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Teilnehmende Beobachtung

-Prüfungsleistung-
Elisa Frede 
6042685
Tutorium zur Einführung in die Ethnologie

 

Es ist 14:45, am Mittwoch den 06. Januar und ich sitze auf einer Bank mit Überdachung an der Bahn- und Busstation „am Wall“ in Bremen. Mir gegenüber befindet sich eine Parkanlage genauso wie hinter mir. Das Wetter ist kalt und es schneit. Sehr kleine, feine Schneeflocken fallen vom Himmel und schmelzen sobald sie den Boden berühren. Neben mir geht ein Mann auf und ab und telefoniert. Ich höre, dass er eine Sprache spricht die ich nicht verstehe. Vor mir und hinter mir auf der Straße fahren Autos. Wenn die Ampel auf rot springt, halten sie an und es bildet sich eine Schlange bis die Ampel wieder grün wird und die Autos weiterfahren können. Ich höre das stetige Brummen der Autos auf der nassen Strasse und die Stimme des Mannes neben mir. Ich habe eine Maske auf und merke, dass ich dadurch nur bedingt riechen kann. Es sind wenig Menschen unterwegs. Die Bahn 1 Richtung Huchting kommt und es steigen Menschen ein und aus. Auch der Mann neben mir mit dem Telefon am Ohr steigt in die Bahn, ein Mensch rennt an der Unterstellung, in der ich sitze vorbei und steigt schnell ein. Die Bahn fährt wieder los. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steigt eine Frau auf ihr Fahrrad und radelt aus meinem Sichtfeld. Ein Mann kommt an die Bahnstation und stellt sich in das andere Haltestellenhäuschen mir gegenüber. Er hat seine Kapuze aufgesetzt und ist vollständig in schwarz gekleidet. Mit der Hand zieht er sich seine Maske ein Stück runter und steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Die andere Hand führt ein Feuerzeug an den Mund und er zündet die Zigarette an. In einem anderen Haltestellenhäuschen stellt eine Frau ihre Tasche auf die Bank und faltet ihren Regenschirm zusammen. Dieser ist lila. Sie nimmt ihr Handy aus der Tasche und fängt an darauf zu tippen. Insgesamt gibt es vier dieser Häuschen, in jedem stehen Menschen. Ein Bus kommt und es steigt eine Frau ein und zwei Männer aus. Der Bus fährt wieder. Die zwei Männer wechseln mit zügigen Schritten die Straßenseite und biegen in eine Nebenstraße. Mein Blick wandert zum Boden. Ich sehe viele Zigarettenstummel auf dem nassen Bürgersteig liegen, aufgeweicht und zertreten. Eine durchsichtige Platikverpackung liegt neben dem Mülleimer. Es windet sehr und ein paar Schneeflocken fliegen mir in das Gesicht. Der Bus an der Haltestelle mit gegenüber kommt und es steigen alle ein. Nun ist niemand mehr auf der anderen Seite. An der Station an der ich sitze kommt die nächste Bahn und wieder steigen Menschen ein und aus. Ein Junge stellt sich mit unter den Unterstand. Ich will ihn gerade genauer mustern, da kommt schon ein anderer Junge. Die beiden begrüßen sich, wechseln ein paar Worte und gehen gemeinsam von dannen. Wieder kommen neue Menschen an die Bahnstation. Alle sind sie sehr warm angezogen, viele haben einen Regenschirm dabei, ein paar wenige stellen sich unter. Sie alle tragen einen Mundschutz. Sie stellen sich mit viel Abstand zu den anderen an die Bahnstation oder gehen auf und ab. Der nächste Bus kommt und alle steigen ein. Erneut ist es menschenleer. Ich schaue auf die Uhr, denn langsam friere ich sehr, obwohl ich mich extra warm angezogen habe.
Eine Joggerin kommt aus dem Park und joggt zur Ampel. Während sie darauf wartet, dass es grün wird, läuft sie auf der Stelle. Eine Frau kommt an die Bahnstation. Sie trägt hohe Absätze, die ich bis zu mir klackern höre. Ich schaue mich um und registriere zum ersten Mal das Haus mir gegenüber. Es ist klein und hat drei weiße Türen, die alle geschlossen sind. Oben hängt ein Schild auf dem „Wallanlagen eine Zeitreise“ steht. Die nächste Bahn kommt und es steigen ein Mann und eine Frau aus die sich in dem Häuschen unterstellen, in dem ich sitze. Die beiden reden sehr laut und schnell miteinander, in eine fremden Sprache. Die Frau trägt ein gemustertes weißes Kleid und einen orangenen Mantel aus Pelz. Jetzt setzt sich die Frau auf die Bank neben mich und der Mann und sie schweigen. Es schneit noch immer. Der nächste Bus kommt und fährt dann wieder. Der Mann und die Frau neben mir fangen wieder miteinander an zu sprechen. Beide werden sie lauter. Sie schüttelt immer wieder den Kopf und runzelt die Stirn. Der Mann unterbricht sie oft, wenn sie etwas sagt. Wieder kommt ein Bus. Mir fällt auf, dass die Bahn wohl Verspätung hat die normalerweise in regelmäßigen Abständen von ein Paar Minuten kommt. Der Schnee ist inzwischen Schneeregen. Die Frau neben mir springt plötzlich auf und gestikuliert mit ihren Händen, während sie auf den Mann einredet. Dann kommt die Bahn und beide steigen sie ein. Wieder bin ich alleine an der Station. Ein Mann kommt an die gegenüberliegende Bahnstation und schaut mich an. Ich versuche ihn anzulächeln, doch sieht er das unter meiner Maske gar nicht. Er zündet sich eine Zigarette an und wendet sich von mir ab. Fünf weitere Menschen kommen an die Haltestelle. Ich sehe auf die Uhr und stelle fest, dass bereits eine Stunde vergangen ist. Hiermit beende ich die Beobachtung.

Interpretation der Beobachtung:
Die Menschen die an die Haltestelle kamen, hatten alle einen neutralen bis angespannten Gesichtsausdruck. Kein einziger hat gelacht oder glücklich gewirkt. Nach meiner Wahrnehmung waren viele der Menschen etwas gestresst. Alle hielten sich an die momentanen Maßnahmen, trugen einen Mundschutz und hielten zu anderen Menschen mehrere Meter Abstand. Alle waren sie sehr wachsam. Dies schließe ich daraus, dass jeder seine Umgebung im Blick behielt, sie beobachteten sich gegenseitig und sobald jemand zu nahe kam, ging der jeweils andere einige Schritte mehr auf Abstand.
Was mir am meisten auffiel, war dass jeder der Personen nicht länger als ein paar Minuten blieb. Jeder wartete entweder auf den Bus oder die Bahn und verließ den Ort nach kurzer Zeit wieder.
Marc Augé definiert solch eine Haltestelle als einen Nicht-Ort. Dadurch das dieser öffentliche Ort nur dazu dient auf einen Bus oder eine Bahn zu warten, ist er fremd und austauschbar. Transiträume haben keine individuelle Geschichte, sie sind anonym, ohne wirkliches Leben und gleichen den jeweils anderen Transiträumen, wie in diesem Fall die Haltestelle aussieht wie fast jede Haltestelle.
An diese Definition Augés musste ich denken, als ich eine Stunde in dem Häuschen saß, immer wieder Bahnen und Busse kamen, Menschen ein- und ausstiegen, mit den anderen Menschen kaum interagierten und möglichst schnell den Ort wieder verließen.

Ich habe sehr verstanden, was Augé meint. Nach gut einer halben Stunde habe ich mich an diesem Ort einsam gefühlt. Dies trübte vielleicht meinen Blick auf die anderen Personen, welche in meinen Augen traurig oder nachdenklich schienen. Auch beeinflusste das kalte und windige Wetter eventuell meine Wahrnehmung, sodass der Ort sehr trostlos auf mich wirkte. An einem Tag voller Sonnenschein mit warmen Temperaturen wäre mir die Haltestelle vielleicht sogar wie ein fröhlicher Ort erschienen. 
 Ich habe in dieser Beobachtung bewusst mit niemandem interagiert (außer der eine Blickkontakt mit dem Mann, den ich anlächelte) und keine Menschen angesprochen. 
 Dies lag daran, dass einen Tag vorher schärfere Maßnahmen für den momentanen Lockdown beschlossen wurden und ich deswegen niemandem zu nahe kommen wollte. Meine Befürchtung war, dass sich angesprochene Personen eventuell unwohl fühlen oder negativ auf Fragen, wie „Wo wollen sie hinfahren?“ Oder „Was genau machen sie hier?“ Reagieren würden.
Insgesamt lässt sich sagen, dass die teilnehmende Beobachtung mir die Erkenntnis brachte, dass Haltestellen Orte sind, an denen Menschen zwar anwesend sind, aber nicht wirklich da, weil sie immer möglichst schnell wieder fahren. Es sind fast schon Zwischen-Räume. Und in diesen Zwischenräumen ist das einzige, was Menschen dort tun, zu warten.