiter*innen, das politische Subjekt, während für die NIEO Nationalstaaten und multilaterale Organisationen im Mittelpunkt ihrer Maßnahmen stehen.

Literatur

Fernandes, Bernardo Mançano (2009): The MST and agrarian reform in Brazil. In: Socialism and Democracy 23.3: 90-99.

Girardet, Herbert (2007): Surviving the century: facing climate chaos and other global challenges. London: Earthscan.

MST (2022): MST Program for Agrarian Reform. https://www.mstbrazil.org/about-mst/agrarian-reform-program (zuletzt abgerufen: 10.07.2022)

Sixth National MST Congress (2014): Struggle, Build People’s Agrarian Reform!

United Nations General Assembly. 1974. ‘Resolutions Adopted by the General Assembly during Its Sixth Special Session’. Supplement No. 1 A/9559. General Assembly Official Records.