Wie können (audio-)visuelle Werke gedeutet werden? Wie lassen sich Elemente, Formen, Motive, die auf Bildern, Fotografien, Filmen abgebildet werden, verstehen? Inwiefern vermitteln sie eine Botschaft und inwiefern sagen sie mehr, als das, was beabsichtigt war? Wie kann ich Werke innerhalb des kulturellen Kontextes, in dem sie entstanden sind, und vor dem Hintergrund meines eigenen Wissens erfassen?

Wir stellen zwei Ansätze vor, die für die Erforschung der Bedeutung von Kunstwerken wichtig sind. Die schon Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte kunstwissenschaftliche Ikonographie und Ikonologie erschließt die Bedeutung von Bildmotiven aus literarischen Quellen, auf die sie sich beziehen, und aus anderen Text- und Bildmaterialien ihrer Entstehungszeit. Die in den 1960er Jahren aus der Sprachwissenschaft entstandene Semiotik untersucht Bilder und audiovisuelle Werke aller Art als Zeichensysteme, die wie eine Sprache funktionieren. Die Semiotik geht davon aus, dass jedes Werk nur in einer endlosen Verkettung mit anderen Werken Bedeutung gewinnt.

Beide Ansätze schlagen eine ähnliche mehrstufige Vorgehensweise vor: Sie setzen zunächst dabei an, die in einem Bild oder Werk abgebildeten Elemente – Motive, Dinge, Personen, Kleidungen, Gesten, Handlungen usw. – zu beschreiben und zu benennen, was sie auch für diejenigen, die nicht über spezielles Vorwissen verfügen, darstellen. In einem zweiten Schritt wird dann die Bedeutung dieser Elemente aus der Kenntnis von Konventionen der Darstellung abgeleitet, die innerhalb bestimmter kultureller Kontexte gültig sind. In einem dritten Schritt wird das Werk als Ausdruck einer bestimmten Geisteshaltung (oder auch Ideologie) gedeutet, es wird damit als Aussage über die Gesellschaft verstanden, in der es entstanden ist.

Anschließend an die Semiotik und die Ikonologie, die sich vor allem auf textuelle und visuelle Formen beziehen, werden auch Sonic Icons erforscht. Es handelt sich dabei um Klanggebilde, welche eine spezifische Bedeutung tragen und beispielsweise in Geschichtsfilmen auf geschichtliche Ereignisse verweisen.

1. Bilder interpretieren: Ikonographie und Ikonologie

Die Ikolonogie wurde maßgeblich von den deutschen Kunst- und Kulturwissenschaftlern Aby Warburg und Erwin Panofsky geprägt. Panofskys mehrstufiges Modell der Interpretation von Kunstwerken zielt darauf ab, deren Bedeutungsgehalte zu entschlüsseln und sie in ihrem Ausdruckswert für die jeweilige Entstehungszeit zu verstehen. Der folgende Screencast stellt Panofskys Methode vor und ordnet sie historisch ein. Anhand des Gemäldes Hieronymus Jobs als Schullehrer von Johann Peter Hasenclever (1845) wird das Verfahren angewendet und im Hinblick auf seine Möglichkeiten und Grenzen überprüft.

Zum Einstieg: Schauen Sie sich das Bildbeispiel an und überlegen Sie, wie Sie vorgehen könnten, um sich die Bedeutung bzw. den Sinngehalt des jeweiligen Objektes zu erschließen.

Johann Peter Hasenclever: Hieronymus Jobs als Schullehrer (1845)

Zum Weiterlesen
Kopp-Schmidt, Gabriele: Ikonografie und Ikonologie. Köln: Deubner Verlag für Kunst, Theorie & Praxis, 4/2014.

Marschall, Susanne: Hand-Zeichen. Annäherung an ein Bildsymbol im Film. In: Koebner, Thomas; Meder, Thomas (Hg.): Bildtheorie und Film, München: Edition Text + Kritik 2006, S. 253-267.

Otto, Gunter: Der Auslegungsprozeß: Das Subjekt, das Werk, die Bedingtheiten. In: Kunst + Unterricht, 1990 Heft: 145, S. 5.

Panofsky, Erwin: Ikonographie und Ikonologie. In: Kaemmerling, Ekkehard (Hg.): Bildende Kunst als Zeichensystem 1: Ikonographie und Ikonologie: Theorien – Entwicklung – Probleme. Köln: DuMont 1979, 207-225.

2. Audiovisuelle Werke lesen: Semiotik

Die Semiotik greift auf Modelle der Linguistik zurück, um kulturelle Formen aller Art als sprachliche Systeme zu untersuchen und zu deuten. Sehr einflussreich für die Film- und Kulturwissenschaft war der französische Kulturtheoretiker Roland Barthes, der die semiotische Herangehensweise in der Auseinandersetzung mit Literatur, Fotografie, Film, Musik immer weiterentwickelt hat. Barthes bezieht sich, wie andere Semiotiker*innen, auf das von Ferdinand de Saussure entwickelte Zeichenmodell. Demnach besteht jedes Zeichen aus einem materiellen Träger (dem Signifikanten), zum Beispiel Klang, Schrift oder Bild, und der immateriellen Bedeutung (dem Signifikat). Die Bedeutung eines Zeichens ist laut de Saussure nicht an sich gegeben, sondern ergibt sich nur in Bezug auf das System aller innerhalb eines sprachlichen, kulturellen Kontextes existierender Zeichen. Die Semiotik analysiert die Strukturen dieser Zeichensysteme (auch Code oder Diskurs genannt) und die Art und Weise, wie Zeichen in Beziehung zueinander Bedeutung gewinnen. Jedes Werk kann in dieser Perspektive in vielzählige bedeutungstragende Einheiten unterteilt werden, die wiederum Teil eines Netzwerks aller Zeichen sind.

Zum Einstieg: Welche Elemente des rechts stehenden Bildes lassen sich als Zeichen deuten und welche Botschaft vermitteln sie?

Panzani-Werbung (1964)

Filmstandbild von Joseph L. Mankiewicz: Julius Caesar (1953)

Vor dem Hintergrund dieses Modells untersucht Barthes in seinem Mythen des Alltags ganz unterschiedliche kulturelle Phänomene, wie die Fotoausstellung Family of Man (1955), das Gericht Beefsteak mit Pommes Frites, das Design des Autos Citroën, oder auch Filme. Er befasst sich beispielsweise mit den Frisuren und dem Schweiß der Figuren in dem Film Julius Caesar (Joseph L. Mankiewitz, USA 1953). Die Haarfransen über der Stirn deutet er – vor dem Hintergrund der Darstellung des alten Roms im klassischen Hollywoodkino – als einen Hinweis auf den historischen Kontext, als „Zurschaustellung des Römertums“. (Barthes 1964: 43)

Barthes, Roland: Die Römer im Film. In: Ders.: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1964 (Orig. 1957), S. 43-46.

In seinem Artikel „Die Rhetorik des Bildes“ diskutiert Barthes am Beispiel einer Panzani-Werbung für Nudelsauce, inwiefern eine Fotografie eine Botschaft vermitteln kann und wie diese sich von einer sprachlichen Botschaft unterscheidet (Barthes 1990: 28ff.). Er hebt dabei zwei Ebenen der Bedeutung hervor: einerseits die Denotation oder auch buchstäbliche Botschaft, die sich auf das fotografierte Objekt bezieht (also das Bild eines Einkaufsnetzes mit Lebensmitteln) und andererseits die Konnotation oder auch symbolische Botschaft, welche die Rückkehr vom Markt, die Frische der Lebensmittel, das „Italienische“ usw. andeutet.

Barthes geht auch auf das Verhältnis von sprachlichen und visuellen Elementen ein, die nahezu alle kulturellen Formen kennzeichnet. Der Text kann ein Bild verankern, indem er die Vieldeutigkeit des Bildes auf eine ganz bestimmte Bedeutung festlegt, andererseits aber auch ergänzen, sodass Bild und Text in ihrer Kombination eine neue Bedeutung hervorbringen.

Panzani-Werbung (1964)

Barthes, Roland: Die Rhetorik des Bildes. In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1990 (Orig. 1964), S. 28-46.

Filmstill aus Sergei Michailowitsch Eisenstein: Iwan der Schreckliche (1944)

In späteren (poststrukturalistischen) Texten ergänzt Barthes diese semiotische Herangehensweise. Statt der gesellschaftlichen Kontexte, welche die Bedeutung von Werken festlegen, interessiert ihn darin der*die individuelle Leser*in oder Betrachter*in. Werke – so lautet nun seine These – werden in jeder Lektüre immer wieder neu hervorgebracht und mit (individuellen) Bedeutungen versehen. Auch richtet sich sein Interesse nun auf die materielle und die ästhetische Dimension, die sich mit dem Zeichenmodell nicht erschließen lassen. In seinem Artikel „Der dritte Sinn“ fügt er dementsprechend der buchstäblichen (hier: informativen) Ebene und der symbolischen Ebene einen „dritten Sinn“ hinzu, der sich nicht deuten lässt (Barthes 1990: 47ff.). In einem metaphorischen ⇒Schreibstil versucht er dabei Details in Filmstandbildern zu fassen, die ihn persönlich berühren und die sich dem Aussagecharakter der Bilder entziehen. In ganz ähnlicher Weise befasst er sich in Die helle Kammer mit den Details in der ⇒Fotografie, die er hier als „punctum“ bezeichnet – als das, was ihn als Betrachter berührt, punktiert. Barthes war damit eine*r der Ersten, der auf die Körperlichkeit der ästhetischen Erfahrung verwiesen hat.

 

Barthes, Roland: Der dritte Sinn. In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1990 (Orig. 1970), S. 47-68.

Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1989 (frz. Original 1980).

Texte von Bettina Henzler (2020)

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