Das „Einführungsprojekt“ in der Geographie: Professor Ivo Mossig erhält Preis für innovative Lehre

Interview mit Ivo Mossig

Bereits im ersten Bachelorsemester eigene Forschungserfahrungen sammeln und einen gesamten Forschungszyklus durchlaufen – dies wird Studierenden durch das sogenannte „Einführungsprojekt“ in der Geographie an der Universität Bremen ermöglicht. Für dieses innovative Modul wurde Prof. Dr. Ivo Mossig vom Verband für Geographie an deutschsprachigen Hochschulen und Forschungseinrichtungen (VGDH) ausgezeichnet. Für die Resonanz beantwortet er Fragen zum Projekt, das im Rahmen von ForstAintegriert umgesetzt wurde.

Welches sind die zentralen Aspekte des „Einführungsmoduls“?

Im „Einführungsprojekt“ geht es um Forschendes Lernen von Anfang an. Das wesentliche Ziel eines Hochschulstudiums besteht doch darin, dass die Studierenden vertiefte Fachkenntnisse erwerben und selbstständig wissenschaftlich arbeiten können. Spätestens im Zuge der Bachelorarbeit gilt es, eine relevante Fragestellung zu formulieren und eigenständig nach fachwissenschaftlichen Standards zu bearbeiten. Darauf müssen die Studierenden vorbereitet werden und eine entsprechende Haltung entwickeln: „Hey, ich bin an einer Universität und will eine forschende Person werden.“ Deshalb müssen wir Lehrenden sie während des Studiums auch als angehende Forschende ansprechen und mit entsprechenden Aufgaben konfrontieren. Dies geschieht im Einführungsprojekt. In Kleingruppen bearbeiten sie eine selbstgewählte Fragestellung mit einer eigenen kleinen Empirie und präsentieren die Ergebnisse auf einem Poster institutsöffentlich. Dabei werden sie intensiv begleitet, denn das Einführungsprojekt ist mit 9 CP und 4 SWS vergleichsweise prominent im Curriculum verankert.

Ist Forschendes Lernen direkt im ersten Semester überhaupt möglich?

Ein gängiger Einwand gegen Forschendes Lernen besteht darin, dass die Umsetzung im Bachelor zu früh sei, weil die Studierenden nicht genügend Vorkenntnisse hätten. Die Grundlagen würden fehlen, um selbst forschend aktiv zu werden. Dem entgegnen wir, dass die Studierenden selbstverständlich über ein Vorwissen verfügen. Das mag noch vergleichs­weise undifferenziert sein und eventuell sogar im Widerspruch zu aktuellen Lehrinhalten des Studiums stehen, aber es existiert. Es sind doch gerade dieses Vorwissen und die darauf aufbauenden Erwartungen, weshalb sich die Erstsemester für ein Studienfach entschieden haben. Durch die Bearbeitung selbstgewählter Fragestellungen befassen sich die Studierenden mit Themen, die sie motiviert haben, Geographie zu studieren. Sie können an ihre Erwartungen und an ihr Vorwissen anknüpfen. Es zeigt sich, dass die Studierenden sehr unterschiedliche Vorstellungen über Inhalte, Methoden und Praxisrelevanz des Faches Geographie haben. Im Modul „Einführungsprojekt“ gibt es den Raum, um sich damit aktiv auseinanderzusetzen. Durch die enge Begleitung bei der Bearbeitung der individuellen Themen trägt das Format zur Entwicklung einer kritisch-reflektierten fachlichen Identität bei. Gerade wenn die universitären Inhalte sich vom Schulstoff unterscheiden, scheint diese Form der Auseinandersetzung fruchtvoll zu sein, weil eben nicht wie in einer Vorlesung – überspitzt formuliert – einem vorgegebenen Stoff „blind“ hinterhergelernt werden muss, der per Instruktion vermittelt wurde.

Gibt es im Bachelor Geographie etwa keine Vorlesungen?

Doch, auch wir kommen aus verschiedenen Gründen nicht an Vorlesungsformaten vorbei und finden diese auch nicht per se schlecht. Jedoch haben wir jetzt den einführenden Vorlesungen zu Beginn des Studiums bewusst das Einführungsprojekt an die Seite gestellt und zwar aus folgendem Grund: In jedem Semester brauchen sie eine gute Balance zwischen einem Input, den die Studierenden von den Dozentinnen und Dozenten erhalten und einem Lern-Output, den die Studierenden selbst erzeugen. Im KollegInnenkreis verwenden wir dafür gern die Metapher vom gleichmäßigen Ein- und Ausatmen. Wenn ich das etwas überzeichnen darf, dann ähnelt ein „klassischer“ Studienverlauf mit einer Vermittlung der Grundlagen per Instruktion im ersten Studienjahr, einer Vertiefung im zweiten Jahr und den Arbeiten an der Bachelorthesis einem einzigen langen Atemzug. Es beginnt mit einem über zwei Jahre gestreckten Einatmen der Grundlagen und der vertiefenden Kenntnisse zu Beginn und dem Ausatmen der Bachelorarbeit zum Schluss. Wir streben demgegenüber an, dass die Studierenden mit mehreren Atemzügen durchs Studium gehen. Sie sollen in jedem Semester sowohl Inputs einatmen als auch eigene Wissensprodukte aktiv ausatmen. Das Modul „Einführungsprojekt“ im ersten Semester ist daher bewusst neben die zwei Einführungsvorlesungen zu Grundlagen der Humangeographie und der Physischen Geographie platziert worden, um dem Input per Instruktion in den Vorlesungen ein großes Projektmodul als Gegengewicht an die Seite zu stellen. Dadurch wurde ein Ort geschaffen, an dem die Studierenden gleich zu Beginn ihre Vorstellungen vom Studienfach artikulieren, ausprobieren und unterstützt durch umfangreiches Feedback reflektieren können.

Abbildung 1: Prof. Dr. Ivo Mossig mit Prof. Dr Boris Braun, der als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des VGDH die Preisverleihung übernommen hat.

Bei der Preisverleihung auf dem Deutschen Kongress für Geographie haben Sie das Einführungsprojekt als „Sprungbrett ins Studium“ bezeichnet. Was verbirgt sich hinter dieser Formulierung?

Dies betrifft einen zweiten zentralen Aspekt. Das Modul „Einführungsprojekt“ findet im ersten Semester statt. In der Studieneingangsphase sind die Studierenden mit einer Vielzahl an Herausforderungen konfrontiert, die über das Erlernen des Stoffes in den einzelnen Veranstaltungen hinausgehen. Die Fachliteratur unterscheiden dabei (a) die fachliche, (b) die personale, (c) die organisatorische sowie (d) die soziale Dimension. Wir haben in jeder Sitzung eine „Info der Woche“ integriert, um zentralen Herausforderungen des Studieneinstiegs zu begegnen. Viele der „Infos der Woche“ sind bereits Gegenstand der Veranstaltungen in der Orientierungswoche gewesen. Allerdings haben wir die Erfahrung gemacht, dass viele Botschaften der Orientierungswoche nicht dauerhaft im Gedächtnis der Studierenden haften bleiben. Wir führen dies darauf zurück, dass die Informationsflut in der Orientierungswoche einfach zu groß ist. So fokussiert sich nach unserer Beobachtung die Mehrheit der StudienanfängerInnen in der Orientierungswoche auf die mitunter sehr komplexe Zusammenstellung des individuellen Stundenplans, auf die Orientierung auf dem Campus mit dem Auffinden der Veranstaltungsräume sowie auf die Anmeldung in die gewünschten Veranstaltungen in Stud.IP. Den zudem angebotenen Informationen zu bestehenden Beratungsangeboten, zu den Möglichkeiten eines Auslandsaufenthalts, zur Mitbestimmung in universitären Gremien oder zu den formalen Abläufen im Prüfungswesen wird in der Orientierungswoche hingegen kaum Aufmerksamkeit zuteil. Ich konnte es dann irgendwann nicht mehr hören, wenn es von Seiten der Betreuenden hieß: „Das haben wir euch doch alles schon in der O-Woche erzählt. Warum wisst Ihr das denn jetzt nicht?“ Also haben wir die „Info der Woche“ eingeführt und die Informationen nochmals dann zu geben, wenn diese konkret gebraucht werden. So werden die Anmeldung zur Modulprüfung und die Prüfungsmodalitäten in der ersten Dezemberwoche erklärt, wenn zeitgleich der Anmeldezeitraum in PABO beginnt und die Anmeldungen direkt vorgenommen werden können. Der Besuch in der SuUB findet zu dem Zeitpunkt statt, wenn die Gruppen mit der Literaturrecherche zu ihrer selbstgewählten Fragestellung beginnen usw. Die begleitenden Evaluierungen haben gezeigt, dass sich die Studierenden durch die „Info der Woche“ gut unterstützt fühlen und dieses Format sehr schätzen.

Das „Ankommen“ an der Hochschule in der Studieneingangsphase ist das eine, aber wie wirkt das „Einführungsprojekt“ als Sprungbrett in das gesamte Studium?

Damit das Modul „Einführungsprojekt“ seine Wirkung als Sprungbrett in das Studium entfaltet, wurde es im Zuge einer umfangreichen Reform des Bachelorstudiengangs Geographie eingeführt und bezüglich der Lernziele und Prüfungsformen auf die anderen Module abgestimmt. So finden sich ergänzende Elemente zum Erlernen wissenschaftlicher Arbeitsweisen im Proseminar des zweiten Semesters, wenn u.a. in Schreibwerkstätten das wissenschaftliche Schreiben vermittelt wird. Die Wahlpflichtmodule des zweiten Studienjahrs verfolgen das Ziel, die vertiefenden Fachinhalte mit Methoden und Praxisanteilen zu verzahnen. Dies ist in den neu gefassten Modulbeschreibungen verankert. Im 5. Fachsemester findet dann ein weiteres Studienprojekt statt, damit die Projektarbeit im ersten Semester kein Einzelfall bleibt.

Welche Vorteile haben Absolventinnen und Absolventen in der Arbeitswelt, wenn sie forschend gelernt haben?

Das Erkennen und Formulieren relevanter Fragen und deren Bearbeitung ist eine Kompetenz, die sich nicht von allein entwickelt, sondern im Studium eingeübt werden muss. Auch im Berufsleben sind wir immer wieder aufgefordert, herauszufinden, worin das eigentliche Problem besteht und müssen dann einen dazu passenden Lösungsweg finden. Zudem findet Projektarbeit in Kleingruppen statt. Heutzutage wird ein immer größerer Anteil der Arbeit in Projektzusammenhängen organisiert. Teamfähigkeit oder eine faire Aufteilung der Arbeitspakete werden entsprechend im Einführungsprojekt adressiert. Auch hier geben wir zielgerichtete Inputs, die Gruppenarbeit nach Prinzipien des Projektmanagements zu organisieren. Dazu gehört auch, sich zu Beginn nicht nur auf das gemeinsame Projektziel, sondern auch auf gemeinsame Gruppenregeln zu verständigen und diese notfalls einzufordern, damit die Gruppenarbeit gelingt.

Über den Autor:

Ivo Mossig, Professur für Humangeographie mit dem Schwerpunkt Wirtschafts- und Sozialgeographie an der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: Globalisierung und zwischenstaatliche Verflechtungen, Standorte und Produktionssysteme der Kultur- und Kreativwirtschaft, Clusterevolution, Einzelhandel und Entwicklung innerstädtischer Geschäftszentren. Ivo Mossig ist Mitglied im Netzwerk Lehren, Mitglied des Arbeitskreises Hochschullehre Geographie sowie im ForstA-ExpertInnenkreis der Universität Bremen. 2010 wurde er mit dem Berninghausen-Preis und 2019 mit dem Lehrpreis des Verbands für Geographie an deutschsprachigen Hochschulen und Forschungseinrichtungen (VGDH) ausgezeichnet.

Bildnachweise:

Autorenfoto: Ivo Mossig
Abbildung 1: Brüggemann

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