Im 15-köpfigen Betriebsrat einer Pflegeeinrichtung gehen zur nächsten Wahl zwei langjährige Mitglieder in den Ruhestand und die freigestellte Vorsitzende wechselt in eine Führungsfunktion im ambulanten Bereich. Aufgrund der generellen Arbeitsüberlastung, fehlender Anerkennung der Betriebsratstätigkeit im Betrieb und persönlicher Motivation gestaltet sich die Gewinnung neuer Kandidaten*innen sehr mühselig. Schon jetzt gibt es keine Ersatzmitglieder mehr. Auch im bestehenden Gremium existiert große Zurückhaltung bei der Übernahme von mehr Verantwortung und dem Schritt in die Freistellung.
Vor ähnlichen Herausforderungen stehen viele Betriebsrats- und Personalratsgremien. Mit welchen Handlungsfelder sollten sich die Gremien kurz- und langfristig beschäftigen? Welche Unterstützung braucht es dazu?
Ist der Betriebsrat nicht gut aufgestellt oder scheitert eine Wahl gar an fehlenden Kandidaten*innen, steht die Interessenvertretung der Beschäftigten auf dem Spiel. Wenn Arbeitsbedingungen verschlechtert werden, fehlt ohne Betriebsrat das rechtliches Korrektiv. Betriebe mit Betriebsrat haben mehr Geschlechtergerechtigkeit, Weiterbildung, höhere Löhne. Die Personalfluktuation nimmt ab, es gibt weniger Arbeitskräftemangel, dafür mehr familienfreundliche Praktiken und flexible Arbeitszeitmodelle (Quelle: Hans Böckler Stiftung).
Kollektive und individuelle Übergänge im Betriebsrat
In dem oben geschilderten Fall stehen kollektive und individuelle Übergänge im Betriebsrat an:
Kollektiv – muss der Übergang vom bisherigen zum zukünftigen Gremium gestaltet werden. Hierfür müssen neue Mitglieder gewonnen, aktuelle Mitglieder für die Funktionsübernahme vorbereitet, ausscheidende Mitglieder verabschiedet und deren Wissen weitergegeben werden. Dies ist Personalplanung und -entwicklung im Gremium. Die aktuellen Aufgaben und Themen müssen so dokumentiert werden, dass sie nach der Wahl weitergeführt werden können. Es geht darum, Bilanz aus den letzten vier Jahren zu ziehen, zu wertschätzen, zu danken und für die Zukunft zu lernen. Nach der Wahl müssen die neuen Mitglieder mit ihren Ideen willkommen geheißen, weitergebildet und eingearbeitet werden. Dafür braucht es eine wertschätzende Willkommenskultur und ein Konzept, wie der gemeinsame Neustart gelingen kann.
Für die einzelnen Mitglieder – also individuell – entstehen beruflich-biografische Übergänge. Der Schritt in den Betriebsrat oder in eine Freistellung ist von unterschiedlichen Abwägungen begleitet: Wie passt dies in mein Leben? Wo will ich beruflich noch hin? Wie zufrieden bin ich aktuell in meinem Job? Entspricht dies meinen Interessen und Fähigkeiten? Was kann ich gestalten? Wie kann ich mich entwickeln? Auch beim Ausstieg und Wechsel der Funktion stellen sich Fragen: Erhalte ich einen guten Abschied und wird meine Arbeit gewürdigt? Wie bekomme ich den Rollenwechsel gut hin? Wie kann ich zukünftig mit dem Betriebsrat zusammenarbeiten? Nach der Wahl geht es darum, gut in der neuen Rolle und Funktion anzukommen. Man muss eine stimmige Balance finden zwischen Anerkennung der bisherigen Kultur und Arbeitsweise sowie dem Einbringen neuer Impulse und Veränderungsideen.
Vor ähnlichen Herausforderungen stehen viele Betriebsrats- und Personalratsgremien. Damit diese Übergänge gut gelingen und bestehende Chancen genutzt werden, müssen sie sowohl kollektiv als auch individuell reflektiert und bewusst gestaltet werden.
Welche Handlungsfelder gilt es zu bearbeiten?
Das Projekt Spurwechsel am Zentrum für Arbeit und Politik untersuchte, gefördert durch die Hans Böckler Stiftung, in welchen Bereichen Betriebs- und Personalräte sowie Gewerkschaften aktiv werden sollten, um solche Übergänge gelingend zu gestalten. Dabei kristallisierten sich vier Handlungsfelder heraus. Die Handlungsfelder stelle ich in diesem Beitrag im Überblick vor. In den kommenden Beiträgen auf dem Spurwechsel-Blog werden die einzelnen Handlungsfelder mit konkreten Empfehlungen und Beispielen beschrieben.
- Handlungsfeld: Kommunizieren, sensibilisieren, enttabuisieren
Persönliche und berufliche Entwicklungen innerhalb der Interessenvertretung, Ausstiegsüberlegungen und Befürchtungen rund um die BR-Wahl sind ein kaum behandeltes Thema in den Betriebs- und Personalräten sowie in den Gewerkschaften. Gleichzeitig haben wir in Spurwechsel mit unserer Themensetzung positive Erfahrungen gemacht. Mitglieder von Interessenvertretungen sind individuell durchaus mit diesen Themen beschäftigt, allerdings besteht nach wie vor ein gewisses Tabu, dies öffentlich zu kommunizieren. Es braucht eine erweiterte Perspektive! Betriebs- und Personalratsarbeit ist sowohl ein politisches Ehrenamt als auch eine berufs- und bildungsbiografisch bedeutsame Phase.
Um diese Perspektive zu etablieren und öffentlich besprechbar zu machen benötigt es einen kommunikativen Rahmen und Anlässe. Ziele sind ein gemeinsames Problemverständnis und eine Sensibilisierung für persönliche Motivationen und Entwicklungswünsche. Diese aus der Tabu-Zone zu holen, schafft auch Legitimation für einen gemeinsamen Umgang damit.
Das erste Handlungsfeld ist grundlegend für alle weiteren Handlungsfelder und bereitet den Weg für eine gelingende Übergangsgestaltung. Im Veränderungsmanagement ist das die Phase des „Auftauens“ (Lewin 1953). Wird diese Phase nicht ausreichend initiiert sowie kommunikativ und beteiligungsorientiert gestaltet, können Widerstände im Gremium die Umsetzung von Maßnahmen und Ideen behindern. Was heißt Sensibilisieren konkret?
Mehr dazu im nächsten Beitrag …
- Handlungsfeld: Nachwuchs fördern und Nachfolge planen
Das zweite Handlungsfeld bezieht sich auf den Einstieg in den Betriebsrat und die Entwicklung im Gremium, z.B. die Übernahme von Verantwortung in Funktionen wie Ausschusssprecher*in, Stellvertretung, Vorsitz bzw. die Übernahme einer Freistellung.
Das Denken in Übergängen beginnt bereits bei der Suche nach geeigneten Kandidaten*innen für die Interessenvertretung. Es stellt sich nicht nur die Frage, wer für eine Kandidatur zur Verfügung steht, sondern auch, wie ein gelingender Einstieg gestaltet werden kann. Es geht um die Weiterentwicklung des Gremiums und seiner Mitglieder, um eine fortlaufende Professionalisierung und weiterhin um eine Kontinuität bei Wechseln in der Zusammensetzung (z. B. durch Rentenausstiege). Eine anspruchsvolle Aufgabe, die in der Koordination meist von den Vorsitzenden bzw. den Freigestellten übernommen wird, die aber nicht ohne Beteiligung der Mitglieder funktioniert. Ansätze aus der Personalplanung und -entwicklung haben hierbei eine wesentliche Bedeutung. Ein zentraler Aspekt ist in diesem Feld der Wissenstransfer. Was können Betriebsräte tun, um hier gut aufgestellt zu sein?
Dazu mehr in den nächsten Beiträgen auf unserem Blog …
- Handlungsfeld: Kompetenzen erfassen, dokumentieren und anerkennen
Das dritte Handlungsfeld schließt an eine seit ca. 20 Jahren bestehende bildungspolitische Diskussion um das Thema Validierung non-formal und informell erworbener Kompetenzen an. Dies meint die Anerkennung von Kompetenzen die in beruflichen, ehrenamtlichen und familiären Tätigkeiten, sozusagen „Learning by doing“ und in Weiterbildungen erworben werden. Die Diskussion ist getragen von einer Aufwertung nicht-schulischen Lernens. Bildungspolitisch spielt dabei die Hierarchie der Lernwege – formales (u. a. Schule, Ausbildung, Studium), non-formales (u. a. Weiterbildung) und informelles Lernen (u. a. „im Prozess der Arbeit“ oder „im Ehrenamt“) – eine große Rolle. Ziel der Anerkennung ist eine Gleichwertigkeit von formal und informell erworbenen Kompetenzen. An diese Aspekte knüpft auch das Handlungsfeld im Rahmen der Interessenvertretung an. Die Tätigkeit und das Engagement in der betrieblichen Interessenvertretung ist für die Einzelnen eine enorme Lern-, Weiterbildungs- und Entwicklungsphase, für welche es jedoch bisher keine formalen Abschlüsse gab. Dies hat massive Auswirkungen auf mögliche Berufswege und damit sowohl auf die Kandidaten*innengewinnung als auch auf die Anschlussperspektiven von langjährig Engagierten. Die Erfassung, Dokumentation und Anerkennung der erworbenen Kompetenzen ist ein wesentlicher Aspekt für Zukunftsperspektiven der Einzelnen und der Gremien. Hier können einerseits die Gremien selbst aktiv werden. Für übergreifende Lösungen braucht es aber die Initiative der Gewerkschaften und die Unterstützung durch die Bildungsträger. Mehr zum Thema Anerkennung von Kompetenzen aus der Tätigkeit in Betriebsrat und Personalrat ist im Online Magazin Denk-doch-Mal zu lesen.
- Berufliche Perspektiven entwickeln und planen
Das vierte Handlungsfeld bearbeitet den Übergang aus der Interessenvertretung in den ursprünglichen oder einen neuen Beruf. Übergang meint dabei sowohl den Ausstieg aus dem Betriebsrat als auch das Ankommen in der neuen Funktion.
Durch Betriebsschließungen, Personalabbau, wechselnden politischen Mehrheiten und zeitlich befristetem Engagement gewinnen Exit-Optionen an Bedeutung. Die Gewinnung von neuen Kandidaten*innen und die Bereitschaft, sich für die Interessensvertretungsarbeit freistellen zu lassen, hängen auch von beruflichen Zukunftsperspektiven ab. Eine gelingende Übergangsgestaltung denkt den möglichen Ausstieg schon beim Einstieg mit und bereitet berufliche Perspektiven vor. Unterschiedliche Entwicklungswege und Laufbahnen sollten schon im Gremium ermöglicht und entwickelt werden. Unterschiedliche Berufswege untersuchten wir am zap in einem Forschungsprojekt. Die Ergebnisse sind in dem Buch: Tietel, Erhard/Hocke, Simone (2015) „Nach der Freistellung. Beruflich-biografische Perspektiven von Betriebsratsmitgliedern“ dargestellt.
Zur Bewältigung dieser vier Handlungsfelder und zur gelingenden Gestaltung der Übergänge benötigen Betriebs- und Personalräte die Unterstützung der Gewerkschaften und der Bildungsanbieter. Diese können Rahmenbedingungen schaffen sowie Know How und Beratung bieten.
Was bedeuten diese Handlungsfelder nun konkret für das eingangs beschriebene Betriebsratsgremium?
In allen vier Feldern gibt es Handlungsoptionen, Erfahrungen und gelungene Beispiele von denen profitiert werden kann. Diese haben wir im Projekt Spurwechsel mit Gewerkschaften und Bildungsträgern erarbeitet und zusammengetragen. Der heutige Beitrag stellt den Auftakt einer Beitragsserie zu Empfehlungen und Hinweisen in den vier Handlungsfeldern dar, die auf unserem Spurwechsel-Blog erscheinen wird. Auf der Startseite kann unser Newsletter zapBR-/PR-Info abonniert werden, in dem wir u.a. über neue Blogbeiträge informieren.
Zum Weiterlesen: Hocke/ Neuhof (2018): Übergänge in der Interessenvertretung gestalten. Handlungsempfehlungen für Betriebs- und Personalräte, Bildungsanbieter und gewerkschaftliche Akteure. Reihe: Study der Hans-Böckler-Stiftung, Nr. 399. Download: https://www.boeckler.de/pdf/p_study_hbs_399.pdf
Liebe Simone,
das ist ein sehr nützlicher und vor allem ein sehr anschaulicher Beitrag. Auch der Hinweis auf deinen Beitrag zum Thema Anerkennung von Kompetenzen aus der Tätigkeit in Betriebsrat und Personalrat im Online Magazin Denk-doch-Mal ist sehr inspirierend.
In der neuen Ausgabe des Magazin Mitbestimmung der Hans Böckler-Stiftung gibt es unter dem Titel „Jünger und bunter“ ebenfalls einen Beitrag zum Generationenwechsel im Betriebsrat. Siehe:
https://www.boeckler.de/de/magazin-mitbestimmung-2744-33667.htm