Kathrins Projekt


Kleine goldene Splitter umschwirren mein Ohr. Eine monumentale, hellbraun-ockerfarbene Fassade erhebt sich dort bis in einen schwarzdunklen Himmel in Ganzweitweg. Winzige goldbraune Staubkörner bröckeln von der Fassade und tanzen zu einem ebenso schwarzdunklen Boden. Die Fassade ist in Bewegung. Immer neue Muster und Strukturen bilden sich heraus. Ich staune, wie wundervoll dieses Bild aussieht.

Und dann ist es plötzlich vorbei. Mein Sohn hat sein Radieschen aufgegessen. Das Geräusch hat aufgehört. Ich löse mein Ohr von seinem Kopf. Das, was ich gerade erlebt habe, ist meine synästhetische Wahrnehmung eines Radieschens, das aufgegessen wird. Genauer gesagt: des Geräusches, das entsteht, wenn es zerkaut wird. Wer hätte gedacht, dass so etwas Schönes aus einem Radieschen kommen kann?

Ich bin Synästhetikerin. Das bedeutet, dass mein Kopf verschiedene Sinneswahrnehmungen miteinander verknüpft. Höre ich beispielsweise ein Geräusch, kann ich dazu vor meinem inneren Auge Farben und Formen sehen. Ich habe gelesen, dass Synästhetiker:innen besonders viele Nervenverbindungen zwischen ihren Gehirnarealen haben, es wird oft von Hyperkonnektivität gesprochen. Ich habe also ein ganz schön vernetztes Gehirn. Was für ein Chaos. Etwa jeder zwanzigste Mensch soll Synästhetiker:in sein und eine oder mehrere der über 150 verschiedenen Synästhesien haben. Dabei gibt es beispielsweise Kombinationen wie Farben, die einen bestimmten Geschmack haben, Töne, die auf der Haut erfühlt werden können, Wochentage, die eine Farbe und eine räumliche Position innehaben, Zahlen und Buchstaben können Charaktereigenschaften aufweisen und Emotionen Texturen und Umrisse haben. Ich habe dabei ein paar dieser Synästhesien erwischt: Ich habe Farbeindrücke, wenn ich Geräusche und Musik höre, Buchstaben und Zahlen sind fest mit bestimmten Farben (wie das aussieht, zeigt beispielsweise das Titelbild) und teilweise auch Mustern verknüpft und Konzepte wie Zeiteinheiten und Ortsangaben haben Farben und bestimmte Positionen in meiner räumlichen Wahrnehmung. Außerdem erscheinen körperliche Empfindungen, besonders Schmerzen, als klar umrissene und eingefärbte Strukturen vor meinem inneren Auge.

Das erste Mal habe ich meine Synästhesie bemerkt, als ich dreizehn Jahre alt war und zufällig etwas darüber in einer Zeitschrift gelesen habe. Damals habe ich aber nicht weiter darüber nachgedacht. Erst, als ich bei einer Ärztin war und sie mich nach den Schmerzen in meinem Bein fragte und mit meiner Antwort »hellbraun-orangene Streifen, oben mehr orange und ein paar pinke Flecken« nichts anfangen konnte, ist mir wirklich aufgefallen, dass ich manche Dinge anders wahrnehme als viele andere Menschen. Dabei hatte ich mich als kleines Kind schon immer gefragt, warum noch niemand das Geräusch des Donnergrollens aufgemalt hatte, wo es doch so wunderschön ist. In den Kunsthallen und Museen hatte ich es nämlich nicht entdecken können.

Doch was bedeutet es nun, Synästhetiker:in zu sein? Ich liebe es, Synästhesie zu haben. Es ist so wundervoll, all diese Farben und Formen erleben zu dürfen. Es gibt nichts besseres, als meine Kopfhörer aufzusetzen, mich gemütlich aufs Sofa zu legen und mir in aller Ruhe meine Lieblingslieder anzuschauen. Ich habe gelesen, dass Synästhetiker:innen sich häufig kreativ ausleben und sich gut Daten und Vokabeln merken können. Das stimmt, ich habe ein sehr gutes Kurzzeitgedächtnis, ich schaue mir einfach die Farbmuster von Zahlen und Worten an oder entwickle Gedankenpaläste für zeitliche Abläufe anhand ihrer spezifischen Positionen in meinem Wahrnehmungsfeld. Synästhesie ist also ein kleiner, schöner Bonus, den man genießen darf. Aber wie immer gibt es dabei auch eine Kehrseite: Manchmal kann es schwierig sein, mit einem permanent denkenden Gehirn zusammenzuleben. Wenn ich gestresst bin, kann es anstrengend werden, zusätzlich zu meinen Aufgaben auch noch die Farben zu meinem Atem, dem Knarzen meines Stuhles, Tastaturklappern, dem Rauschen der Wasserleitung in der Wand neben mir, dem Fernseher der Nachbar:innen und die Musik aus der Wohnung über uns mitanschauen zu müssen. Ich habe auch gelesen, dass Synästhetiker:innen ein um 41 % höheres Risiko haben, Angststörungen zu entwickeln. Und es gibt immer noch Menschen, die Synästhesie für eine Wahrnehmungsstörung oder Halluzinationen halten und Synästhetiker:innen deshalb mit Unverständnis begegnen und sie stigmatisieren.

Und genau an diesem Punkt möchte ich mit meinem Projekt ansetzen. Ich möchte zeigen, wie ich meine Umwelt wahrnehme, um Verständnis und Offenheit zu schaffen – für eine Weltsicht, die vielleicht ein bisschen anders ist, auf jeden Fall aber kunterbunt und ziemlich chaotisch.

Dafür habe ich einen kleinen Katalog von Alltagsgeräuschen angelegt, die ich aufgenommen und dann mit Wasserfarben so realitätsnah wie möglich nachgemalt habe. Eigentlich handelt es sich bei diesen Klängen immer um eine zeitliche Abfolge mehrerer kleiner Geräusche. Deshalb nehme ich sie auch nicht als statische Bilder wahr sondern eher als kleine Filmsequenzen von entstehenden, sich verändernden und wieder erlöschenden Formen und Farben. Um diesen Prozess deutlich zu machen, habe ich außerdem jedes Bild mit einer Skizze versehen und darauf die verschiedenen Geräuschpartikel nach ihrem zeitlichen Auftreten durchnummeriert. Außerdem soll sie auch zeigen, welche Form zu welchem spezifischen Teil des Geräusches gehört. Am Ende dieser Seite befindet sich dann noch ein Video, in dem ich die Tonsequenzen und Bilder zusammengeschnitten habe, damit beides zusammen betrachtet werden kann. Dabei empfehle ich, das Video mit guten Kopfhörern anzuhören, da nur so kleine Mikronebengeräusche wahrgenommen werden können, die ich auf meinen Bildern (manchmal) festgehalten habe. Was ich nicht mit aufgemalt habe, ist das Rauschen der Aufnahme, sonst wäre alles hinter einem Regen aus kleinen grauen Körnern verschwunden.

Also, viel Spaß bei meiner »Lautmalerei«, viel Spaß beim Erleben und hoffentlich viele schöne neue Eindrücke!

 

Das Schnipsen gegen die Klingel im zweiten Stock
Skizze: Das Schnipsen gegen die Klingel im zweiten Stock

 

 

Das Mahlen der Pfeffermühle
Skizze: Das Mahlen der Pfeffermühle

 

 

Eine Seite in meinem Kalender wird umgeblättert
Skizze: Eine Seite in meinem Kalender wird umgeblättert

 

 

Den Telefonhörer abnehmen und auflegen
Skizze: Den Telefonhörer abnehmen und auflegen

 

 

Das Ticken des Weckers im Badezimmer
Skizze: Das Ticken des Weckers im Badezimmer

 

 

Das Drehen am Himmelsglobus
Skizze: Das Drehen am Himmelsglobus

 

 

 

Kathrins Blick hinter die Kulissen