Zum ersten Mal seit ich in dieser Stadt bin, nehme ich mir bewusst Zeit und schaue auf die, die mir sonst so oft unbemerkt bleiben. Die, die ich oft nicht eines Blickes würdige und wenn, dann nur aus der Ferne – um selbst unbemerkt zu bleiben – und die, die ich sonst so oft bewusst aus meinem Blickfeld verbanne. Ich richte meinen Blick auf Eingänge leerstehender Läden, auf Haltestellen und Menschen, die langsamer oder sich gegen die allgemeine Gehrichtung bewegen, fühle mich als Forscherin und bleibe dann schließlich doch hängen an einem wenig zugänglichen Ort: hinter der Fensterfront eines Cafès.
Habe ich Angst, durch sie mit meinen Privilegien konfrontiert zu werden?
Will ich mich nicht mit dem enttäuschten Blick konfrontieren, wenn ich wieder einmal “Nein” zu einer Bitte nach Geld oder Essen sage?
Ich sitze hier 5 Minuten, iPad in der Hand, damit ich, falls etwas passieren sollte, schnell meine Gedanken niederschreiben kann. Vor mir auf dem Tisch steht ein Cappucino. Ich bemerke meinen privilegierten Blickwinkel sofort, erinnere mich daran, dass dieser Platz mich hier gerade 3,20 Euro kostet, das Ipad in meiner Hand 350 Euro und ärgere mich sofort, dass ich kein Stift und Papier dabei habe. Ich beobachte einen Mann. Er ist gut gekleidet, trägt 3-Tage-Bart und zurückgegelte Haare, geht auf der gegenüberliegenden Seite die Straße entlang und spricht Menschen an, versucht Ihnen die hiesige Obdachlosenzeitung zu verkaufen, die er in der einen Hand hält – die Titelseite präsentierend. In der anderen Hand hält er eine Blechdose, das Etikett ist größtenteils abgelöst und an der Oberseite ist ein Schlitz – für Spenden. Er geht auf ein junges Paar zu, nicht viel älter als ich es bin, was gerade an der Ecke steht und ihre Falafel-Rollos isst. Bevor er sie überhaupt ansprechen kann, schütteln sie schon abweisend ihren Kopf.
Ich frage mich, wie sie so schnell realisierten, was er von ihnen wolle. Er sieht doch aus wie jeder andere. Und merke, dass ich mir plötzlich nicht mehr so sicher bin, ob die Menschen, die ich auf den ersten Blick als obdachlos identifizieren würde, es auch wirklich sind.
Ich sitze hier 15 Minuten und die junge Studentin, die ich noch zuvor in ihrem Fensterbrett Kaffee trinken sah, kommt nun mit ihrem Mitbewohner aus der Haustür und stellt zwei große Pappkartons auf die Straße. Ich kann nicht sehen, was darin ist und vermute Papiermüll. Wenige Minuten später kommt eine Frau die Straße entlang, sie trägt Maske und Handschuhe und zieht einen Einkaufstrolley hinter sich her. Dieser schleift über die Straße, die Rollen sind blockiert. Vor ihr kamen schon einige Menschen an den Kartons vorbei und beachteten diese nicht. Sie ist die erste Person, die stehen bleibt und durch die Kartons wühlt. Achtsam legt sie Dinge, die sie nicht gebrauchen kann, zur Seite und packt immer wieder Pfandflaschen in ihren Trolley. Eine Flasche nach der anderen füllt sich dieser und auch ihren Rucksack füllt nun mehr, als es sollte . Immer wieder gehen Menschen an ihr vorbei, zuerst schauen sie interessiert. An ihren Gesichtern sehe ich, dass sie Verschenke-Kisten vermuten und im langsamen Vorbeigehen schauen, ob auch für sie etwas darin sein könnte. Schnell merken sie, dass sie sich irren und beschleunigen sofort ihren Gang, sobald sie merken, dass die Frau, die sich gerade über die Kisten bückt, auf der Suche nach Pfand zu sein scheint. Sie scheinen mit ihr nicht assoziiert werden zu wollen.
Warum wählen die Studierenden die maximale Anonymität und Bequemlichkeit und ersparen der Frau nicht die Demütigung in der Öffentlichkeit durch die Kisten zu wühlen und sich so als bedürftig zu enttarnen?
Die Frau mit den Pfandflaschen geht weiter, hinterlässt zwei fast leere Kartons und sauber zusammengefaltete Plastiktüten. Ihr fällt es sichtlich schwer, die Pfandflaschen mit sich zu tragen, doch bückt sie sich schon an der nächsten Bushaltestelle mit Mühe noch ein letztes Mal, um eine weitere aufzusammeln, bevor sie hinter den Schiebetüren des Rewes verschwindet – eine Flasche für 25 Cent.
Ich rechne nach: mein Cappuccino kostet 13 Pfandflaschen, mein iPad 1.400.