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Teilnehmende Beobachtung

-Prüfungsleistung-

Bremer Hauptbahnhof                                                           Maria Markow 06.01.2021                                                                                 6045314 14.41-15.47 Uhr                                Tutorium Einführung in die Ethnologie                      

Ich bin zum ersten Mal am Hauptbahnhof in Bremen. Ich werde das Geschehen dort allgemein beobachten, bevor ich mich auf die spezifische Situation der Obdachlosen konzentriere. Das erste, was mir auffällt, ist, dass die Bahnhofshalle viel einladender und freundlicher aussieht, als ich es an anderen Bahnhöfen gewohnt bin. Wahrscheinlich, weil sie weiß gehalten ist und die gewölbte Decke den Raum viel offener erscheinen lässt. Darüber hinaus befinden sich an der Wand über der Anzeigetafel farbenfrohe Gemälde. Eines davon zeigt zum Beispiel die Bremer Stadtmusikanten. Ich setze mich auf eine Bank in der Mitte der Halle und mein positiver erster Eindruck verblasst schnell, da es nach nur wenigen Minuten eiskalt ist. Es sind ungefähr zwei Grad Celsius und außerdem zieht es durch den Wind aus allen Ecken. Ich versuche die Kälte auszublenden und mich auf meine Umgebung zu konzentrieren.

Einige Sicherheitskräfte, die alle eine gelbe Weste tragen, patrouillieren. Von Zeit zu Zeit sprechen sie Menschen an, die die Covid-19 Hygienevorschriften nicht vollständig erfüllen. Sich wiederholende Ansagen und Schilder erinnern an das Tragen des obligatorischen Mund-Nasen-Schutzes. Zusätzlich befinden sich Markierungen auf dem Boden, die den Fußgängern helfen Abstand zu halten.

Da ich eine Maske trage, kann ich nicht wirklich etwas riechen, aber als es noch möglich war, war es stets ein eher unangenehmer Geruch. Abgesehen von einer Taube, die herum flattert und an einer alten Zigarette herumhackt, stelle ich fest, dass nur wenig Müll auf dem Boden liegt.

Angestellte in Anzügen, Jugendliche, einige Familien. Die meisten in der, wenn man bedenkt, dass wir uns inmitten einer Pandemie befinden, recht großen Menschenmenge, scheinen ein konkretes Ziel zu haben. Sie achten nicht wirklich darauf, was neben ihnen passiert, sondern eilen vorbei, während sie auf ihre Handys blicken. Die Mehrheit trägt Gepäck, vor allem Koffer und Reisetaschen, mit sich. Einige haben nur eine Einkaufstasche dabei, was darauf hinweist, dass sie den Bahnhof ausschließlich zum Einkaufen von Lebensmitteln nutzen könnten. Absätze klicken und Koffer rollen an mir vorbei. Das Rasseln der Züge wird lauter und dann leiser, bis es vollständig zum Stillstand kommt, während die Ansagen auf den Bahngleisen hörbar, aber unverständlich sind. Nach ein paar Minuten gewöhne ich mich an diese Hintergrundgeräusche und schenke ihnen keine weitere Aufmerksamkeit. Die Mehrheit der Passagiere ist allein, aber einige werden auch von einem Freund, einem Familienmitglied oder anderen Bekannten begleitet. Eine junge Frau und ein junger Mann gehen Arm in Arm und führen ein angeregtes Gespräch. Ein anderer Mann trägt den Koffer einer älteren Dame, während sie einen Blumenstrauß bewundert. Die meisten Menschen halten an, um sich die Anzeigetafeln an der Wand anzusehen, die sie über Ankünfte und Abfahrten der Züge informieren. Diejenigen, die scheinbar noch auf einen Zug warten, sitzen auf einer Bank oder einer Treppe, da die Sitzmöglichkeiten sehr begrenzt sind. Die meisten sind mit ihrem Handy beschäftigt, wobei viele Kopfhörer nutzen. Andere essen etwas, was die einzige erlaubte Möglichkeit bietet, die Maske abzunehmen. Eine ältere Frau liest Zeitung, während ein Mann mittleren Alters mit eingeschalteten Lautsprechern telefoniert. Sobald er geht, setzt sich ein anderer Mann, der Papiere, scheinbar Dokumente, herausholt und beginnt, etwas aufzuschreiben. Anschließend sieht er sich ein Video in einer Sprache an, die ich nicht erkennen kann.

Die Bank neben mir wird von einem vermutlich obdachlosen Mann besetzt, der mit einer Decke bedeckt ist und seinen Hund streichelt. Neben ihm stehen zwei Rucksäcke und Schalen für seinen Hund. Meistens sind seine Augen kaum geöffnet, er döst ein und schläft mehrmals fast ein. Aber wann immer ein Passant etwas Geld in seine Tasse wirft, hebt er den Kopf und nickt diesem dankbar zu. Zehn Minuten vergehen und sein Tasten Handy klingelt. Der Mann antwortet in einer osteuropäischen Sprache und beendet den Anruf kurz danach. Er scheint erkältet zu sein, da er sich während meiner Beobachtung wiederholt die Nase putzt. Bevor er wieder einschläft, holt er eine kleine Flasche Alkohol heraus, trinkt einige Schlucke und richtet seine Decke. Ich erinnere mich an den Obdachlosen direkt vor dem Eingang, den ich auf meinem Hinweg gesehen habe. All seine Habseligkeiten waren neben ihm gestapelt, während er ein Schild mit der Aufschrift „Habe Hunger“ in der Hand hielt. Ein anderer Mann durchsuchte die Mülleimer nach noch brauchbaren Dingen und sammelte diese in einer Plastiktüte.

Obwohl alle Teile der Gesellschaft am Bahnhof kollidieren, fallen mir vor allem Obdachlose und ihr Verhalten auf. Insbesondere dieser Winter ist eine extreme Herausforderung für Menschen, die keine dauerhafte Unterkunft haben. Abgesehen von der Kälte, macht es das Coronavirus fast unmöglich, eine Unterkunft zu finden, da sich Deutschland im Lockdown befindet. Die wenigen Orte, die geöffnet sein dürfen, haben so strenge Vorschriften, dass die normalerweise angebotene Unterstützung, wie die Verteilung von Lebensmitteln oder der Zugang zu öffentlichen Toiletten, in vielen Fällen nicht bereitgestellt werden können. Obwohl Obdachlose mit deutlich ernsteren Problemen zu kämpfen haben als die meisten anderen Menschen hier, wirken sie ruhiger und präsenter als diese. Sie scheinen zu beobachten, was neben ihnen passiert, ohne wirklich auf die Zeit zu achten. Dies ergibt allerdings auch mehr Sinn, wenn man berücksichtigt, dass der Bahnhof nicht nur eine von vielen Haltestellen in  ihrem Tagesablauf ist. Im Gegensatz zu normalen Passagieren verbringen sie wahrscheinlich ihren ganzen Tag dort. Wenn man dies bedenkt, bleibt einem wahrscheinlich gar nicht viel mehr über, als aus einem „Nicht-Ort“ anderer einen „Ort“ zu machen (siehe M. Augé, 1995, Non Places).

Mehr als eine Stunde ist vergangen und ich beschließe, meine Beobachtung an dieser Stelle zu beenden. Sobald ich den Bahnhof verlasse, habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich weiß, dass ich jetzt in ein warmes Zuhause zurückkehren kann, während andere den Rest ihres Tages hier in der Kälte verbringen müssen.

2 Antworten auf „Teilnehmende Beobachtung“

Hi 🙂 Tolle Beobachtung! Ich empfinde den Text als sehr angenehm geschrieben, zumindest hatte ich keine Schwierigkeiten, mir alles bildlich und aus Deiner Perspektive vorstellen zu können. Hast Du vielleicht mit dem Gedanken gespielt dich in eine Konversation verwickeln zu lassen? Also während der laufenden Beobachtung? Würde mich zumindest interessieren, wie das so verlaufen wäre. LG Vivien

Hey Vivien :),
danke erstmal für deine liebe Rückmeldung. Ich war davor auf jeden Fall offen für ein Gespräch, aber ich wurde tatsächlich nur davor, am Eingang, nach Geld gefragt. An meinem Beobachtungsort selbst waren alle in ihrer eigenen Welt und wollten gefühlt auch in Ruhe gelassen werden. Deshalb gab es überhaupt keinen Anlass, was mich auch wirklich überrascht hat. Würde mich echt mal interessieren wie es bei dir oder auch anderen diesbezüglich war!
LG Maria

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