Persönliche und berufliche Entwicklungen während der Betriebsrats- bzw. Personalratsarbeit, Ausstiegsüberlegungen und Befürchtungen rund um die Betriebsratswahl kommen als Themen in Betriebs- und Personalräten sowie in Gewerkschaften oft zu kurz. In einer von der Hans-Böckler-Stiftung 2016 durchgeführten repräsentativen Befragung von Betriebsratsmitgliedern zeigte sich, dass bei 64 % der Befragten die persönliche berufliche Entwicklung nicht im Betriebsrat thematisiert wird (Ahlene 2016).
Werden in eurem Gremium Entwicklungswünsche und berufliche Ambitionen besprochen?
Gleichzeitig geben in dieser Studie 73 % der Befragten an, dass sie sich sowohl beruflich als auch in der Betriebsratsarbeit entwickeln wollen. Aus der Tabuisierung und fehlenden Kommunikation dieser Themen können Probleme sowohl für die einzelnen Mitglieder als auch für das Gremium als Ganzes entstehen. Im Projekt Spurwechsel haben wir vier Handlungsfelder entwickelt, um diese Herausforderungen strategisch und strukturiert anzugehen. Die vier Handlungsfelder im Überblick findest du im letzten Artikel. In diesem Artikel stelle ich das Handlungsfeld Kommunizieren, Sensibilisieren, Enttabuisieren konkreter vor. Mit unserer Themensetzung im Projekt haben wir in Interviews, Workshops und Betriebsrätekonferenzen viele positive Erfahrungen gemacht. Mitglieder von Interessenvertretungen sind durchaus mit diesen Themen beschäftigt. Potentielle Kandidat*innen, neue und auch langjährige Mitglieder stellen sich dabei viele Fragen:
- Wie passt das Engagement in meine aktuelle Lebensphase?
- Wie bekomme ich meinen Job, Betriebsratsarbeit, Familie und Hobbys unter einen Hut?
- Was wird aus meiner beruflichen Laufbahn, wenn ich (wieder) in den Betriebsrat oder in eine Freistellung gehe und/oder den Vorsitz übernehme?
- Wie stelle ich mir meinen weiteren Berufsweg vor? Wo will ich noch hin? Welche Rolle spielt das Engagement dabei?
- Inwiefern kann ich mich im Gremium, in den Aufgaben und Themen entwickeln?
- Schaffe ich das? Bin ich diesen Aufgaben, vielleicht auch dem Druck und den unterschiedlichen Erwartungen gewachsen?
- Was wird aus mir, wenn ich nicht wiedergewählt werde?
Solche individuellen Fragen und Abwägungen sind völlig legitim und brauchen ihren Platz. Dieser Platz findet sich meist in vertrauten Gesprächen mit Freund*innen und Familie. Für eine transparente und zugewandte Ansprache und Kompetenzentwicklung müssen diese Themen aber auch im Betriebsrat, im Betrieb und in gewerkschaftlichen Gremien kommuiziert werden. Auch wenn die Themen zunächst als privat und individuell erscheinen, sind sie politisch relevant, spätestens wenn Kandidat*innen fehlen und die Mitbestimmung auf dem Spiel steht.
Das lässt sich am folgenden Beispiel exemplarisch darstellen: Im 15-köpfigen Betriebsrat einer Pflegeeinrichtung gehen zur nächsten Wahl zwei langjährige Mitglieder in den Ruhestand und die freigestellte Vorsitzende wechselt in eine Führungsfunktion im ambulanten Bereich. Aufgrund der generellen Arbeitsüberlastung, fehlender Anerkennung der Betriebsratstätigkeit im Betrieb und persönlicher Motivation gestaltet sich die Gewinnung neuer Kandidat*innen sehr mühselig. Schon jetzt gibt es keine Ersatzmitglieder mehr. Auch im bestehenden Gremium existiert große Zurückhaltung bei der Übernahme von mehr Verantwortung und dem Schritt in die Freistellung.
Was kann der Betriebsrat lang-, mittel- und kurzfristig tun, um Kandidat*innen zu gewinnen und Nachfolgen zu sichern?
Erfolgreiche und durch Öffentlichkeitsarbeit kommunizierte Betriebsratsarbeit – ist das Eine. Wichtig ist aber auch, die Attraktivität eines Engagements zu fördern und darzustellen sowie individuellen Abwägungen und Bedenken besprechbar zu machen! Um berufliche Ambitionen und Bedenken aus der Tabu-Zone zu holen und sowohl die BR-Mitglieder als auch die Belegschaft dafür zu sensibilisieren, geht der im Beispiel erwähnte Betriebsrat unterschiedliche Wege.
Klausurtagung: Bilanz – Abschluss – Weiterarbeit
Auf Anregung der Vorsitzenden beschließt das Gremium eine 2-tägige moderierte Klausurtagung durchzuführen. Themen auf der Klausurtagung sind:
- gemeinsame Bilanz der letzten vier Jahre BR-Arbeit und Konsequenzen für die Fortsetzung der Arbeit: Was nehmen wir mit und führen wir fort? Was lassen wir zurück?
- persönliche Bilanz der BR-Mitglieder: Was habe ich gelernt? Wie habe ich mich entwickelt? Was ist offen geblieben? Wie stelle ich mir meinen weiteren Weg vor?
- Veränderungen in der Gremienstruktur mit Aufstellung nach folgenden Fragen: Wer stellt sich sicher wieder zur Wahl auf? Wer zweifelt oder wägt noch ab? Wer tritt nicht wieder an? Wer geht in den nächsten vier Jahren in Rente oder scheidet aus anderen Gründen aus? Welche Gedanken und Gefühle bewegen zur jeweiligen Position?
- Vorbereitung der Betriebsratswahl und Kandidat*innen-Ansprache mit Zeitplanung: Welche Beschäftigten-Gruppen fehlen uns im Gremium? Welche Expertise benötigen wir für die zukünftigen Aufgaben? Wie gestalten wir die Ansprache potentieller Kandidat*innen?
Auf der Klausurtagung lösten sich einige Knoten. Es war zwar für die BR-Mitglieder ungewohnt über ihre eigene Entwicklung und zukünftige Vorstellungen zu sprechen. Dafür wirkte es sehr entlastend zu merken, dass man mit Sorgen und Zweifeln nicht alleine steht. Die externe Moderation unterstützte diesen Prozess durch wohlwollendes Nachfragen. Es wurde aber auch deutlich, dass sich das Gremium dringend um Wissenstransfer und Personalentwicklung der BR-Mitglieder kümmern muss. (Artikel zum Thema: „Die Betriebsratsarbeit durch Personalentwicklung und Wissenstransfer professionalisieren“ findest du in diesem Buch) Die Freigestellten wollen sich dieser Aufgabe systematischer annehmen. Als ersten Schritt wollen sie noch vor der Wahl Gespräche mit den BR-Mitgliedern geführt.
Entwicklungsgespräche mit Betriebsratsmitgliedern
Um die BR-Mitglieder, die zu ihrer Kandidatur bzw. zur Übernahme einer Freistellung noch unentschieden sind, in ihrer Entscheidung zu unterstützen und zu begleiten, bieten die Vorsitzende und der Stellvertreter Beratungsgespräche an. In diesen Gesprächen werden die persönlichen und strukturellen Für und Wider erhoben, Ressourcen erkundet, mögliche Perspektiven entwickelt sowie weiterer Unterstützungs- und Entwicklungsbedarf herausgearbeitet. Methodische Anregungen finden die beiden im Manual zur Berufsweg- und Übergangsberatung für Betriebs- und Personalräte. Die Entscheidung trifft letztlich der*die Einzelne, aber dann umfassend beleuchtet.
Betriebsversammlung zur Sensibilisierung
Auf der Klausurtagung entschied sich der Betriebsrat das Thema Betriebsratswahl und Kandidat*innen-Ansprache zur nächsten Betriebsversammlung auf die Agenda zu setzen. Hierzu wurden Referentinnen eingeladen, um dem Thema mehr Objektivität und Gewicht zu geben. In einer Gesprächsrunde mit einem langjährigen BR-Mitglied, der Gewerkschaftssekretärin und einer Mitbestimmungsforscherin wurden folgende Fragen aus den unterschiedlichen jeweils Perspektiven beantwortet:
- Was bringt gesetzliche Mitbestimmung den Mitarbeiter*innen, den Klienten*innen und dem Betrieb?
- Welche Motivationen bewegen Menschen, die zum ersten Mal für den BR kandidieren?
- Was sollte eine Person mitbringen, die sich für den BR aufstellen lassen möchte?
- Welche Chancen und Möglichkeiten bietet ein Engagement im Betriebsrat?
- Welche Themen und Handlungsfelder haben Betriebsräte?
- Welche Weiterbildungsangebote gibt es für Betriebsratsmitglieder?
- Wie wirkt sich das auf den beruflichen Weg aus, wenn ich mich für den BR aufstellen lasse?
Über das Online-Tool https://frag.jetzt/home konnten die Kolleg*innen anonym weitere Fragen stellen.
Thematisierung nach der Betriebsratswahl
Im Zuge der systematischen Planung ist nach der Betriebsratswahl eine verlängerte Sitzung geplant. In dieser soll sich das neue Team finden und die Kompetenzentwicklung auf den Weg gebracht werden. Angedacht ist ein ausführliches Kennenlernen, indem auch die unterschiedlichen Motivationen zur Kandidatur besprochen werden. Neben der betriebspolitischen Motivation soll auch die berufsbiografische Lebensphase und die sich daraus ergebenden Motivationen angesprochen werden, z.B. dass nach der Kindererziehungsphase eine neue Herausforderung gesucht wird oder im eigenen Beruf keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr vorhanden sind. Auch Entwicklungswünsche der Gremienmitglieder können hier zum Thema gemacht werden. Dabei ist es gut, wenn Vorsitzende mit Offenheit vorangehen und ihre eigene Entwicklung, Motivation und Vorstellung zum weiteren Berufsweg darstellen.
Die Offenheit im Betriebsrat wird bei konkurrierenden Listen, eskalierten Konflikten und (mikro)-politischen Machtkämpfen erheblich erschwert, bis dahin, dass sie als unmöglich empfunden wird. Die Sorge vor Gesichts- und Machtverlust dominiert dann das Geschehen. In diesem Fall wäre schon viel erreicht, wenn man sich (mit externer Moderation) auf gemeinsame Ziele und Arbeitsweisen für die nächste Amtszeit verständigen kann.
Die Phase der Sensibilisierung und Enttabuisierung ist grundlegend für alle weiteren Prozesse und bereitet den Weg für eine strukturierte Personalentwicklung im Gremium. Im Veränderungsmanagement ist das die Phase des „Auftauens“ (Lewin 1953). Wird diese Phase nicht ausreichend initiiert sowie kommunikativ und beteiligungsorientiert gestaltet, können Widerstände die Umsetzung von Maßnahmen und Ideen behindern.
Der offene Austausch zu diesen Themen setzt eine erweiterte Perspektive auf betriebliche Interessenvertretung voraus:
Betriebs- und Personalratsarbeit ist sowohl ein politisches Ehrenamt als auch eine berufs- und bildungsbiografische Phase!
Auch Gewerkschaften und Bildungsträger sind gefordert
Um diese erweiterte Perspektive zu etablieren und öffentlich zu thematisieren, benötigt es kommunikative Rahmen und Anlässe. Dafür sind auch Gewerkschaften und Bildungsträger gefragt. Sie können auf unterschiedlichen Ebenen das Thema auf die Agenda bringen und Diskussionsprozesse initiieren. Adressat*innen sind dabei nicht nur Betriebs- und Personalräte, sondern auch hauptamtliche und ehrenamtliche Gewerkschafter*innen auf den verschiedenen Ebenen: Bundesebene, Bezirksebene, Geschäftsstellen und betriebsbetreuende Sekretär*innen, um eine breite Verankerung zu erreichen. Letztlich sind die betreuenden Sekretär*innen erste Ansprechpersonen für Betriebsräte und Vertrauensleute, so dass hier sowohl Kenntnisse als auch eine Haltung zu biografischen Themen benötigt werden.
Gewerkschaften können den Weg bereiten, indem das Thema in Tagungen, Konferenzen, Trainee- und Mentoringprogramme sowie in die strategische Wahlvorbereitung integriert wird. Thematische Inputs wissenschaftlicher Erkenntnisse und praktischer Erfahrungen ermöglichen und eröffnen den Raum für Austausch und Diskussionen.
Für Bildungsanbieter im Feld der gesetzlichen Interessenvertretung gilt es, lebensphasensensibel zu agieren und Übergänge in den eigenen Angeboten mitzudenken. Wichtig ist beispielsweise in längerfristigen Bildungsangeboten die Einbettung in die Berufs- und Bildungsbiografie der Teilnehmenden zu thematisieren. Dafür sind angeleitete Reflexionsphasen zur eigenen Berufs- und Bildungsbiografie unterstützend. Solche Reflexionseinheiten können in Seminaren auch als Einstieg oder Abschluss integriert werden, z.B. mit der Frage: „Was bedeutet das Lernen in dieser Weiterbildung für meinen Entwicklungsweg?“. Auf Klausurtagungen von Gremien bieten sich wie oben im Fallbeispiel dargestellt ebenfalls unterschiedliche inhaltliche und methodische Möglichkeiten. Mehr dazu findest du im Manual aus dem Projekt Spurwechsel.
Seit den Projekten zu Karrierewegen und Übergängen von Betriebsratsmitgliedern hat sich schon etwas an öffentlicher Thematisierung getan, z.B.:
- Arbeitnehmerkammer Bremen: Workshop „Die Freistellung: Einbahnstraße oder Karrieresprungbrett?“ 2014
- Abschlussveranstaltung des Mentoringprogramms für Frauen in BR, PR + MAV der Bremer Gewerkschaften: Vortrag und Gespräch „Betriebsrätin und Personalrätin: Der „Kick-Off“ für meine Berufsbiografie?“ 2015
- DGB Bildungswerk: Herbstforum Generationswechsel, Übergangsmanagement und Wissensweitergabe professionell gestalten, Vortrag und Workshop „Übergangsmanagement und Berufsweggestaltung im Betriebsrat“ 2017
- Jahrestagung für Betriebsrät*innen der IG BCE: Vortrag und Podiumsgespräch „Betriebsratskarrieren – berufliche Perspektiven in der Betriebsratsarbeit“ 2018
- Arbeitnehmerkammer Bremen: Workshop zur Berufsweggestaltung und Kompetenzbilanzierung für Betriebs- und Personalräte 2018/2020
- IG Metall: Seminar „Spurwechsel – Berufsperspektiven von Betriebsrät*innen. Strategische Personalentwicklung im Betriebsrat“ seit 2019, 23.-26.08.2022
- ver.di Bildungswerk: After Work: Soll ich mich für die BR Wahlen 2022 aufstellen lassen?, Input und Podium „Persönliche Chancen und Möglichkeiten von Betriebsräten“ 2021
- ver.di Bildungswerk/ Bildungszentrum Walsrode: Seminar „Engagement im Betrieb als Entwicklungschance!? Standortbestimmung und Perspektiven“ 08.08.-12.08.2022
Durch die alle vier Jahre stattfindenden Wahlen bleibt das Thema jedoch immer aktuell und darf nicht aus dem Blick geraten!
Welche Funktionen hat die Thematisierung und Kommunikation?
Das dargestellte Agenda-Setting hat zugleich mehrere Funktionen.
Sensibilisierung bedeutet, dass biografische Aspekte und Berufswege von Betriebs- und Personalräten zunächst einmal zum Thema gemacht werden, z.B. beim Einstieg in den Betriebsrat, zur Übernahme von verantwortlichen Funktionen bzw. Freistellungen und der Ausstieg aus dem Amt bzw. der Wechsel in neue Tätigkeitsfelder.
Problematisieren bedeutet, dass der Blick für damit verbundene Herausforderungen geschärft wird. Diese Herausforderungen können die Gremien betreffen, wie z.B. Überalterung, geschlechtsspezifische Barrieren, fehlende Kandidaten*innen für die Wahl und für die Funktionen im Gremium. Herausforderungen stellen sich aber auch für die Einzelnen: Vereinbarkeit der Lebensbereiche, Sorgen vor Nicht-Wiederwahl oder Erfüllung von Karriere- und Entwicklungswünschen.
Die Themensetzung leistet einen Beitrag zur Enttabuisierung, weil deutlich wird, dass eine Betriebs-/Personalratsfunktion zugleich ein politisches Ehrenamt und auch berufs- und bildungsbiografische Phase ist. Dieses Thematisieren als berufsbiografische Phase holt die Artikulation beruflicher Entwicklungswünsche und Karriereambitionen aus der Tabu-Zone.
Inputs zu wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Thema können einen Legitimationsrahmen schaffen. Externe Referenten*innen verschaffen dem Thema ebenfalls ein Stück Objektivierung.
Die Anerkennung von individuellen Entwicklungswünschen ist aber auch ein Politikum. In Diskussionen entsteht zum Teil eine Polarisierung zwischen politischem Ehrenamt und persönlicher Karriereorientierung – nach dem Motto: „Wer eigene Karrierewünsche hat, da stimmen die politischen Werten nicht.“ Oder „Nur wer eigene Ambitionen aufgibt, ist engagiert genug im Ehrenamt“. Dabei tritt eine Orientierung zu Tage, die im Entweder-Oder verhaftet ist. Dies wird der aktuellen Komplexität nicht gerecht. Das Spannungsverhältnis lässt sich zwar nicht auflösen (wenn nicht eine Seite ausgeblendet wird), aber es hat sich gezeigt, dass beide Seiten gut nebeneinander bestehen können. Insofern wird im besten Fall mit der Thematisierung berufsbiografischer Aspekte des Ehrenamts auch eine Politisierung dieser erreicht.
Es geht darum, eine partizipative Grundlage für Personalentwicklung im Gremium zu schaffen.
Wie diese dann fortgesetzt wird, erfährst du im nächsten Blogbeitrag zum Handlungsfeld Nachwuchs fördern und Nachfolge planen.