Im Oktober 2018 machte das Schiff „Aquarius“ der Bremer Reederei Jasmund Shipping Schlagzeilen. Nachdem erst Gibraltar das Schiff der Seenotrettungsorganisation SOS Mediterranee aus seinem Schiffsregister gestrichen hatte, entzog auch der neue Flaggenstaat Panama dem Schiff das Recht unter seiner Flagge zu fahren. Die „Aquarius“ verkehrte zuvor zwischen Libyen und Italien und rettete über 30.000 Menschen das Leben. Italien, das sich mit der Aufnahme der geretteten Menschen der „Aquarius“ konfrontiert sah, drohte Panama (dem Flaggenstaat) damit, dass Schiffe unter panamaischer Flagge keine europäischen Häfen mehr anlaufen dürften.
Diese Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht und das mittelamerikanische Land handelte und entzog der „Aquarius“ die Flagge. Der Schritt von Panama war ungewöhnlich, ebenso die vorherige Ausflaggung durch Gibraltar meint Christoph Hempel, bei dessen Reederei die Seenotrettungsorganisation das Schiff im Jahr 2016 gechartert hatte. Im Dezember 2018 beendete die SOS Mediterranee schließlich den Einsatz des Schiffes, da das Flaggenproblem nicht gelöst werden konnte.
Über den Entzug der Flagge meint Hempel zum Weser Kurier, dass dies „in den letzten 20 Jahren […] nur vier Mal passiert (Golitschek 2018)[sei].“ Seine Reederei hatte die „Aquarius“ unter gibraltaischer und dann panamaischer Flagge angemeldet, um Kosten zu sparen. Die Registerlöschung aus politischen Gründen ist beispiellos, die allgemeine Praxis des Ausflaggens, also der Registrierung eines Schiffs außerhalb des Heimatlandes des Eigentümers, ist gängige dagegen Praxis.
Das Ausflaggen von Schiffen wird bereits seit geraumer Zeit praktiziert. So gibt es bereits in der Zeit des Römischen Reichs Belege, dass Schiffe eine andere Flagge als ihre Heimatflagge (ÖZÇAYIR 2000: 1) hissten , um Vorteile für sich zu generieren. Im Zuge der Diskussion um die Einführung einer Unfallversicherung im Jahr 1887 drohten deutsche Reeder ihre Schiffe unter einer anderen als der deutschen Flagge (Küttner 2000: 97) fahren zu lassen. Diese Drohung hatte zwar keinen Erfolg (Gerstenberger 2002: 17), aber sie verdeutlicht, dass die Anfänge der Praxis des Ausflaggens weit zurückliegen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden Handelsschiffe häufig aus militärischen Gründen ausgeflaggt. Fuhr ein solches unter einer kriegsführenden Flagge, so musste es damit rechnen vom entsprechenden Kriegsgegner als Prise (Núnez-Müller 1994: 33) genommen zu werden. Fuhr das Schiff dagegen unter einer neutralen Flagge – flaggte also um – beseitigte es dieses Risiko und auch mögliche Seeblockaden konnten auf diese Art und Weise vermieden werden. Auch der Schutz vor Piraterie (Núnez-Müller 1994: 34) durch Eingreifen der entsprechenden war eine Ursache des Ausflaggens.
Die erste große Welle des Ausflaggens setzte nach Ende des 1. Weltkrieges ein. Der Grund war recht simpel: Alkoholkonsum. In der Zeit der US-Prohibition durften US-amerikanische Schiffe keinen Alkohol ausschenken, unter der panamaischen Flagge war es ihnen aber erlaubt. In dieser Zeit wurden auch die sogenannten „offenen“ Schiffsregister eingeführt, die neben den „eigenen“ nationalen Schiffen, auch die Schiffe anderer Staaten aufnehmen konnten. Den Anfang machte Panama, bald darauf kam Honduras hinzu. In den 1920ern wurde außerdem ein Vertrag zwischen den USA und Panama geschlossen (Alderton/Winchester 2002: 182), der festlegte, dass Profite aus der Schifffahrt in Panama nicht zu verteuern seien. Dies bedeutete natürlich erhebliche Wettbewerbsvorteile. Als die USA dann noch weitere Gesetze verabschiedete, die die Erhöhung der Lohnkosten auf Schiffen zur Folge hatte, flaggten immer mehr Schiffe aus. Auch europäische Schiffe (Alderton/Winchester 2002: 182) nutzten daraufhin die Möglichkeit der Kostensenkung. Im Jahr 1948 wurde ein neues liberianisches Seerecht konstituiert (Alderton/Winchester 2002: 182), wodurch auch Liberia den Markt der offenen Schiffsregister betrat. Für diese drei Staaten wurde der Begriff der sogenannten „Panlibhon“ Staaten geprägt.
Die Flaggenstaaten, deren Nutzung wesentliche Kostensenkung in der Schifffahrt ermöglichen, werden als sogenannte „Flags of Convenience“, also als Billigflaggen bezeichnet. Bereits im Jahr 1939 wurde die panamaische Flagge als „convenient“ bezeichnet. Der Begriff der „Flag of Convenience“ etablierte sich aber erst in den 1950ern (Alderton/Winchester 2002: 182). Bekannt wurde der Terminus durch eine Kampagne gegen diese Billigflaggen durch die International Transport Worker´s Federation 1948 (Alderton/ Winchester 2002: 182). Eine Flagge sei laut der Federation eine Billigflagge, „wenn der ökonomische Nutzen aus einem Schiff und die tatsächliche Kontrolle über seinen Betrieb sich in einem anderen Land befinden als in dem Land, dessen Flagge das Schiff führt.“ (Alderton/Winchester 2002: 183).
In den 1950ern bis 1973 wuchs die internationale Produktion und der internationale Handel stark an. Letzterer geschah vorwiegend über den Seeweg (Gerstenberger 2002: 18). In der guten Konjunktur der Nachkriegsjahre des 2. Weltkrieges wurde das Instrument der Ausflaggung eher sparsam (Gerstenberger 2002: 18) genutzt. Als nach der ersten Ölkrise die Wirtschaft stark abschwächte wurden jedoch sehr viele Schiffe ausgeflaggt. Ab den 1980ern stieg die Anzahl ausgeflaggter Handelsschiffe (Gerstenberger 2002: 25) dramatisch. Um die Abwanderung in offene Register zu reduzieren wurde von den europäischen Staaten damit begonnen sogenannte Offshore-Register aufzubauen, die günstigere Bedingungen für die Reedereien schafften.
Die Praxis des Ausflaggens mit den damit einhergehenden Steuerverlusten und Arbeitsschutzdefiziten stieß und stößt bei den betroffenen Staaten verständlicherweise auf Kritik. So wurde 1982 in der „United Nations Convention on the Law of the Sea” eine “echte Verbindung” zwischen Schiff und Flaggenstaat (Alderton/Winchester 2002: 183) verlangt. Auch der Internationale Währungsfonds äußert immer wieder ihr Missfallen über die Praxis und erklärt das Ausflaggen sei einer der wichtigsten Ursachen für das sogenannte „schwarze“ Loch (Gerstenberger 2002: 25) – dem Fehlbetrag in der Weltbuchführung über Importe und Exporte. Trotz des eigentlich geltenden Prinzips der „echten Verbindung“ zwischen Schiff und Flagge verbreitete sich das Ausflaggen immer weiter. Die Gründe für Ausflaggungen lagen früher eher im militärischen, kriegsbedingten heutzutage im ökonomischen Bereich und dienen vor allem der Kosteneinsparung. So sparen die Redereien an den Heuern, den Steuern und den Abgaben. Problematisch sind Ausflaggungen für die Schiffscrew, die dann beispielsweise nicht mehr unter deutschen, sondern panamaischen Arbeitsrichtlinien arbeiten. 1982 wurde „The Paris Memorandum of Understanding“ von 14 europäischen Staaten verabschiedet (Gerstenberger 2002: 33), das Hafenstaatskontrollen, also die Kontrolle der Handelsschiffe unabhängig von ihrer Flagge ermöglichte. In den 1990ern wurden die Hafenstaatskontrolle auf weitere Regionen der Welt ausgeweitet, jedoch ist die Wirkung dieser Kontrollen nur begrenzt.
Im Jahr 2018 war Panama mit 6.398 Handelsschiffen das Land mit der größten Schiffsflotte (Marinekommando 2019: 122) und so auch der Favorit unter den Flaggenstaaten. Im gleichen Jahr waren nach § 7 des Flaggenrechtsgesetzes (FLRG) 1812 Schiffe deutscher Eigner und Reedereien ausgeflaggt (Marinekommando 2019: 183). Die Top 3 der beliebtesten Staaten waren dabei Antigua und Barbuda, Liberia und Portugal. Nur 302 Schiffe der deutschen Handelsflotte fuhren im gleichen Jahr unter der deutschen Flagge. Von 1990 hat die Zahl der Schiffe der deutschen Handelsflotte von 1064 auf die benannten 302 abgenommen.
Die aktuellsten Zahlen aus Mai 2020 zeigen, dass nach der Bruttoraumzahl immer noch Antigua und Barbuda die meiste Fracht deutscher ausgeflaggter Handelsschiffe transportieren (Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie).
Literatur
- Alderton, Tony/Winchester, Nik (2002): Internationale Regulierungen und die Praxis von Flaggenstaaten. Eine globale vergleichende Analyse, In: Gerstenberger, Heide/ Welke, Ulrich (Hrsg.), Seefahrt in Zeichen der Globalisierung, übersetzt von Heide Gerstenberger. Münster: Westfälisches Dampfboot, 180-196
- Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie. Bestand der nach §7 FIRG ausgeflaggten Handelsschiffe ab BRZ 100. Abrufbar unter: https://www.bsh.de/DE/THEMEN/Schifffahrt/Deutsche_Handelsflotte/_Anlagen/Downloads/Statistik-BBC.pdf;jsessionid=D993369520240AE1907FDE7CD423F7EE.live11292?__blob=publicationFile&v=32 (Zugriff am 8.6.2020)
- Drobnig, Ulrich (1989): Billige Flaggen im Internationalen Privatrecht. In: Rechte der Flagge und „Billige Flaggen“ – Neuere Entwicklungen im Internationalen Privatrecht und Völkerreicht, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, 31, Heidelberg: C.F. Müller Juristischer Verlag GmbH
- Gerstenberger, Heide (2002): Ein globalisiertes Gewerbe. In: Gerstenberger, Heide/ Welke, Ulrich (Hrsg.), Seefahrt in Zeichen der Globalisierung, übersetzt von Heide Gerstenberger. Münster: Westfälisches Dampfboot, 10-41
- Golitschek, Niklas (2018): “Aquarius”-Crew: “Ohne Flagge können wir nicht retten” In: Weserkurier am 8.10.2018. Text abrufbar unter: https://www.weser-kurier.de/bremen/bremen-stadt_artikel,-aquariuscrew-ohne-flagge-koennen-wir-nicht-retten-_arid,1774350.html (Zugriff am 2.6.2020)
- Küttner, Sybille (2000): Farbige Seeleute im Kaiserreich. Asiaten und Afrikaner im Dienst der deutschen Handelsmarine. Hamburg: Sutton Verlag
- Marinekommando, Jahresbericht 2019. Text abrufbar unter: https://www.bundeswehr.de/resource/blob/156014/fa1039c05301b9c63ad642c683880778/jahresbericht-marinekommando-2019-data.pdf (Zugriff am 8.6.2020)
- Núnez-Müller, Marco (1994): Die Staatszugehörigkeit von Handelsschiffen im Völkerrecht: Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Flaggenverleihung unter besonderer Berücksichtigung der sog. Billigflaggen, Dissertation Universität Hamburg 1994, Berlin
- Özçayir, Z Oya (2000): Flags of Convenience and the Need for International Co-operation, In: International Maritime Law, Vol. 7, Nr. 4, Mai 2000, S. 111–117.
Danke für den interessanten Beitrag! Tatsächlich ist die Ausflaggung auch politikwissenschaftlich ein spannendes Thema, weil es offenbar nicht gelingt das Prinzip der echten Verbindung international durchzusetzen. Welche Vorteile haben eigentlich die Flaggenstaaten und wie genau funktionieren die Hafenstaatskontrollen?
Danke für die Frage! Sind mit Flaggenstaaten die Billigflaggen-Staaten gemeint? Diese haben den Vorteil, dass die bei ihnen registrierten Schiffe niedriger als durch die „Heimatregister“ der Reedereien/Eigentümer besteuert werden. Das führt zu geringeren Lohnkosten, geringeren Sozialleistungen für die Schiffscrew als auch einer geringeren Besteuerung der Erträge der Handelsschiffe.
Im Rahmen der Hafenstaatkontrollen überprüfen die Unterzeichnerstaaten des Pariser Memorandum auf Basis einheitlicher internationaler Normen ausländische Handesschiffe, die die Häfen der jeweiligen Staaten anlaufen. Dabei werden unangekündigt sowohl der technische Zustand als auch die Arbeitsbedingungen der Besatzungsmitglieder kontrolliert. Bei einem zu schlechten Zustand der überprüften Schiffe können diese sogar festgehalten werden („Detention“). Da die Mängel in die europäische Kontrollbank THETIS eingetragen werden können auch andere Hafenstaaten kontrollieren, ob die Mängel behoben wurden. Auf der Grundlage der Kontrollergebnisse werden jährliche Berichte erstellt und spezielle Kategorien der Flaggenstaaten erstellt. Auf der Weißen Liste stehen die Flaggenstaaten, die am wenigsten Mängel auf ihren Handelsschiffen zu verzeichnen hatten, während auf der Grauen Liste die Staaten mit Mängeln im mittleren Bereich und auf der Schwarzen Liste entsprechend diejenigen mit den meisten Mängeln stehen. Handelsschiffe unter einer Flagge der Schwarzen Liste, werden am häufigsten kontrolliert.
Danke für die Erläuterungen! Kann man die eiße und schwarze Liste irgendwo einsehen? Kriegt man irgendwie heraus, wie stark die Billigflaggenstaaten durch Steuereinnehmen etc. von den Ausflggungen profitieren?
Ja die aktuellen Listen kann man hier https://www.parismou.org/detentions-banning/white-grey-and-black-list einsehen.Ich habe etwas recherchiert, aber keine Daten zu den Steuereinnahmen der Billigflaggenstaaten gefunden, was aber wirklich sehr spannend wäre!