Die Staatsschuldenkrise
Wie die Staatsschuldenkrise die NIEO zum Erliegen brachte
von Niklas Braun
‚It is like a neutron bomb in which men and women remain alive, but all that generates wealth is destroyed. It is as though madness has taken over the financial centers.“ (Schumacher 1984). So zitierte die New York Times den ehemaligen argentinischen Präsidenten Raul Alfonsin knappe eineinhalb Jahre nach Beginn der Staatsschuldenkrise in den 1980er Jahren. Diese weltwirtschaftliche Zäsur war auch für die NIEO von großer Bedeutung: Nicht nur waren Schulden und der Umgang mit ihnen wiederholt Thema im NIEO Aktionsprogramm. Einige Autor*innen sehen darüber hinaus die Staatsschuldenkrise als elementaren Grund für das Ende der NIEO-Debatte an.
Die Verfasser*innen der UN Resolution 3202, dem Aktionsprogramm für die Etablierung einer „New International Economic Order“ aus dem Jahr 1974, waren sich des Themas der Staatsverschuldung bereits Jahre vor der Krise bewusst. Die Schuldenthematik wird im Aktionsprogramm der NIEO wiederholt erwähnt. So lautet etwa eine Forderung „Debt renegotiation on a case-by-case basis with a view to concluding agreements on debt cancellation, moratorium, rescheduling or interest subsidization“ (United Nations General Assembly 1974: 8). Eine im Verhältnis zu den Exporteinnahmen hohe Schuldentilgungsrate war für die Autor*innen des Aktionsprogramms ein Definitions-Kriterium besonders instabiler und hilfsbedürftiger Länder (United Nations General Assembly 1974: 10). Sogar Kritik an den internationalen Finanzinstitutionen – und hierbei explizit dem IWF – wurde geübt, sowie mehr Mitspracherecht für die Entwicklungsländer eingefordert (United Nations General Assembly 1974: 7-8). Diese Institutionen sollten nach der Staatsschuldenkrise noch eine große Rolle spielen.
Die NIEO-Forderungen können außerdem als wichtiger Ausdruck einer alternativen Globalisierungsdebatte in den 1970er Jahren bezeichnet werden: Staaten des globalen Südens forderten mehr (wirtschaftliche) Autonomie (Kreienbaum 2022: 309), anstatt weiter den Schwankungen des globalen Freihandels ausgesetzt zu sein. Die Zustände des Weltmarkts, seine ungleichen Ergebnisse, waren Gegenstand der Kritik. Hierin erkannte der NIEO Akteur Raul Presbish eine notwendige Folge des Freihandels (Gilman 2015: 3). Diese Denkansätze können als Teil einer strukturellen Erklärung für die Ungleichheit angesehen werden. Deforge und Lemoine beschreiben, dass gerade die G77 Staaten in den 70er Jahren, das Problem der Verschuldung als „entangled“ (Deforge/Lemoinde 2021: 252), also als „verstrickt“, interpretierten. Nicht individuelles (Fehl-) Verhalten, sondern „international capital flows, asymmetric trade, and power relations between nations“ (Deforge/Lemoinde 2021: 233) würden für die Schuldenberge im Süden sorgen.
„Die Staatsschuldenkrise war nur durch das Ende des Bretton-Woods-System möglich“
Wie kam es zur Staatsschuldenkrise? Grundsätzlich war die hohe Verschuldung dadurch möglich, dass es mit dem Ende des Bretton-Woods-Systems 1973 keine fest vorgeschriebene Bindung des Dollars an Goldreserven und keine feste Bindung der anderen Währungen an den Dollar mehr gab (Michalski 2010: 7). Dadurch konnte viel mehr Geld in Umlauf gebracht werden (Michalski 2010: 7). In Zusammenhang der damit einhergehenden Deregulierung des Finanzmarktes (Michalski 2010: 9) waren dem internationalen Finanzverkehr viel weniger Schranken gesetzt. Als ein wichtiger Faktor der zunehmenden Verschuldungsdynamik in Lateinamerika wird dabei das sogenannte „Petrodollar-recycling“ genannt (Dymski 2019: 105): Private Kreditgeber hatten europäischen und nordamerikanischen Banken ihre Kredit-Kunden abspenstig gemacht, die sogenannte „marktbasierte Finanzierung“ gewann an Relevanz (Dymski 2019: 105). Als Reaktion darauf suchten die Banken neue Kreditnehmer und begannen in den Siebzigern, die Übergewinne der Ölexportstaaten zu verwalten (Dymski 2019: 105). Die hohen Ölpreise sorgten in den 1970er Jahren für einen Dollarregen bei den Ölexporteuren, der unmittelbar nicht effizient im eigenen Land investierte werden konnte (Oweiss 1984: 177-178). Im großen Stil wurden diese Überschüsse den Ländern Lateinamerikas in Form von Krediten angeboten (Dymski 2019: 105) und die lateinamerikanischen Staaten nahmen diese Gelder an.
Auf die hohe Verschuldung trafen nun wirtschaftliche Entwicklungen, welche die Situation erst zu einem wirklichen Problem machten: Die hohen Ölpreise in den 70ern waren für die nicht-ölexportierende Entwicklungsstaaten ein Problem (Kreienbaum 2022: 302). Mexikos Zustand wird von Kreienbaum wie folgt beschrieben: „Enorme Staatsausgaben, Kapitalflucht [und] Schwierigkeiten, die eigenen Exportgüter in die krisengeschüttelten Industriestaaten abzusetzen, […] belasteten die Wirtschaft“. Im Zuge der weltweiten Rezession ab 1980 war der Rückgang aller möglicher Rohstoffexporte (neben Öl) ein finanzielles Problem vieler Entwicklungsländer (Kreienbaum 2022: 303).
Entscheidend war außerdem die wirtschaftliche Situation der Industrieländer und deren politische Reaktionen: Der Ölpreisschock von 1973 und die steigenden Nahrungsmittelpreise sorgten für Inflation in den westlichen Staaten, der Börsencrash 73-74 resultierte in einer allgemeinen Stagnation (Department of Economic and Social Affairs 2017: 54). Die Industrienationen hatten im Ergebnis mit Stagflation zu kämpfen (Department of Economic and Social Affairs 2017: 54), dem ungewöhnlichen Phänomen gleichzeitiger Inflation und geringer, beziehungsweise sinkender Wirtschaftsleistung. Zur Inflationsbekämpfung setzten die konservativen Regierungen des Westens auf restriktive wirtschaftspolitische Maßnahmen: über hohe Zinssätze und eine eingeschränkte Kreditvergabe wurde die Geldpolitik und über die Kürzung der Staatshaushalte die Finanzpolitik neu justiert (Department of Economic and Social Affairs 2017: 54-55).
In diesem Zusammenhang wird der „Volcker-Schock“ als Startschuss der Staatsschuldenkrise beschrieben (Department of Economic and Social Affairs 2017: 59). Der neue Vorsitzende der US-amerikanischen Zentralbank, Paul Volcker, setzte die Zinsen zwischen 1979 und 1980 auf bis zu 20 Prozent an (Medley 2013). Besonders problematisch war dies für Länder, welche sich zu variablen Zinssätzen verschuldet hatten (Department of Economic and Social Affairs 2017: 59). Das bedeutete, dass Kredite, die anfangs gut zu bedienen waren, nun teils unbezahlbar wurden. Die Wertsteigerung des Dollars verstärkte das Tilgungsproblem von Dollar-Krediten (Kreienbaum 2022: 302). Daraufhin war Mexiko das erste Land, welches 1982 offiziell erklärte, die Schulden nicht mehr bedienen zu können (Department of Economic and Social Affairs 2017: 59; Kreienbaum 2022: 302).
Andere Länder Lateinamerikas, Afrikas und teilweise Asiens (Department of Economic and Social Affairs 2017: 59), sowie einige Karibikstaaten (Kreienbaum 2022: 302) hatten in diesem Zuge ebenfalls mit hoher Staatsverschuldung zu kämpfen, die Krise breitete sich also aus. Dies lag nicht nur daran, dass die Staaten mit ähnlichen innerwirtschaftlichen Problemen wie Mexiko zu kämpfen hatten: „[D]er mexikanische Offenbarungseid löste eine Kettenreaktion aus […]“ (Kreienbaum 2022: 302), da die Banken nun gewarnt waren, ihre Kredite nicht mehr an Länder mit einer hohen Verschuldung zu vergeben, um einen möglichen Zahlungsausfall zu vermeiden (Kreienbaum 2022: 302). Ohne neue Kredite konnten die Schulden jedoch nicht weiter beglichen werden (Kreienbaum 2022: 302).
„Die Staatsschuldenkrise spielte eine entscheidende Rolle für den Machtverlust der G77-Staaten“
Welchen Einfluss hatte dies Schuldenkrise nun auf die NIEO? Jonas Kreienbaum zeigt beispielhaft, dass die NIEO Forderungen beim Nord-Süd Gipfel in Cancun 1981 zunächst eine klare Absage erhielten (Kreienbaum 2022: 291-292), auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Williamsburg 1983 jedoch nicht mal mehr thematisiert wurden (Kreienbaum 2022: 294-296). Mehrere Autoren (Kreienbaum 2022: 302-303; Gilman 2015: 8) führen dies auf einen Machtverlust der G77-Staaten zurück, wobei die Staatsschuldenkrise eine entscheidende Rolle spielte: Da die privaten Banken kein weiteres Interesse mehr daran hatten, die Ökonomien der verschuldeten Länder über neue Kredite am Laufen zu halten, mussten nun westlichen Finanziers (Kreienbaum 2022:302-303), beziehungsweise westlich dominierte Finanzinstitutionen (Kreienbaum 2022: 311) einspringen. Die Industriestaaten konnten diese Abhängigkeit der verschuldeten Staaten im Diskurs um alternative Weltwirtschaftsmodelle nun gegen die Schuldner aus dem Süden nutzen.
Es zeige sich darüber hinaus, dass die Industrienationen über die Verschuldung und dem damit einhergehenden Machtgewinn die von der NIEO diskutierten Vorschläge zum Umgang mit stark verschuldeten Ländern endlich und endgültig ignorieren konnten. Der Machtgewinn des Westens drückte sich zudem in einer westlichen Deutungshoheit im Schuldendiskurs aus: Jetzt waren die verschuldeten Staaten selbst schuld an ihrer Misere. Im Unterschied zur anfangs erwähnten Erklärung der Schuldenproblematik als „entangled“, setzte sich nun der westliche Erklärungsansatz durch, wonach die Ursachen als „disentangled“ (Deforge/Lemoinde 2021: 252), also „entwirrt“, galten: grundsätzlich handele es sich um ein Missmanagement der verschuldeten Regierungen selbst (Deforge/Lemoinde 2021: 233). Diese hätten zu unbedacht zu viel Geld ausgegeben und ließen es an einer präzisen, finanzpolitischen Datenerhebung mangeln (Deforge/Lemoinde 2021: 233). Mehrere Autoren beschreiben hier einen neoliberalen Diskurswechsel (Gilman 2015: 1; 8-9; Kreienbaum 2022: 304, 310-311), in dem der globale Freihandel als Lösung angesehen wird und staatliche Eingriffe in die Wirtschaft als das zentrale Problem (Kreienbaum 2022: 310-311; Department of Economic and Social Affairs 2017: 62). Die NIEO hatte Problem und Lösung genau anders herum definiert.
Der Diskurs manifestierte sich in den Strukturanpassungsmaßnahmen (SAPs). Die Kredite durch IWF, Weltbank und dem US-Finanzministerium waren nun an (wirtschafts-) politische Maßnahmen gekoppelt, welche die verschuldeten Länder umzusetzen hatten, wenn sie gerettet werden wollten. Dies bedeutete „ad hoc and ‘case by case’ solutions, for instance the micro-management of public finances, the need for monetary and fiscal discipline, and the building of reliable and transparent data provided to official and private creditors” (Deforge/Lemoinde 2021: 233). Die Programme, sahen grundsätzlich vor, die Wirtschaft zu deregulieren, den Handel zu liberalisieren und öffentliches Eigentum zu privatisieren (Department of Economic and Social Affairs 2017: 62-63).
Während die NIEO bereits eine Kritik an den internationalen Finanzinstitutionen formulierte, muss der Machtzugewinn der westlich dominierten Finanzinstitutionen (vor allem des IWFs und der Weltbank) in Folge der SAPs die schlimmsten Vorstellungen der NIEO-Autoren noch übertroffen haben. Der Staat, der zuvor noch im Sinne der nationalen Autonomie gestärkt werden sollte, musste nun zwangsweise in den Hintergrund rücken, die Kritik am westlichen Globalisierungsmodell einer verschärften neoliberalen Globalisierung weichen. Die Diskurshoheit hatte wieder der Westen und die Industrienationen konnten die Ableitungen ihrer Ansichten auch praktisch durchsetzen. Es zeichneten sich darüber hinaus noch weitere Probleme für die NIEO ab: Zum einen bemühten sich die Länder nun in Konkurrenz untereinander über eine möglichst gute Anpassung an den freien Markt an Kredite zu gelangen (Deforge/Lemoinde 2021: 253-254). Zum anderen legten sie im Zuge der liberalen Reformen ökonomisch ganz unterschiedliche Entwicklungen hin (Department of Economic and Social Affairs 2017: 71; Kreienbaum 303-304). Die divergierenden Erfahrungen mit dem neoliberalen Entwicklungsmodell, verkomplizierten es den G77 Staaten immer mehr, gemeinsam, wirtschaftspolitische Entwicklungsalternativen zu entwickeln (Department of Economic and Social Affairs 2017: 71; Kreienbaum 303-304). Somit war ein anderer wichtiger Grundbaustein der NIEO ebenfalls weitestgehend dahin: die gemeinsamen Erfahrungen und Probleme, die daraus abgeleiteten gemeinsamen Forderungen und die Solidarität untereinander.
Literatur
Deforge, Quentin/ Lemoinde, Benjamin (2021): The Global South Debt Revolution That Wasn ́t. UNCTAD from Technocratic Activism to Technical Assistance. In: Penet, Pierre/ Flores Zendejas, Juan (Hrsg.), Sovereign Debt Diplomacies: Rethinking sovereign debt from colonial empires to hegemony. New York: Oxford University Press, DOI: 10.1093/oso/9780198866350.001.0001, 232-256.
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Dymski, Gary (2019): Post-war international debt crises and their transformation. In: The Handbook of Globalisation, Third Edition., Edited by Jonathan Michie. Cheltenham: Edward Elgar Publishing Limited, 103-118.
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Kreienbaum, Jonas (2022): Das Öl und der Kampf um eine Neue Weltwirtschaftsordnung: Die Bedeutung der Ölkrisen der 1970er Jahre für die Nord-Süd-Beziehungen. Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg.
Liebal, Mara/ Rehbein, Kristina (2018): Die Schuldenkrise des Globalen Südens: Verfahren zu ihrer Bewältigung schaffen. In: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsordnung, 19 (4), 67-76.
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