Worin ähneln oder unterscheiden sich ästhetische Gegenstände von anderen, die zur gleichen Zeit, vorher oder später entstanden sind? Wie beziehen sich Kunstwerke aufeinander? Welche Formen, Motive, Diskurse sind innerhalb bestimmter geschichtlicher und kultureller Kontexten etabliert und was bedeuten sie in diesen Kontexten? Was einen ästhetischen Gegenstand ausmacht und wie er verstanden wird, erschließt sich erst im Vergleich.

Das Verknüpfen und Vergleichen von Materialien aller Art – seien es Bilder, Filmausschnitte oder Texte – ist grundlegend für die Erforschung und Vermittlung von Kunst und Medien. Die kunst- und kulturgeschichtliche Ikonik und Ikonologie analysieren und deuten ästhetische Gegenstände, indem sie diese mit anderen Werken aus den jeweiligen kulturgeschichtlichen Kontexten vergleichen und mit literarischen Quellen in Verbindung bringen. Dadurch kann nachgewiesen werden, wie ein*e Künstler*in sich auf andere bezieht oder welche Darstellungskonventionen es zu einer bestimmten Zeit gab, was diese bedeuteten und wie sich einzelne Werke zu diesen Konventionen verhalten.

Radikalisiert wurde dieser Ansatz durch die Semiotik, die alle kulturellen Formen als Zeichensysteme oder ‚Texte‘, versteht. Zeichen liegt demnach keine festgelegte Bedeutung zugrunde, sondern diese entsteht erst im Verhältnis zu anderen Zeichen. Werke der Kunst oder Literatur werden nicht mehr als Ausdruck eines (männlich gedachten) Autors, sondern als Ergebnis einer individuellen Lektüre verstanden: ihre Bedeutung entsteht in den Verknüpfungen, die der*die Lesende vor dem Hintergrund des eigenen Wissens herstellt.

Das Verknüpfen und Vergleichen basiert auf Medien. Die Fotografie ermöglichte es der Kunstwissenschaft, Werke aus ganz unterschiedlichen Kontexten in Beziehung zu setzen. Der Film entwickelte mit der Montage ein eigenes Denk- und Ausdrucksmittel, das gerade im Essay- und Lehrfilm als Methode der Analyse und Reflexion eingesetzt wird. Die Digitalisierung macht wiederum die hypertextuelle Verknüpfung aller Ausdrucksformen möglich und erschließt diese Kulturtechnik für die Filmwissenschaft und -pädagogik: Die pädagogische Methode Fragmente in Beziehung setzen beruht – im Unterschied zu kulturgeschichtlichen Forschungen – auf der Konfrontation von Bildern und Filmausschnitten aus ganz unterschiedlichen Kontexten.

1. Vergleich als Forschungsmethode: Motivforschung

Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky bezeichnete die ⇒Ikonografie und Ikonologie als eine „vergleichende Disziplin“, die im Vergleich von Bildmotiven erforscht, wie sich darin bestimmte Vorstellungen und Themen einer Zeit ausdrücken (Panofsky 1979: 222). Er vergleicht beispielsweise künstlerische Darstellungen der Sage von Judith und Holofernes und deutet diese vor dem Hintergrund biblischer Quellen. Ähnlich gehen auch die zeitgenössischen Gender-Studies vor, um die Darstellung von Geschlecht und die damit verbundenen Wertvorstellungen in bestimmten kulturgeschichtlichen Kontexten zu untersuchen. So fragen Kunstwissenschaftler*innen beispielsweise, wie in der Darstellung von Künstler*innen bestimmte Vorstellungen von ⇒Künstlerschaft und Geschlecht vermittelt werden und wie diese gesellschaftliche Machtverhältnisse spiegeln und stützen.

Neben Forschungen, die sich auf konkrete kunstgeschichtliche Zusammenhänge beziehen, beruhen auch epochenübergreifende Forschungen zum kulturellen Gedächtnis auf dem Vergleich. Wegweisend dafür war Aby Warburg, der als ein Begründer der Kulturwissenschaft gilt. Mit dem sogenannten Bilderatlas hat er das „Nachleben“ der Antike in der europäischen Kultur erforscht. Auf den Bildtafeln, die er mit anderen diskutierte, verknüpfte er Reproduktionen von Kunstwerken aus verschiedenen Epochen von der Antike bis zur Neuzeit und von unterschiedlicher Funktion (freie und angewandte Kunst, Skulpturen, Gemälde, Werbung) in clusterartigen Anordnungen, die er im Prozess der Reflexion immer wieder umgruppierte. Warburg untersuchte beispielsweise den Faltenwurf in Gewändern, die er als Ausdruck von Gefühlszuständen, eine von ihm sogenannte „Pathosformel“, deutete.

 

Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne, Tafel 37 (1924-1929) © Warburg Institute, London

Zum Einstieg: Vergleichen Sie die Filmausschnitte: Welche Fragestellungen können im Vergleich dieser und weiterer Klassenzimmerszenen verfolgt werden? Mit welchen anderen Bildern und Filmen können diese Filmausschnitte in Verbindung gesetzt werden?

 

François Truffaut: Les quatre cents coups (Sie küßten und sie schlugen ihn) (1959)

Jean-Paul Le Chanois: L‘École buissonière (1949)

Auch die Filmwissenschaft knüpft an diese kunst- und kulturwissenschaftliche Erforschung von Formen und Motiven an. Einerseits werden Filme auf kunstgeschichtliche Motive und Formen hin untersucht. Andererseits fragt die neuere Filmwissenschaft auch nach filmspezifischen oder „kinematographischen“ Motiven, deren Form und Wirkung maßgeblich auf filmischen Eigenschaften beruhen. Dazu gehört beispielsweise der Zug, der schon im frühen Kino für die Filmerfahrung als Dynamisierung der Bewegung und des Schauens stand oder die Jalousie als Licht-Schatten-Motiv des Film noir. In dem folgenden Videoessay wird die Methode des Vergleichens anhand des Motivs des Klassenzimmers vorgestellt und danach gefragt, inwiefern die filmische Raumkonstruktion und die Lenkung des Blicks uns etwas über das Lehren und Lernen verrät.

Zum Weiterlesen
Engell, Lorenz; Wendler, Andre: Medienwissenschaft der Motive. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft. 2009 Heft 1: Motive, Jahrgang 1, S. 38-49.

Fleckner, Uwe: Ohne Worte. Aby Warburgs Bildkomparatistik zwischen wissenschaftlichem Atlas und kunstpublizistischen Experiment. In: Fleckner, Uwe; Woldt, Isabell (Hg.): Aby Warburg: Bilderreihen und Ausstellungen. Berlin: Oldenbourg Verlag 2012, S. 1-18.

Mitchell, William John Thomas: Über den Vergleich hinaus: Bild, Text und Methode. In:  Ders.: Bildtheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2008, S. 136-172.

Treml, Martin: Überlegungen zur Entstehung, Begriff und Methode von Aby Warburgs Bilderatlas. In: Müller, Ernst; Picht, Barbara (Hg.): Forum interdisziplinärer Begriffsgeschichte, 2018, 7. Jg., Heft 1. S. 15-21. ⇒Download

1. Vergleich als Vermittlungsmethode: Fragmente in Beziehung setzen

„Bildung ist nichts anderes als die Fähigkeit, das Gemälde oder den Film, das bzw. den man gerade  sieht, oder das Buch, das man gerade liest, zu anderen Gemälden, Filmen und Büchern in Beziehung zu setzen. Und zwar, wenn es sich um echte Bildung handelt, um des Vergnügens willen, sich in dem Netz von Werken, so wie sie uns begegnen – meist ungeordnet und zufällig –, zu orientieren und zu begreifen, wie sehr jedes Werk geprägt ist, von dem, was ihm vorausgegangen ist und was zur Zeit seiner Entstehung in dieser Kunst und den benachbarten Künsten passierte, auch wenn der Autor davon nichts weiß oder wissen will.”
Alain Bergala: Kino als Kunst. Filmvermittlung an der Schule und anderswo. Marburg: Schüren Verlag 2006, S. 54.

Der französische Filmwissenschaftler und Pädagoge Alain Bergala war einer der ersten, der das pädagogische Potential der Digitalisierung reflektiert hat. Die von ihm vorgeschlagene Methode „Fragmente-in-Beziehung setzen“, beruht auf dem Vergleich von Filmausschnitten und Bildern aus ganz unterschiedlichen Kontexten. Ihr Potential liegt auf unterschiedlichen Ebenen: Im Fokus auf Filmausschnitte (statt ganze Filme) tritt die ästhetische Form gegenüber der filmischen Handlung in den Vordergrund. Die Didaktik liegt dabei in der Auswahl und Kombination des Materials selbst, das die Erklärungen der Lehrenden ersetzt. Die Lernenden können sich im Vergleich des Materials die Eigenart der einzelnen Filmausschnitte/Bilder und verschiedene Möglichkeiten filmischer Darstellung erschließen. Zugleich vermittelt diese Methode ein Bewusstsein für die Kulturgeschichte, die sich nicht als Abfolge von Epochen, sondern als ein Netzwerk an Beziehungen zwischen Werken darstellt.

Diese Methode wird in dem 1995 ins Leben gerufenen Schulprojekt ⇒Le cinéma cent ans de jeunesse und in DVDs der Reihe ⇒L’Eden cinéma verwirklicht. Sie kann als Methode der Vermittlung wie auch der Erforschung grundlegender filmischer Darstellungsweisen eingesetzt werden. Die DVD Le point de vue widmet sich beispielsweise der filmischen Perspektive, indem sie Filmausschnitte in einer Baumstruktur miteinander verknüpft und verschiedenen Begriffen zuordnet.

DVD-Cover von: Alain Bergala: Le point de vue (2007)

Zum Weiterlesen
Busse, Klaus-Peter: Mapping, Biografie und Intermedium. In: Blohm, Manfred (Hg.): Berührungen und Verflechtungen. Biografische Spuren in ästhetischen Prozessen. Köln: Salon Verlag 2002, S. 55–68.

Henzler, Bettina: Montage als Geste der Vermittlung. In: Eckert, Lena; Martin, Silke (Hg.): Filmbildung. Marburg: Schüren Verlag 2014.

3. Montage, Videoessay, Installation

Das Verknüpfen ist eine Geste, die dem Film selbst eigen ist und zwar in der filmischen Montage, die Einstellungen, aber auch Bild und Ton miteinander kombiniert. Schon früh haben sich Theoretiker*innen mit der Wirkung der Filmmontage befasst, die zeitliche und räumliche Zusammenhänge konstruiert, Geschichten erzählt, eine emotionale und ästhetische Wirkung erzielt, aber auch Darstellungen analysiert und Bedeutungen herstellt. Die filmische Montage wird daher auch als Forschungsmethode eingesetzt, die gerade mit der Eigenart des visuellen und auditiven Materials, seiner Ästhetik und Klanglichkeit, arbeitet. So setzen Essayfilme neben der filmischen Beobachtung und der sprachlichen Kommentierung die Montage ein, um Zusammenhänge zu erforschen oder um Kontraste herzustellen, um Ähnlichkeit und Differenz zu reflektieren.

„Wenn wir die Montage im allgemeinsten Aspekt als Aufdeckung innerer Zusammenhänge definieren, die in der realen Wirklichkeit existieren, dann setzen wir gewissermaßen ein Gleichheitszeichen zwischen sie und jeden Denkprozess in einem beliebigen Gebiet.“
Pudowkin, Wsewolod I.: Über die Montage. In: Albersmeier, Franz Josef (Hg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart: Reclam 2003, S. 83.

Agnès Varda widmet sich in Die Sammler und die Sammlerin beispielsweise der Kulturgeschichte des Sammelns und seiner Bedeutung in der heutigen Überflussgesellschaft. In Les dites Cariatides (dt. Die sogenannten Cariatiden) filmt sie die gleichnamigen Steinfiguren, die als Säulen von Pariser Häusern fungieren. Sie montiert weibliche und männliche Figuren, bringt sie mit griechischen Sagen, zeitgenössischer Dichtung, Operettenliedern oder auch Fotografien von Frauen, die etwas auf dem Kopf tragen, in Verbindung. So reflektiert sie dieses kunstgeschichtliche Motiv unter ästhetischen, geschlechtsspezifischen und sozialen Gesichtspunkten. Film wird hier zu einem Medium der ⇒Künstlerischen Forschung.

Filmstills aus: Agnès Varda: Les Dites Cariatides (1984)

Matthias Müller, Christophe Girardet: Locomotive
(Videoinstallation, ausgestellt im Kunstverein Hannover 2008)

Auch die Filmanalyse kann im Medium Film erfolgen. Dieses Format, auch Filmvermittelnder Film oder Videoessay genannt, hat sich vor allem im Zuge der Digitalisierung verbreitet und findet sich im Internet im Kontext der Fankultur und der Filmwissenschaft. In diesen Arbeiten werden Ausschnitte aus Filmen kommentiert oder mit anderen Filmausschnitten, Bildern oder Literatur montiert. Thomas Elsaesser und Malte Hagener stellen beispielsweise zu ihrem Buch Filmtheorie zur Einführung (2007) im Internet zu jedem Kapitel Videoessays zur jeweiligen Thematik zur Verfügung. Aber auch in Kunstinstallationen und Ausstellungen im Museum werden filmvermittelnde Formate, teils auch in der Verknüpfung mehrerer Projektionen in einem Raum, verwirklicht, beispielsweise in Harun Farockis und Antje Ehmanns Kino wie noch nie (Generali Foundation Wien 2006, Akademie der Künste Berlin 2007) oder Matthias Müllers und Christophe Girardets Locomotive.

Zum Weiterlesen
Elsaesser, Thomas; Hagener, Malte: Filmtheorie zur Einführung, Hamburg: Junius 2007. ⇒Auszüge und Erläuterungen

Baute, Michael; Pantenburg, Volker: Klassiker des filmvermittelnden Films. In: Henzler, Bettina; Pauleit, Winfried (Hg.): Filme sehen, Kino verstehen. Methoden der Filmvermittlung. Marburg: Schüren 2006, S. 216-235.


Paini, Dominique: Film als bildende Kunst. In: Odorico, Stefano; Pauleit, Winfried; Rüffert, Christine; Schmid, Karl-Heinz; Tews, Alfred (Hg.): Filmerfahrung und Zuschauer. Berlin: Bertz und Fischer 2014, S. 85-90.

Schlüter, Stefanie: Vom Hundertsten ins Tausendste. Assoziative Verfahren in Filmen von Agnès Varda. In: Sabisch, Andrea; Zahn, Manuel (Hg.): Visuelle Assoziationen. Bildkonstellationen und Denkbewegungen in Kunst, Philosophie und Wissenschaft. Hamburg: Textem 2018, S. 302–319.

Texte von Bettina Henzler (2020)

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