von Natascha Ueckmann, Änne Gerdes und Andrea Dassing
In der heutigen Zeit rückt die Frage, wie ein Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher ethnischer und sozialer Herkunft sowie religiöser Orientierung gestaltet werden kann, zunehmend in den Vordergrund. Durch die künstlerischen Zugänge des Theaters eröffnen sich neue und vielschichtige Möglichkeiten, sich diesen gesellschaftlichen Fragen spielerisch-experimentell zu stellen und politisches Handeln zu erproben. In einem engen Zusammenhang mit kultureller Pluralität stehen auch spezifische Themen wie Flucht und Migration, mit denen sich das hier vorgestellte deutsch-französische Lehrprojekt befasst.
[1] Ein ausführlicher Beitrag zu diesem Lehrprojekt erscheint in: Maria Lieber, Christoph O. Mayer, Rebecca Schreiber (Hg.): Kulturwissenschaftliche Impulse in Theorie und Praxis: Integration – Evolution? Revolution?, Frankfurt a.M.: Lang 2018.
Forschendes Lernen zwischen Wissenschaft und Theaterpraxis
Das Projekt bewegt sich an den Schnittstellen von Wissenschaft, Kultur- und Theaterpraxis und verbindet künstlerische und universitäre Zugänge. Das bilaterale Theaterprojekt, welches im März 2017 in Berlin startete und im Juli 2017 in Avignon fortgesetzt wurde, führte 25 Studierende der beiden Universitäten Bremen und Avignon zusammen, um vertiefte Einblicke in das kulturelle Leben der beiden Nachbarn Deutschland und Frankreich zu ermöglichen. Die Studierenden erlebten und diskutierten in zwei europäischen Städten gemeinsam Theater und erprobten Möglichkeiten dieser Kunst in praxisorientierten Ateliers. Organisiert und pädagogisch umgesetzt wurde das Projekt durch Dozentinnen der Université d’Avignon, die Germanistin Marianne Beauviche und die Theaterwissenschaftlerin Sophie Gaillard, sowie die langjährige Bremer Romanistin Natascha Ueckmann. Vom 27. bis 31. März 2017 trafen sich die deutschen und französischen Studierenden, unter denen sich auch italienische und chinesische Austauschstudierende befanden, zunächst in Berlin, um vor Ort in das aktuelle Theatergeschehen einzutauchen. Im Mittelpunkt stand das so genannte „Postmigrantische Theater“. Theaterbesuche mit Hintergrundgesprächen im Maxim Gorki Theater, Ballhaus Naunynstraße, Heimathafen Neukölln und in der Schaubühne veranschaulichten das besondere Potential von Theater im Umgang mit Migration, Flucht und kultureller Differenz. Im Sommer (6.-13. Juli 2017) folgte der Gegenbesuch in Avignon während des europaweit bekannten Theaterfestivals.
Gemäß den Zielsetzungen des Forschenden Lernens (vgl. Huber et al. 2013, Mieg/Lehmann 2017) stand im Zentrum die eigenständige Entwicklung von Forschungs- bzw. Interviewfragen, die Überprüfung der erarbeiteten Hypothesen im Team und ihre kritische Reflexion sowie die Generierung neuer Erkenntnisse zur Theaterpraxis. Gemeinsam wurden in Berlin eine Kartographie, ein Glossar, eine Bibliographie zum Forschungsstand sowie Theateranalysen und Interviews mit Theater- und Filmexpertinnen erarbeitet. Das den Gruppenarbeiten zugrundeliegende pädagogische Konzept entwickelten Sophie Gaillard und Marianne Beauviche. Die nachhaltige Gestaltung des Lernprozesses durch aktive Beteiligung der Studierenden in unterschiedlichen, bilingualen Gruppen war zentral für das gemeinsame Lehrprojekt, welches sich an Bachelor-Studierende der Frankoromanistik und an Master-Studierende interdisziplinärer Studiengänge wie Transnationale Literaturwissenschaft und Transkulturelle Studien der Universität Bremen sowie an Master-Studierende von Théâtre et Patrimoine der Université d’Avignon richtete.
Migration als ein Querschnittsthema
Zunächst erschlossen sich die Bremer Studierenden in wissenschaftlicher Perspektive in Form eines vorbereitenden Seminars das Rahmenthema für Berlin: Aktuelle Theaterentwicklungen in Deutschland und Frankreich. Sie präsentierten in Arbeitsgruppen wissenschaftliche Grundlagen zum Querschnittsthema „(Post-)Migration“. Ein zentrales Ergebnis dieser theoretischen Erarbeitung ist, dass Migration ein sehr vielschichtiger, aktiver Prozess ist, in dem Migrant/innen unbedingt als Subjekte, Akteur/innen, als Grenzgänger/innen mit multiplem Wissen (vgl. Hess et al. 2017) – oder um es theatergerecht zu formulieren, durchaus auch als Held/innen mit einem besonderen Erfahrungshintergrund – anzusehen sind. Es ergaben sich erste Forschungsfragen: Welche Rolle nimmt das Theater als Verhandlungs- und Partizipationsraum in den aktuellen Diskussionen um Zuwanderung ein? Welches Potential bietet Theater gerade marginalisierten Gruppen? Wie kann Theater politisch intervenieren und wie kann kulturelles Engagement hinter, vor und auf der Bühne aussehen? Um einen Eindruck zu gewinnen, wie das Theater mit den erarbeiteten wissenschaftlichen Fragestellungen zum Thema der (Post-)Migration umzugehen vermag, stand Nurkan Erpulats und Jens Hilljes viel gespieltes Theaterstück Verrücktes Blut (2010) im Zentrum des Bremer Vorbereitungsseminars. In Verrücktes Blut werden stereotype Rollen radikal probiert und wieder verworfen. Die Inszenierung öffnet auch den Blick auf die Rollenverteilung in den deutschen Theatern: Welche Rollen werden an Menschen mit Migrationshintergrund vergeben? Und welche eben nicht? Wie viele Regisseur/innen, Dramaturg/innen und Theaterleitungen haben einen Migrationshintergrund? Müssen diese sich in ihren Stücken immer mit Multikulturalität auseinandersetzen, oder können sie auch Klassiker inszenieren, welche mit diesem Thema nicht in Verbindung stehen? Fühlen sich Migrant/innen und Postmigrant/innen überhaupt von konventionellen Theaterhäusern als Publikum angesprochen? Statt eines ‚Migranten-Theaters‘, so Wolfgang Schneider (2011), brauchen wir eine Kulturpolitik, die in Personal, Produktion und Publikum multiethnisch sei, denn – so sein Appell – transkulturelle Verständigung sei eine Querschnittsaufgabe des Theaters.
Erste Station: Berlin – Postmigrantisches Theater
Mit ersten Forschungsfragen im Gepäck gingen die Bremer Studierenden zusammen mit Studierenden der Université d’Avignon während der fünftägigen Exkursion dem Theatergeschehen in Berlin auf den Grund. Gestartet wurde mit einem Besuch des beeindruckenden Stückes Common Ground (2014) der israelischen Regisseurin Yael Ronen im Maxim Gorki Theater. Ronen arbeitet mit Schauspieler/innen, die als Kinder der Opfer und Täter von Kriegsverbrechen in den 1990er Jahren aus Ex-Jugoslawien nach Berlin geflohen sind. Im Fokus der Inszenierung stehen vor allem die schmerzhafte Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und die damit verbundene Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart. Die Fragen nach Herkunft, Zugehörigkeit, Familie, Verantwortung, Macht, Ohnmacht sowie transgenerationelle Verstrickungen von Schuld, Verwundung und Traumata spielen dabei eine große Rolle.
Der nächste Tag begann mit einem Theaterstadtrundgang, so dass wir uns ‚laufend‘ einen Überblick über das Theatergeschehen in Berlin verschaffen konnten. Am folgenden Tag erfuhren die Studierenden im Gespräch mit der Leiterin der akademie der autodidakten des Ballhaus Naunynstraße, Selina Shirin Stritzel, mehr über die Ziele des Theaters und seiner besonderen Akademie. In einer vorwiegend weißen Theaterwelt versteht sich das Ballhaus als öffentliches Kulturzentrum, das vor allem Postmigrant/innen, Schwarzen, People of Colour und anderen rassifizierten Minderheiten einen künstlerischen und sozialen Raum bietet. Sie können sich im Ballhaus künstlerisch ausleben, ob als Schauspieler/innen, Regisseur/innen oder Dramaturg/innen. Dass wir noch weit entfernt sind, Migration und Mehrkulturalität als etwas Selbstverständliches anzusehen, zeigt in zugespitzter Weise die anhaltende Debatte um Flucht und Asyl und die in Europa anwachsende rassistisch-nationalistische Stimmung. Der Besuch der eindringlich inszenierten Live Graphic Novel Ultima Ratio – Ein Kirchenasyl-Fall in Neukölln (2015, Regie: Nicole Oder, Idee: Lucia Jay von Seldeneck) im Heimathafen Neukölln führte uns auf sehr sensible Weise die reale Fluchtgeschichte eines Ehepaares aus Somalia vor Augen, welches über die Sahara, Libyen und Lampedusa nach Deutschland geflüchtet war und nun erneut nach Italien abgeschoben werden sollte. Anhand von Originaldokumenten und einer überraschenden Ästhetik mittels Livezeichnungen wurde die Geschichte des Ehepaars im Theaterraum, der als eine Art ‚White Box‘ gestaltet war, entwickelt. Das Stück Ultima Ratio verdeutlichte sehr anschaulich, wie wichtig es ist, gegenüber Geflüchteten ethisch zu handeln und ihre individuellen Schicksale zu berücksichtigen. Den Abschluss für die Bremer Studierenden bildete der Besuch einer Premiere in der Schaubühne. Angélica Liddells deutschsprachige Erstaufführung Toter Hund in der Chemischen Reinigung: die Starken spielt in einer dystopischen Zukunft, in der alle Grenzen Europas geschlossen wurden. Die Schauspieler/innen stellen die völlige psychische Verkommenheit dar, welche die so genannte Phase der Sicherheit aus den Menschen macht. Das dargestellte Chaos und die destruktiven Bühnenhandlungen riefen viel Unverständnis und Verstörung hervor. Womit zum Ende der Exkursion eine weitere wichtige Erkenntnis gewonnen wurde: Theater kann ein überzeugendes Mittel sein, um mit dem Thema Migration und damit verbundenen Fragen umzugehen, dabei kann es jedoch auch zu einer Diskrepanz zwischen Darstellung und Rezeption kommen. Beim Theater ist neben der Darstellungsebene gerade die Rezeptionsebene von Bedeutung, die Interaktion von Akteur/innen und Zuschauer/innen. Die so genannte „Zuschaukunst“ (Bertolt Brecht) ermöglicht neue Verstehensprozesse. Dokumentiert wurden die unterschiedlichen Rezeptionen durch Erinnerungsprotokolle. Die Vielfalt der Stücke und der Theaterhäuser, die auf sehr unterschiedliche Weise mit dem Thema Migration umgehen, war spannend zu verfolgen.
Zweite Station: Festival d’Avignon
In Avignon standen der Besuch von Theaterstücken, die Vermittlung von praktischer Theaterarbeit und theoretischem Input zur Theatergeschichte durch Expert/innen im Vordergrund. Während die Berlin-Exkursion durch den thematischen Leitfaden „Theater und Migration“ verbunden war, ging es in Avignon darum, einen Überblick über die vielfältigen Möglichkeiten von Theater zu bekommen. Das Festival d’Avignon gehört zu den renommiertesten internationalen Theaterfestivals, bei welchem nicht nur die verschiedensten Kulturen und Sprachen zusammenkommen, sondern sich auch die unterschiedlichsten Theaterformen präsentieren. So werden im Rahmen des Festivals IN insbesondere Stücke der großen Nationaltheater gezeigt, mit dem Festival OFF erhalten auch kleinere Kompanien Raum für ihre Darbietungen. Aus der Fülle der Angebote sahen die Studierenden vier Theaterstücke aus dem Festival IN, konkret: Antigone, Regie: Satoshi Miyagi; La Princesse Maleine, Regie: Pascal Kirsch; Sopro, Regie: Tiago Rodrigues; Die Kabale der Scheinheiligen: Das Leben des Herrn de Molière, Regie: Frank Castorf. Gemeinsam sahen wir aus dem Programm des Festivals OFF: Underground Opéra, Regie: Danuta Zarazik; Les Grenouilles und Scaramuccia, Regie: Carlo Boso. Darüber hinaus stand es den Studierenden frei, sich weitere Stücke aus dem OFF anzuschauen und den zahlreichen Podiumsdiskussionen und Rahmenveranstaltungen beizuwohnen.
Antigone war eine beeindruckende Inszenierung des Regisseurs Satoshi Miyagi, welche auf dem gleichnamigen Drama von Sophokles basiert. Die japanische Kompanie des Shizuoka Performing Arts Center spielte im berühmten Papstpalast und schuf ein einzigartiges Theatererlebnis aus Musik und Schattenspielen mit Licht und Wasser unter freiem Himmel. Alle Mitwirkenden trugen die gleichen langen weißen Gewänder und die Bewegungen waren fließend. Somit lag der Fokus weniger auf der Darstellung des Einzelnen, sondern vielmehr auf der rituell anmutenden Gemeinschaftsleistung der Kompanie. Die buddhistische Essenz des Stückes, jede Seele sei gleich und besitze, im Leben wie im Tod, die gleichen Rechte, wurde so visuell und klanglich in überzeugender Weise umgesetzt.
Bei Sopro (pt. Hauch) hingegen geht es um eine Person, die das Herz und auch das Gedächtnis des Theaters verkörpert, jedoch selbst nie auf der Bühne steht. Tiago Rodrigues rückte im Charme des Karmeliterklosters im Herzen Avignons Cristina Vidal – seit 30 Jahren Souffleuse im Nationaltheater in Lissabon – aus dem Schatten ins Scheinwerferlicht; es ist eine eindrückliche Hommage an die Akteur/innen hinter der Bühne.
Einen Märchenstoff brachte das Theaterstück La Princesse Maleine des belgischen Dichters Maurice Maeterlinck auf die Bühne, dessen Handlung und Grundstimmung jedoch gar nicht märchenhaft daherkamen, denn der Dichter erschafft eine dystopische Gegenerzählung zur sonst so rosaroten Märchenwelt. Dem Stück Maeterlincks liegt das Grimm‘sche Märchen Die Jungfrau Maleen zugrunde. Dieses Märchennarrativ bricht Maeterlinck brutal auf und lässt eine furchteinflößende Gegenwelt entstehen, in der Machtgier, Manipulation und Intrigen letztlich das Glück der Liebenden zerstören und ein Blutbad anrichten.
Das sechsstündige Stück Die Kabale der Scheinheiligen. Das Leben des Herrn de Molière von Frank Castorf wurde in einer futuristischen Messehalle eines französischen Industrieparks außerhalb von Avignon präsentiert. Der Theaterraum war bestens gewählt, denn bei Messehallen geht es um Kaufen und Verkaufen. Das war auch das zentrale Thema des Stücks: Die historischen oder aktuellen politisch-wirtschaftlichen Machteliten umgeben sich mit der Kunst, um sich besser zu verkaufen, und die Kunst ist auf die Macht angewiesen, um zu (über)leben.
Im Festival OFF hatten die Studierenden dank des Leiters der Académie Internationale des Arts du Spectacle, Carlo Boso, die Chance, seine Kompanie gleich bei mehreren Darbietungen zu begleiten. Die A.I.D.A.S. ist spezialisiert auf die Spielweise der Commedia dell’Arte, welche sich vor allem durch bunte Kostüme, Masken und Bewegungsformen typischer Charaktere sowie einen einfachen Handlungsverlauf mit gutem Ende ergibt. Die Mimik wird durch die Masken verdeckt, so dass nur durch den Mund und durch codierte Gesten und Bewegungsabläufe Gefühle ausgedrückt werden können. Dieses Theater ist stimmlich und körperlich sehr ausdruckstark. Durch Gesang, Akrobatik und Tanz wird jede Vorstellung zu einem mitreißenden Spektakel.
Das Festival IN, wie auch das Festival OFF, bot den Studierenden verschiedenste Theatererlebnisse. So wurde bei Antigone die Zusammenarbeit eines Ensembles sowie die Macht der Musik, des Rhythmus und die besondere Wirkung des Papstpalastes hervorgehoben. Durch Sopro wurde den Zuschauenden bewusst, welche Arbeit gerade hinter der Bühne geleistet wird. In Castorfs Die Kabale der Scheinheiligen verbindet sich in atemberaubender Weise die Hochkultur Theater mit dem Massenmedium Film und bei den Präsentationen der A.I.D.A.S. beeindruckten die Spontanität und die Körperlichkeit auf der Bühne sowie die Nähe zum Publikum, eben echtes Théâtre populaire.
Schauspiel am eigenen Leib
Zusätzlich zu den Theaterbesuchen hatten die Studierenden in Avignon die einzigartige Gelegenheit sich in einem Atelier de pratique théâtrale weiter zu qualifizieren und auszuprobieren. Hierbei ging es um die Schauspielerei selbst und die Begleitung einer Theaterkompanie. Geleitet wurde dieser mehrtägige Workshop zur Geschichte der Commedia dell‘Arte und zu ihrer theatralen Umsetzung von Carlo Boso und zwei seiner Schauspieler von der A.I.D.A.S. Die Studierenden hatten während des Workshops die Möglichkeit die theatralen Bewegungsmuster typischer Charaktere der Commedia dell’Arte selbst zu erproben. Dabei lag der Schwerpunkt nicht nur auf der Ausübung der Bewegungen, sondern auch auf einer historischen Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Figuren. Während angeleiteter oder freier Improvisationsrunden konnten die Studierenden ihre neuen Kenntnisse praktisch ausprobieren, worauf es beim Theaterspielen ankommt. Der Workshop sorgte in besonderer Weise für die Erfahrbarkeit eigener körperlicher Grenzen und besonderer Potentiale und stärkte das Zusammengehörigkeitsgefühl. Es wurden so performative Kompetenzen wie Ausdrucksfähigkeit und soziale Kompetenzen wie Selbstbewusstsein und Empathie gefördert, die weit über das Spiel hinaus wichtig sind. Dieses Atelier de pratique théâtrale sensibilisierte die Studierenden auch für die Theatralität kulturellen, zwischenmenschlichen Handelns, indem Alltagshandlungen als ‚Akte‘ und Identitäten als ‚Rollen‘ erfahrbar gemacht wurden. Ziel dieser Projektarbeit im Sinne des Forschenden Lernens war der Transfer bislang erworbenen Wissens sowie eine Vernetzung theoretischer Wissensbestände und praktischer Umsetzung im und durch das Theater.
Rezeptions- und Wahrnehmungsprozesse schulen
Neben der praktischen Erarbeitung theatraler Techniken konnten die Studierenden während des Festivalbesuchs ihre bereits in Berlin erlernten Rezeptionskompetenzen erweitern. Nathalie Macé, Theaterwissenschaftlerin an der Université d‘Avignon, ermöglichte die Teilnahme an einem Atelier de critique théâtrale. Zudem wurde die nachträgliche Auseinandersetzung mit den besuchten Theaterstücken des Festivals erneut durch die Bearbeitung von so genannten Erinnerungsprotokollen angeregt. Diese zielen darauf, die eigene Wahrnehmung- und Erinnerungsfähigkeit zu schulen, wobei der Schwerpunkt darauf liegt, sich zunächst so genau wie möglich zu erinnern, dann die Theatersprache zu analysieren und erst im letzten Schritt eine Wertung vorzunehmen.
Den Abschluss der Exkursion bildete eine als ‚Performance‘ gestaltete Sitzung mit den Studierenden, die Natascha Ueckmann zusammen mit Sophie Gaillard durchführte. So konnten noch einmal Besonderheiten, Auffälligkeiten und Eindrücke des Festivals hervorgehoben und ein gemeinsames Resümee des praktischen Theaterateliers gezogen werden.
Kreativität als Ergebnis
Besonders hervorzuheben sind die ungewöhnlich kreativen Ergebnisse, die im Anschluss an die Studienexkursionen entstanden sind und die auf einer eigens dafür eingerichteten Website dokumentiert sind: https://berlinavignon.wixsite.com/theater. Zwei Studentinnen inszenierten ihre Erinnerungsprotokolle in Eigenregie, eine andere Studentin drehte und vertonte einen Stop-Motion-Film zu der intertextuellen Verbindung zwischen dem Märchen Jungfrau Maleen der Brüder Grimm und Maurice Maeterlincks Drama La Princesse Maleine (1889). Inspiriert von dem Bühnenbild zum Theaterstück Sopro verfasste eine weitere Studentin ein Hörspiel mit dem Titel „Die Geschichte eines Möbelstücks“. Eine Studentin nahm nach dem Besuch von Antigone durch den japanischen Regisseur Satoshi Miyagi ein Rewriting vor, indem sie Sophokles‘ Antigone kurzerhand nach Japan in das Jahr 1868 verlegt. Ein Student hat im Anschluss der Exkursion ein beeindruckendes Theater-Krimi-Dinner für die gesamte Gruppe verfasst. Zentrale Figuren der besuchten Stücke tauchen darin auf, um gemeinsam einen Mordfall zu lösen. Eingehende Charakterstudien und ein origineller, intermedialer Spielverlauf zeigen die intensive Auseinandersetzung mit dem Erlebten. Die Umsetzung des Krimi-Dinners haben wir im Nachgang zur Exkursion in verkleideten Rollen gespielt und uns so das Schauspielerische über Avignon hinaus bewahrt. Ein Kurzfilm zum Festival d’Avignon und unserer Exkursion ist noch in Arbeit. Eine Bildergalerie ist bereits über die Website einzusehen. Und schließlich erscheint in Kürze in einem Forschungsband [2] ein Interview zu Ultima Ratio, welches Studierende mit Akteur/innen des Heimathafen Neukölln führten. Die Ergebnisse der Studierenden zeigen, dass die Exkursionen eine Verbindung von Wissenschaft und Theater geschaffen haben, die es erlaubt, kreative Auseinandersetzungen mit dem Erlebten und Gelernten als legitime Methoden der Ergebnissicherung anzusehen und zu würdigen.
[2] Dassing, Andrea/Légat, Etienne: „Wie der Blick durch das Mikroskop eines Labors.“ Interview mit Beteiligten der Live Graphic Novel Ultima Ratio – Ein Kirchenasyl-Fall in Neukölln am Heimathafen Neukölln. In: Maria Lieber, Christoph O. Mayer, Rebecca Schreiber (Hg.): Kulturwissenschaftliche Impulse in Theorie und Praxis: Integration – Evolution? Revolution?, Frankfurt a.M.: Lang 2018.
Was bleibt?
Die Studierenden sollten in die Lage versetzt werden, selbstständig kulturelle Erscheinungen zu erfahren und zu untersuchen. Dafür ist es erforderlich, die Wahrnehmung und Analyse des konkreten Bühnengeschehens zu üben. Die Beobachtungen im Rahmen des Postmigrantischen Theaters in Berlin stützten sich darüber hinaus auch auf bestimmte theoretische Diskussionszusammenhänge wie Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung, Postkoloniale Studien oder Genderforschung. [3] Die Projektgruppen waren, soweit möglich, bilingual zusammengesetzt und basierten maßgeblich auf Selbststeuerung und Mitbestimmung des Lernprozesses durch die Studierenden. Die Exkursionen nach Berlin und Avignon zielten darauf, konkrete Theatererfahrungen vor Ort zu ermöglichen sowie verschiedenste Theaterformen und Theaterorte kennenzulernen.
[3] Ab Juli 2018 leitet Natascha Ueckmann zusammen mit der Saarbrücker Germanistin Romana Weiershausen die Hans Böckler-Nachwuchsforschergruppe „Migration und Flucht: Theater als Verhandlungs- und Partizipationsraum im deutsch-französischen Vergleich (1990 bis heute)“, http://theatertexte.uni-saarland.de/flucht-migration/.
Gerade auch durch die Begegnung mit unterschiedlichen Wissenschaftler/innen und Akteur/innen sollen Studierende für ihr Studium, für Berufsfelder jenseits der Institution Schule, für Theaterkultur und selbstverständlich für die Forschung begeistert werden. Im Sinne des Forschenden Lernens erarbeiteten sich die Studierenden neues Wissen über Erfahrung und Austausch und verknüpften es mit bestehendem Vorwissen. Als aktivierende, kooperative und studierendenzentrierte Methode bietet Forschendes Lernen den Vorteil, nicht nur den fachlichen Wissenserwerb, sondern auch den Kompetenzerwerb allgemein zu fördern (vgl. Brinker/Schumacher 2014: 61). So bot das Lehrprojekt neben der Schulung neugierigen, offenen Wahrnehmens und kritischen Denkens die Möglichkeit neue Skills zu erwerben wie Interviews zu führen, Transkribieren, Arbeiten in Gruppen über einen längeren Zeitraum, Erarbeitung – und wenn nötig auch Verwerfung – von Fragestellungen. Die Möglichkeit, selbst kreativ tätig zu werden, wurde in besonderem Maße genutzt. Grundsätzlich sollten die Studierenden dafür sensibilisiert werden, dass einerseits Schreiben ein Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnis ist, andererseits aber auch eigene kreative Ausdrucksformen willkommen sind. Solche Unternehmungen bieten den Studierenden zudem die wichtige Möglichkeit, Berührungsängste untereinander abzubauen, eine Art zwischenmenschliche ‚Abrüstung‘, um den Künstlerischen Leiter der Performance Studies an der Universität Bremen, Jörg Holkenbrink, zu zitieren. Der intensive Kontakt, das gemeinsame sinnliche Erleben von Theater und auch das Entdecken bislang unbekannter Städte waren neben der fachlichen Horizonterweiterung maßgeblich. Die Motivation und Einsatzfreudigkeit für das eigene Studium, der Spaß an Begegnungen mit anderen Menschen, Sprachen, Kulturen ebenso wie das Vertrauensverhältnis zwischen Lehrenden und Studierenden werden durch solche Reisen erstaunlich gesteigert. Letzteres dokumentiert auch dieser Beitrag, der in Ko-Autorschaft von Studentinnen und Dozentin geschrieben wurde.
Über die Autorinnen:
Natascha Ueckmann war von 2002 bis 2018 an der Universität Bremen in Forschung und Lehre tätig. Seit März 2018 arbeitet sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Kulturwissenschaft am Institut für Romanistik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Andrea Dassing ist im Masterstudiengang Transkulturelle Studien eingeschrieben und beschäftigt sich u.a. mit postkolonialen Theorien und Fragen der postmigrantischen Gesellschaft aus kultur-, literatur- und religionswissenschaftlicher Perspektive.
Änne Gerdes absolvierte ihren Bachelorabschluss in Germanistik und Anglistik mit den Schwerpunkten Literatur- und Medienwissenschaften an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seit 2016 studiert sie den interdisziplinären Masterstudiengang Transnationale Literaturwissenschaft an der Universität Bremen, wo sie sich insbesondere der Repräsentation von Migrationserfahrungen in Literatur und Theater widmet.
Literatur:
- Brinker, Tobina/Schumacher, Eva-Maria (2014): Befähigen statt belehren. Neue Lehr- und Lernkultur an Hochschulen. Bern: hep.
- Hess, Sabine/Kasparek, Bernd/Kron, Stefanie/Rodatz, Mathias/Schwertl, Maria/Sontowski, Simon (Hg.) (2017): Der lange Sommer der Migration. Grenzregime III. Berlin/Hamburg: Assoziation A.
- Huber, Ludwig/Kröger, Margot/Schelhowe, Heidi (Hg.) (2013): Forschendes Lernen als Profilmerkmal einer Universität. Beispiele aus der Universität Bremen. Bielefeld: Universitätsverlag Webler.
- Mieg, Harald A./Lehmann, Judith (Hg.) (2017): Forschendes Lernen. Wie die Lehre in Universität und Fachhochschule erneuert werden kann. Frankfurt/New York: Campus.
- Schneider, Wolfgang (Hg.) (2011): Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis. Bielefeld: transcript.
Bildnachweis:
Autorinnenfotos: Natascha Ueckmann (privat); Änne Gerdes (privat); Andrea Dassing (privat)
Abbildung 1: Natascha Ueckmann (privat)
Abbildungen 2 und 3: Natalia Schätz (privat)
Abbildungen 4 und 5: Moritz Lübben (privat)
Abbildung 6: Andrea Dassing (privat)
Abbildung 7: Natascha Ueckmann (privat)
Abbildung 8: Moritz Lübben (privat)
Abbildung 9: Linn Diersen (privat)
Abbildung 10 : Dion Ueckmann (privat)