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Die erste (teilnehmende) Beobachtung

Es ist Montag, der 14. Dezember 18:31 Uhr.
ich sitze im IC von Magdeburg nach Hannover und werde hier teilnehmend beobachten.
Um das Folgende besser zu verstehen, gebe ich noch etwas Kontext bezüglich der Bahnsituation.
Der IC fuhr mit einer Verspätung von 25 Minuten am Magdeburger Hauptbahnhof ab. Davor wurde er weder angezeigt, noch wussten die Mitarbeiter:innen der db-Auskunft was mit dem Zug geschehen war. Die einen sagten, er sei durchgefahren ohne das es die Personen, die den Zug nehmen wollten es bemerkt hätten und wieder andere meinten, der Zug sei ausgefallen, das sei nur nicht durchgesagt worden. Es herrschte also nach meiner (subjektiven) Wahrnehmung eine sehr aufgeregte und angespannte Stimmung, als der Zug letztendlich doch noch einrollte und wir alle einstiegen.
Nun sitze ich in einem zweier-Platz am Fenster. Mit mir im Zugabschnitt nur drei weitere Personen, eine junge Frau, etwa in meinem Alter drei Plätze vor mir, eine ältere Frau so weit entfernt, dass ich sie nicht sehe, und eine ältere Frau direkt neben mir am anderen Fensterplatz.
Sie hat weiße, längere, gewellte Haare, trägt eine Brille und hat eine riesige Plastiktüte von Möbel-Hesse auf dem Platz neben sich stehen.
Die ersten Minuten der Zugfahrt telefonierte sie und berichtete ihrem Gesprächspartner:in in lautem, angeregten Ton von dem Ereignis der Zugverspätung. Sie schien sehr verärgert. Sowas sei ihr in über zwanzig Jahren pendeln noch nie passiert, das müsse man mal einem/einer Journalist:in mitteilen, dass die restliche Welt endlich darüber informiert werde, was für ein Verein die Deutsche Bahn eigentlich sei.
Nun ist seit einigen Minuten das Gespräch beendet und sie hat sich einer Zeitschrift zugewandt. Sonst höre ich kaum etwas.
Nur das monotone Rauschen des Zuges. Draußen ist es schon seit Stunden dunkel und im Zug sehr hell, durch die langen Neon-Röhren.
Was mir besonderes und in meinem Empfinden sehr negatives auffällt;
Die Frau neben mir, die sich vorhin über die Deutsche Bahn so beschwerte, hat ihre Maske abgesetzt und macht keine Anstalten, sie wieder aufzuziehen.
Zuerst dachte ich, sie möchte vielleicht nur kurz zu Atem kommen oder etwas trinken. Aber seit einer Viertelstunde sitzt sie dort nun ohne ihren Mundnasen-Schutz. Ich überlege, ob ich sie darauf ansprechen soll, möchte aber auch nicht in einen Streit geraten, da ich ja gerade erlebt habe, wie sie wird, wenn ihr etwas nicht gefällt. Leider bin ich in solchen Situationen oft viel zu höflich.
Inzwischen haben wir den Bahnhof in Helmstedt und die Zugführerin verabschiedet sich bei den aussteigenden Fahrgästen.
Ich höre wie die Türen aufgehen, Menschen ein- und aussteigen und die Türen sich wieder schließen.
Der Zug fährt wieder los und die Schaffnerin kommt in das Zugabteil und fragt nach den Tickets.

Ich zeige meins vor und sehe dabei, dass die Frau neben mir inzwischen ihre Maske aufgesetzt hat. 
Die Schaffnerin geht weiter. Ich höre Menschen im vorderen Teil des Zuges miteinander reden, kann aber nicht verstehen was gesagt wird. Ab und zu höre ich das rascheln einer Seite, die umgeblättert wird.
Ich denke daran, dass ich in Hannover den Zug nach Bremen bekommen muss und hoffe, dass wir die Verspätung wieder einholen.
Eine Frau geht an meinem Platz vorbei. Sie trägt eine weiße Mütze und hält ihre Jacke und Gepäck im Arm. Die Toilettentür geht auf und zu.
Dann ist wieder alles still.
Es ist 19:01 und ich beende die teilnehmende Beobachtung.

Insgesamt fand ich das teilnehmende Beobachten äußerst spannend. Zwar habe ich in dieser Übung noch nicht interpretiert oder eine Konklusion gezogen, aber die Rolle des Beobachters gefiel mir sehr. Einfach mal die Umgebung, die Menschen sehen, möglichst ohne Wertung.
Durch diese Übung fing ich an, genauer hinzuschauen. Etwas mehr zu hinterfragen. Vielleicht wäre mir normalerweise kaum etwas aufgefallen, weil ich lieber mit Kopfhörern und in ein Buch vertieft im Zug sitze und dadurch kaum die Menschen, die mit mir reisen wahrnehme.
Die restliche Reise, die noch 4 Stunden ging, habe ich weder Musik gehört, noch mich mit anderen Sachen abgelenkt.
Ich habe nur die Menschen gesehen, meine Umgebung beobachtet und dabei immer wieder versucht, mein denken zu hinterfragen.

  • Elisa

5 Antworten auf „Die erste (teilnehmende) Beobachtung“

Hey Elisa,

ich finde deine Beobachtung gut gelungen! Vielen Dank fürs Teilen. Deine Einleitung war gut, um das Geschehen besser einzusteigen. Außerdem haben waren nicht nur visuelle Eindrücke zu lesen, sondern auch akustische. Vielleicht kannst du in der nächsten Beobachtung auch aufschreiben, was du haptisch fühlst oder riechst?
Du hast tatsächlich an einer Stelle schon einzelne Interpretationen zugelassen: z.B. als du beschreibst, wie sich die ältere Dame neben dir fühlt und wie sie wohl reagieren würde „da ich ja gerade erlebt habe, wie sie wird, wenn ihr etwas nicht gefällt“.
Vielleicht auch noch als kleiner Hinweis: die Zeitform wechselt anfangs.

Nichtsdestotrotz eine schöne Beobachtung!
LG Annika

Hey Elisa,
ich finde es richtig toll, wie du in den Text eingestiegen bist. Ich wäre glaube ich gar nicht auf die Idee gekommen zu schreiben, was vorher abgelaufen ist, so wie du das mit der „verschwundenen“ Bahn gemacht hast.
Während deiner Beobachtung hast du auch einmal deine Gedanken aufgeschrieben (dass du den Zug wechseln musst). Ich fand es hat gut in den Text reingepasst im Allgemeinen, allerdings weiß ich nicht, ob das in einem Beobachtungsprotokoll gültig wäre.
Aber Ich fand den Text sonst auch mega gut und ich finde es toll, wie du ihn abgeschlossen hast mit deiner persönlichen Meinung zur Beobachtung:).
Janina

Hi Elisa!
Super Text! Es war für mich als Leser nicht schwierig direkt in das Geschehen einzusteigen, weil du durch deine Beschreibung ermöglicht hast, sich das Erzählte genau vorstellen zu können. Besonders was die ältere Frau im Zug angeht – Ich habe kurz gehofft, dass sie vielleicht doch noch auf ihren teilweise fehlenden Mundschutz angesprochen wird….
Das Fazit gefällt mir auch sehr gut! Gerade um deine eigene Sichtweise auf deine Arbeit zu verstehen 🙂
Liebe Grüße

Hi Elisa,
danke für das Teilen deines Textes. Ich fand es sehr schön ihn zu lesen.
Ich finde es auch super toll, dass du gendergerechte Sprache verwendest!!!
Auch deine Gedanken am Schluss über das Beobachten an sich finde ich sehr spannend.
🙂
Teresa

Hey Elisa,
ich finde deinen Text total gut! Eine Stelle fand ich dabei irgendwie ironisch: Die Frau regte sich darüber auf, dass man die Zustände bezüglich der DB mal einem Journalisten schildern sollte… Und sie weiß gar nicht, dass du genau in diesem Moment zufällig alles mitschreibst und es (theoretisch) für alle öffentlich online postest.
Außerdem hat mir gut gefallen, zu welcher Erkenntnis du am Ende gekommen bist. Viel zu häufig schotten wir uns von unserer direkten Umgebung ab und bemerken dabei nicht mal, was um uns herum passiert. Es freut mich total, dass du durch diese Übung einfach weiter mit dem Beobachten gemacht hast und dass dir das scheinbar einen ganz neuen Blick auf die Welt gegeben hat.

Schirin

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