Theorie und Praxis: Zur Lehre im Master Transnationale Literaturwissenschaft: Literatur, Theater, Film (TnL)

von Elisabeth Arend und Ina Schenker

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Praxis-Lehre in Form von Theater-, Literatur- oder Filmpraxis auf der einen und verbürgte,
text- und theoriezentrierte Modi der literaturwissenschaftlichen Lehre auf der anderen Seite werden im Master-Studiengang Transnationale Literaturwissenschaft: Literatur, Theater, Film (http://www.master-transnationale-literaturwissenschaft.uni-bremen.de/) als komplementär und als gleichwertige Bestandteile einer wissenschaftlichen Reflexion über die transnational verfasste Welt und ihre Repräsentationen verstanden. Im Rahmen dieses originellen Ansatzes wird auch auf das Instrument des transdisziplinären Projektstudiums zurückgegriffen und forschendes Studieren verwirklicht.

Literaturwissenschaft: transdisziplinär

Literaturwissenschaft ist seit jeher eine „unruhige“ Disziplin. Ihren Blick auf den Gegenstand, ihre theoretischen Orientierungen und methodologischen Impulse bezog sie aus dem Austausch etwa mit der Sprach- und der Geschichtswissenschaft, den Sozial- und den Kulturwissenschaften, der Ethnologie, neuerdings auch mit der Didaktik oder den Performance Studies. Ebenso hat eine film- bzw. medienwissenschaftliche Erweiterung des Gegenstandsbereichs für Innovation gesorgt. Migrations- oder Transnationalitätsforschung sowie Postcolonial Studies geben vielen Studien einen höchst aktuellen Rahmen und rücken die Literaturwissenschaft an zentrale Probleme der Gegenwartsgesellschaften heran. All dies zusammen macht die transdisziplinäre Grundlage der Literaturwissenschaft aus.

… textzentriert

Abgesehen von empirischen Ansätzen wie z.B. der Leserforschung der 1970er Jahre ist die Literaturwissenschaft in erster Linie eine textzentriert operierende Wissenschaft mit entsprechender Theoriebildung und Methodologie geblieben. Sowohl angesichts des Gegenstands, der traditionell der schriftlich verfasste Text ist, als auch des auf Text und Schriftlichkeit hin ausgerichteten Arbeitsmodus der Geisteswissenschaft ist diese Textzentriertheit auch im Reflexionsmodus naheliegend; „alternativlos“ ist sie jedoch nicht. Eine vom TnL ausgehende Denk- und Arbeitsweise wird im Folgenden vorgestellt.
Sie steht im größeren Zusammenhang von Überlegungen zu neuen Formen literaturwissenschaftlicher Lehre, die am FB 10 in unterschiedlichen Konstellationen und Projekten angestellt werden. Das TnL-Team plant für das SoSe 2018 einen Austausch darüber.

Eine sich beschleunigende Abfolge neuer Paradigmen kennzeichnet die heutige Literatur- und Kulturwissenschaft. Teils inszenieren sie sich selbst als „turns“, teils werden sie als solche gehandelt (Bachmann-Medick 2006; Jay 2010). Diese lösten theoretische Dynamiken aus und brachten Herausforderungen für die literaturwissenschaftliche Arbeit mit sich (vgl. Kaus/ Liebrand 2014, S.7), die bislang so gut wie ausschließlich im Rahmen des verbürgten Wissenschaftsmodus in der Forschung umgesetzt werden.

… handlungs- und praxisorientiert

Für den Master TnL hingegen steht die Frage im Vordergrund, wie diese Öffnungen, Grenzüberschreitungen, Dynamiken und Bewegungen auf eine Weise in die Lehre eingehen können, dass die akademisch-abstrakte und theoretisierende Befassung mit diesen Ansätzen ergänzt wird durch andere, handlungs- und praxisorientierte Modi. Zuerst kommen dabei die Studierende als in Praxiszusammenhängen Handelnde in den Blick und mit dieser Akzentuierung zugleich performativitätstheoretisch (Wirth 2002; Fischer-
Lichte 2004; 2012) begründbare Positionen. In der Praxis-Lehre wird in solchen Settings
unterrichtet, die nicht ausschließlich auf textliche Vermittlung im universitären Raum setzen, sondern auch außerhalb stattfinden, in Bühnenräumen wie beim Theaterspiel oder im städtischen Raum beim filmischen Arbeiten mit Kamera, Mikrofon, mit Dokumentarfilm-Protagonist*innen beispielsweise. Damit kann dieser Master der doppelten Zielvorgabe der Forschungs- und der Praxisorientierung gerecht werden.

Der Master Transnationale Literaturwissenschaft: Literatur, Theater, Film

Mehrjährige Erfahrungen aus der Praxis der literaturwissenschaftlichen Lehre im TnL liegen diesen Überlegungen zugrunde. 2009 ging der Master TnL als Gemeinschaftsprojekt aller Philologien des FB 10 (Germanistik, Anglistik / Amerikanistik, Frankoromanistik, Hispanistik sowie die zwischenzeitlich abgewickelte Italianistik) an den Start und wurde 2015 mit einem auf der Basis von Praxiserfahrungen reformierten Programm erfolgreich wieder akkreditiert. Sein innovatives Potential liegt einmal in der Überschreitung des nationalliterarischen oder auf eine Sprache zugeschnittenen Rahmens, der für philologische Studiengänge lange verbindlich war. Dann ist die im Untertitel angezeigte Erweiterung des Gegenstandsbereichs auf Theater und Film profilgebend.

Ausbildungsbereich „Praxis“

Sein Alleinstellungsmerkmal hat der TnL jedoch über den mit 18 von 120 CP großen
Ausbildungsbereich in der „Praxis“, wozu Sprachpraxis oder Praxis des literarischen
Schreibens ebenso gehören wie praxisnahe Auseinandersetzung mit Literatur sowie Theater- und Filmpraxis. Für das Einbeziehen der Sprachpraxis kann sicherlich kein Innovationsanspruch erhoben werden: Im Zusammenhang mit Transnationalität ist Vermittlung von Sprachenkenntnissen essentiell und immer schon Bestandteil literaturwissenschaftlicher Ausbildung. Mit Filmpraxis wird wiederum z.T. auch
in Didaktik-Lehrveranstaltungen gearbeitet, mit Theaterpraxis in fremdsprachigen Studiengängen, wobei letztere meist als Instrument der Sprachvermittlung fungiert. Tendenziell aber stehen theorie- und textbezogene Formate und Praxislehre in geisteswissenschaftlichen Studiengängen nebeneinander. Dies wird im Master
TnL hinterfragt und beide Bereiche werden als komplementär bestimmt – neuere kulturwissenschaftliche Theorieentwicklungen begründen diese Haltung.

Transnationalität als Denkfigur

Zentrale Orientierungsmarken für den Master TnL setzt die Kategorie der Transnationalität (Hühn / Lerp et al 2010). Diese ist insbesondere seit der Phase der beschleunigten Globalisierung ein zentrales Phänomen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Darüber hinaus ist Transnationalität in hohem Maße in der aktuellen Gegenwartskunst präsent: in literarischen, dramatischen und filmischen sowie anderen Medientexten. Grenzüberschreitungen sind wie Migration und andere Bewegungsphänomene transnational par excellence und werden im Rahmen des Master TnL besonders fokussiert. Unser Entwurf einer transnational ausgerichteten Literaturwissenschaft greift das im Präfix „trans“ sich artikulierende Moment von Bewegung, Überschreitung und Dynamik auf, macht es als eine „Denkfigur“ (Arend 2017) fruchtbar und kann so die Komplementarität wissenschaftlich-textzentrierter sowie praktischer, performativ-künstlerischer Reflexion über Transnationalität in Literatur, Theater und Film betonen,
wobei die Bewegungsrichtung als wechselseitig gedacht wird: Aus der Theorie kommende
Überlegungen werden in die praktische Arbeit getragen, Erkenntnisse aus dem praktischen Arbeiten wiederum fließen zurück in die theoretisierende
Forschung.

Projektstudium

So haben wir als einer der wenigen Masterstudiengänge, die nicht an eine Kunsthochschule gebunden sind, Praxismodule Theater und Film in unser Curriculum integriert und diese über die Möglichkeit eines Projektstudiums in den
wissenschaftlich-forschenden Gesamtzusammenhang eingebunden. Eigene Aktivitäten in
den Feldern Theater oder Film tragen im performativ-künstlerischen Modus zur Reflexion über grenzüberschreitend verfasste Lebenswelten bei. Der entscheidende Innovationsaspekt der Lehre des TnL liegt also in der Bestimmung des Verhältnisses von Praxis und Wissenschaft als komplementär. Lehre in den Praxismodulen wird als vollwertiger Beitrag zu einer komplexen intellektuellen und wissenschaftlichen Reflexion
über eine transnational verfasste Welt und deren Repräsentationen verstanden; der
Austausch mit den im engeren Sinne wissenschaftlichen Modulen wird über das das Projektstudium, das jeweils im SoSe stattfindet, ermöglicht. Wir greifen damit eine Form der Lehre auf, die in den 1970er Jahren Bestandteil des Reformprojekts der Bremer Uni gewesen ist. An dem Projekt „Straßenkulturen“ des SoSe 2016 haben sich literatur- und filmwissenschaftliche Lehrveranstaltungen, aber auch Film- und Theaterpraxis beteiligt. Ein Workshop führte am Ende des Semesters Studierende und Lehrende aller beteiligten Veranstaltungen zusammen. Dort wurden die theoretischen Orientierungen
(Handlungstheorie und Semiotik) rekapituliert, Einzelergebnisse zusammengetragen und aus den unterschiedlichen disziplinären Perspektiven diskutiert. Von besonderer Bedeutung war der Beitrag der film- und theaterpraktischen Kurse. Sie brachten mit performativ-künstlerischen Mitteln die Positionen der im engeren Sinne wissenschaftlichen Seminare in filmischen bzw. szenischen zum Ausdruck, übersetzten sie in Bilder, Spiel, Gesten, Bewegung oder Geschichten und verdichteten so die Arbeitsergebnisse
der literatur- und filmwissenschaftlichen Seminare. Trotz insgesamt guter Erfahrungen
wurde die Planung des Projektes zum Thema „Zeit“ für das SoSe 2018 modifiziert, das nun mit einem Workshop eröffnet wird, an dem alle Studierenden und Lehrenden teilnehmen und der einen für alle der sieben beteiligten Lehrveranstaltungen
verbindlichen Theoriehorizont zum Thema „Zeit“ schaffen soll, bevor die Kurse
getrennt werden und sie mit ihren spezifischen Methodiken weiterarbeiten. Am Ende des Semesters findet ein ganztägiger Workshop statt, in dem Ergebnisse präsentiert und diskutiert werden und die Praxiskurse Einblick in ihre Produktionen
geben.

Abbildung 1: Projektstudium Theaterpraxis

Abbildung 1: Projektstudium Theaterpraxis

Forschen in der Praxis

Um Theater- und Filmpraxis organisch und mehr als nur dekorativ in der Ausbildung zu verankern, ist es erforderlich, sie als eigene Formen von Forschung zu verstehen, als forschendes Lernen (Huber / Kröger / Schelhowe 2013) zw. Studieren (vgl. dazu die aktuelle Diskussion in „Resonanz“ SoSe 2016) – als Forschung im performativen
Modus. Diese Sicht auf Lehre wurde durch die Kooperation mit dem Zentrum für Performance Studies / Theater der Versammlung, das sich explizit als „zwischen Wissenschaft und Kunst“ situiert definiert, wesentlich befördert. Das Ausloten der produktiven Möglichkeiten des „dazwischen“ – eine der Schlüsselkategorien postkolonialer wie performativitätstheoretischer Ansätze – gehört insofern zum Kern der intellektuellen Arbeit im Master TnL, der damit in einem komplexen transdisziplinären Reflexionszusammenhang steht, diesen gleichermaßen theoretisch wie praktisch auslegt. Weitere Kooperationspartner sind die beiden fremdsprachigen (französisch, englisch) Theatergruppen des FB 10. Hier agieren Studierende als Schauspielende oder in Dramaturgie und Regie. Aus dieser Implementierung der Theaterpraxis in die
Masterlehre verweisen wichtige Impulse insbesondere auf das Konzept der Performativität zurück, mittels dessen das Interesse auf Produzieren und Herstellen gelenkt wird. Damit kommen Handlungen, Veränderungen und Dynamiken, die kulturelle Ereignisse wie Theater und Literatur ausmachen, in den Blick.

Praxislehre im TnL – Studentische Erfahrungsberichte

Im Folgenden werden einige dieser praxisbezogenen Studienmöglichkeiten in Form studentischer Erfahrungsberichte vorgestellt und im Zusammenhang mit dem Projektstudium, das Praxis und Theorie zusammenführt und so an Bremer Traditionen anknüpft, beleuchtet.

Abbildung 2: Filmpremiere von "KopfsteinGeflüster" und "Auf Kurs im Viertel"

Abbildung 2: Filmpremiere von „KopfsteinGeflüster“ und „Auf
Kurs im Viertel“

… aus der Filmpraxis

Das Filmpraxis-Seminar vom WS 16/17 und SoSe 17 war Bestandteil des Lehrprojekts „Straße“. Straßen erzählen unzählige Geschichten, bringen einen spezifischen Text hervor, den die Literaturwissenschaft zu ihrem Untersuchungsgegenstand macht. So haben wir in unserer Produktion das Projekt-Thema im Auge behalten und die Straße zum heimlichen Protagonisten unseres dokumentarischen Kurzfilms gemacht. Gerahmt durch ein begleitendes Seminar wurde der gesamte Produktionsprozess durch verschiedene theoretische Orientierungen strukturiert, von einem semiotischen Zugang bis hin zu de Certeaus Unterscheidung zwischen dem abgehobenen Blick über und dem in konkrete
Vollzüge eingebundenen Blick von der Straße aus auf diese. Die ersten Ideen zu einem Film wurden vor Drehbeginn innerhalb des Seminars in einem „Pitch“ vorgestellt. Der Dreh an sich fand während der vorlesungsfreien Zeit des Sommersemesters statt. Abgeschlossen wurde der Arbeitsprozess durch eine selbstorganisierte öffentliche Premierenveranstaltung, bei der die beiden Kurzfilme gezeigt wurden.

Der Film KopfsteinGeflüster begleitet das Tanzprojekt „TapeRiot“, das sich durch spontane Aufführungen auf der Straße den öffentlichen Raum als einen Ort für künstlerische Darbietung vom Alltag zurückerobert. Auf Kurs im Viertel folgt einem bekannten Bremer Flaschensammler durch sein Sammelrevier. Hier wird ein Blick hinter die Kulissen des Straßenalltags gewagt, um die Persönlichkeit hinter dem Stereotyp sichtbar zu machen und von den Konflikten zu berichten, denen er tagtäglich ausgesetzt ist. Beide Filme sprechen gesellschaftsrelevante Themen an, führen dem Zuschauer vor Augen, was Straße neben der täglichen Benutzung darstellen kann und regen so zum Nachdenken über seine eigene Situation an.

Der im Rahmen des begleitenden Seminars erlernte Umgang mit Technik und Schnittprogramm ermunterte dazu, mutig mit neu Erlerntem umzugehen und sich auszuprobieren. Der Film, ein sehr dynamisches Medium, fordert ein großes Anpassungsvermögen an situative Umstände, wodurch sich diese Arbeit von
der theoretisch-literaturwissenschaftlichen stark unterscheidet. Ein lockeres Arbeitskonzept war diesbezüglich dienlich, wobei gleichzeitig bestimmte
Basisüberlegungen festgelegt werden mussten, da sonst eine Eingrenzung, sei es des
zu drehenden oder des letztlich abgedrehten und zu schneidenden Materials kaum zu leisten ist.

Als Literaturwissenschaftler*innen sind wir es gewohnt, auch filmische Texte zu analysieren und auf bestimmte Gegebenheiten hin zu untersuchen. Die praktische Arbeit stellte uns auf die andere, die produzierende Seite, wodurch eigene filmische Erzählstrategien entworfen werden mussten. Verschiedene theoretische Vorüberlegungen
strukturierten diese hierbei. Beispielsweise wurde stets versucht, die Protagonisten
in ihrem persönlichen Umfeld zu zeigen, um so eine angemessene Figurencharakterisierung zu erreichen. Verschiedene Einstellungsgrößen
und Kameraperspektiven dienten zur inhaltlichen Strukturierung der filmischen Erzählung,
so haben beispielsweise Großaufnahmen verschiedene Themenbereiche eingeführt, Bewegung, hier in Form von Gehen oder einer Autofahrt des Protagonisten leiteten über zu neuen Themenbereichen und vermittelten so den Eindruck einer Prozesshaftigkeit des Straßenlebens. Die transnationale Ausrichtung war mit dem Thema Straße weitestgehend bereits abgedeckt. Da die Straße ein Netzwerk darstellt,das viel mehr als ein einfacher Transportweg ist, ist ihr inhärent, dass sie Grenzüberschreitungen unterschiedlichen Ausmaßes birgt. Auf der Straße, als Teil des öffentlichen Raumes, werden auch soziale Grenzen überschritten. Die Straße gehört allen und niemandem, was sie zu einem
solch interessanten Forschungsfeld machte, das mit Mitteln der Praxis erkundet werden
konnte. (Laura Volk)

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… aus der Literatur-Praxis

Im September 2016 fand ein einwöchiges Block-Seminar „Lektüren der Globalisierung
– Vorbereitung und Begleitung des Bremer Literaturfestivals globale°“ statt. Ziel des Seminars war, im Anschluss an die literaturwissenschaftliche Analyse den Schritt in die Praxis in Form des Schreibens von Rezensionen über Romane des globale°-Festivals zu tun. Dieses Vorhaben weckte schnell mein Interesse, da es im Vergleich zu klassischen Seminaren im Universitäts-Betrieb praktische Tätigkeit im Feuilleton-Bereich vorsah, von erfahrenen Kulturredakteur*innen mit gestaltet wurde und dazu noch Publikationsmöglichkeiten bot. So sollten Rezensionen, die im Verlauf des Seminars
geschrieben wurden, im Weser-Kurier veröffentlicht werden. Zudem konnten zusätzliche
Beiträge für den Blog „blogale“ des Bremer Literaturhauses online publiziert und Interviews mit teilnehmenden Autor*innen geführt werden. Als besonders produktiv empfand ich die Betreuung der produzierten Texte und ihre gemeinsame Besprechung im Seminar. In den ersten zwei Tagen beschäftigten wir uns erst einmal theoretisch mit Methoden einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft und mit den Phänomenen Flucht, Migration und Dystopie. globale° legt den Fokus auf deutschsprachige Autor*innen unterschiedlicher Herkunft, die im Schreiben auch ihre Erfahrungen transnationaler
Wanderung oder Flucht reflektieren. Anhand von Referaten über Romane des Festival-Korpus schärften wir individuelle Analysefähigkeiten, die später eine wichtige Basis für das Schreiben der Kritiken darstellten. Zudem galt es, anhand der erarbeiteten wissenschaftlichen Erkenntnisse, Transferleistungen zur Praxis im Kulturjournalismus herzustellen, wobei auch der Mehrwert von Literatur für nichtwissenschaftliche Sparten zur Sprache kam.

So reflektierten wir anhand der globale°-Texte die enthaltenen soziopolitischen Aussagen zum aktuellen Flucht-Diskurs. Außerdem analysierten wir die gegenseitige Einflussnahme von Literatur und Politik und stellten fest, dass immer mehr Rezensionen rein literarische Themen verlassen, indem sie gesellschaftliche oder politische Phänomene behandeln und so das übergehen, was Literatur ausmacht: Die Sprache und die Form. Diese genuin literaturwissenschaftlichen Kompetenzen mit kulturwissenschaftlichen zu vereinen, war die Herausforderung, über die wir ebenfalls mit der Kulturredakteurin, die das Seminar besuchte, diskutierten. Auch die globale°-Festivalleiterin war eingeladen und gab Einblick in die Festivalorganisations-Abläufe und rundete damit diesen spannenden Blick in die Praxis der Literatur ab. (Wenke Bruchmüller)

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… und der Theaterpraxis

Im Sommersemester 2016 durfte ich eine an der Uni Bremen seltene Erfahrung machen
und mich eine Woche lang theaterpraktisch im Rahmen eines Blockseminars mit einem
Thema auseinandersetzen. Man hatte den Teilnehmer*innen die Aufgabe gegeben, den
Text Chronik meiner Straße von Barbara Honigmann zu bearbeiten … was bei mir zuerst
auf wenig Motivation stieß, da der Text bereits im Wintersemester 2015/2016 Forschungsgegenstand war (im Zusammenhang mit dem Literaturfestival „globale°“ und dem Modul „Selbststudieneinheit“) und auch im laufenden Semester im Seminar zu dem Projektthema „Straßenkulturen“ besprochen wurde. Nichtsdestotrotz war das der Plan und rückblickend bin ich froh darüber.

Unsere Dozentin ermöglichte es uns – außerhalb der Uni! – eine Woche lang in den Räumlichkeiten des AMS!-Theaters (Alsomirschmeckts!-Theater) zu arbeiten. Den Örtlichkeiten entsprechend nutzten wir theaterpraktische Methoden, respektive Übungen
aus dem Improvisationstheater, um uns dem Material zu nähern. Begleitend dazu führtendie Teilnehmer*innen eine Art Reflexionsbuch, in welchem unter anderem folgende Fragen behandelt wurden: Wie entsteht das Ich auf der Bühne? Wodurch erschließe ich mir einen Text und seine Themen? Welche Rolle spielen dabei Sprache und Semiotik, welche spielt die Stimmung? Welche Besonderheiten/Schwierigkeiten weist Straße als Ort der Kommunikation auf? Innerhalb der Woche erlernten wir die praktische Arbeit mit theatralen Mitteln (Räume, Geräusche, Licht…) und theatralen Formen (Objekttheater, Textarbeit…). Unter den Eindrücken des Textes und den vielen Erfahrungen generierten wir eine Szene, die von uns gemeinsam inszeniert wurde: Die Ich-Erzählerin wurde in drei verschiedene Figuren aufgeteilt, die gleichzeitig aber isoliert voneinander auf der Bühne agierten und den gleichen Text zitierten. Durch die drei unterschiedlichen Arten der Rezeption eröffneten sich neue Sichtweisen und Lesarten auf den bekannten Text.
Mittels des Spiels wurde der Text seiner Hierarchie enthoben und fungierte nicht als Basis, sondern als gleichwertiges Material der theatralen Inszenierung. Dadurch dynamisierte sich der Text, vervielfachte sich in seinen Inhalten und zeigte deren Transformationspotenzial. Die homogene Erzählstimme wurde aufgelöst und eröffnete Einblick in die Hybridität von Texten mittels praktisch-performativen Methoden. Dieses hochgradig praxisorientierte Seminar ermöglichte die Vernetzung von theoretischen
Vorkenntnissen in Bezug auf den Text und den Forschungsgegenstand „Straße“ in der Literaturwissenschaft und praktischen Verfahren der Textarbeit. Die Teilnehmer*innen bekamen theatrale, körperliche Lesarten von Texten näher gebracht. Das Theater stellt einen geschützten Raum für außerordentliche Diskurs- und Textforschung dar. Daraus verdichtete sich meine persönliche Reflexionsfrage: Was ist das Fremde? In Bezug auf die von mir gemachten Erfahrungen zeigt sich das Fremde zum einen durch die von der Erzählstimme wahrgenommene fremde Kultur. Die Frage öffnet aber auch den Diskurs auf die fremden theatralen Methoden, die hier auf einen literarischen Text angewendet wurden. Bei beiden Begegnungen zeigt sich das Fremde als eine grenzüberschreitende Kraft; heraus aus dem Alltag und dem Bekannten der Erzählerin und – im universitären Kontext – heraus aus der literaturwissenschaftlichen, in die performativ-praktische Rezeption. (Annika Port)

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Über die Autorinnen:

Elisabeth Arend ist Professorin für Romanische Literaturwissenschaft im Fachbereich 10 sowie Koordinatorin des Masters TnL. Sie forscht über die Transnationalität frankophoner und italophoner Literaturen sowie die Literaturen und Kulturen des Maghreb und des Mittelmeers.

Ina Schenker ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich 10 in der Arbeitsgruppe Arend. Sie ist im Leitungsteam des Masters TnL. Ihr Promotionsprojekt fokussiert Transnationalität und Hörspiel.

Literatur:

  • Arend, Elisabeth (2017): „Transnationale frankophone Literaturen“, in: Bischof, Dörte / Komfort-Hein, Susanne (Hg.): Handbuch Transnationalität und Literatur. [im Druck, erscheint 2017]
  • Bachmann-Medick, Doris (2006): Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
  • Fischer-Lichte, Erika (2012): Performativität. Eine Einführung. Bielefeld: transcript.
  • Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt: Suhrkamp.
  • Huber, Ludwig / Kröger, Margot / Schelhowe, Heidi (Hg.) (2013): Forschendes Lernen als Profilmerkmal einer Universität. Beispiele aus der Universität Bremen, Bielefeld: UVW.
  • Hühn, Melanie / Lerp, Dörte / Petzold, Knut / Stock, Miriam (Hg.) (2010): Transkulturalität, Transnationalität, Transstaatlichkeit, Translokalität. Münster: Lit Verlag.
  • Jay, Paul (2010): Global Matters. The Transnational Turn in Literary Studies. Cornell UP.
  • Liebrand, Claudia / Kaus, Rainer C. (Hg.) (2014) : Interpretieren nach den »turns«. Literaturtheoretische Revisionen, transcript: 2014.
  • Resonanz (2016): „Forschendes Studieren. Vom Profil zur Best Practice.“ Resonanz – Magazin für Lehre und Studium an der Universität Bremen. Ausgabe Sommersemester 2016. Bremen: Universität Bremen.
  • Wirth, Uwe (Hg.) (2002): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt: Suhrkamp.

 

 

Bildnachweis:

  • Autorinnenfotos: Elisabeth Arend (privat); Wenke Bruchmüller (privat); Annika Port (privat); Ina Schenker (privat); Laura Volk (privat)
  • Abb. 1: Marc Dauen
  • Abb. 2: Elisabeth Arend; Wenke Bruchmüller; Annika Port; Ina Schenker; Laura Volk

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