Wenn ich ein Bild oder einen Film anschaue, durch einen Museumsraum gehe oder an einer Performance teilnehme, im Unterricht sitze oder einer Führung folge – dann mache ich eine Erfahrung. Das heißt, das, was ich anschaue, höre oder mitverfolge, bleibt nicht getrennt von mir, sondern es geht mich an, es ist spürbar in meinen Antworten darauf. Diese Antworten können Langeweile, Staunen, Faszination, Irritation usw. sein. Wie können wir über solche Kunst- oder Lernerfahrungen sprechen und sie erforschen?
Schon Friedrich Schiller stellte 1794 in seinen Überlegungen zur Ästhetischen Erziehung fest, dass bei der Rezeption eines Kunstwerks Sinnlichkeit und Vernunft im Spiel sind. Kunst lässt sich also nicht nur als eine nach Regeln gebaute Form verstehen, sondern erschließt sich in der ästhetischen Erfahrung. Die Phänomenologie als Philosophie der Erfahrung hat zudem dargelegt, dass das menschliche Denken und Handeln, Kommunizieren und Erinnern in den Sinneswahrnehmungen verankert ist – selbst, wenn diese durch soziale und kulturelle Kontexte geprägt sind. Die Theorie der ästhetischen Erfahrung und die Phänomenologie unterscheiden sich von Diskurs- und Dispositivtheorien, welche die gesellschaftlichen Kontexte analysieren, in denen Kunst und Kultur produziert und rezipiert wird. Denn sie richten den Blick auf individuelle Erfahrungen und konkrete Materialien. Und Körper, Situationen und Zufälle fügen sich nie ganz den eingeübten Mustern des Denkens und Handelns.
Eine Strategie, sich diese schwer greifbaren, unerwarteten Erfahrungen zu erschließen und sie zu artikulieren, ist die Kulturtechnik des Schreibens. Im Unterschied zu einer an den Naturwissenschaften orientierten Sprache, die bemüht ist, begrifflich und argumentativ möglichst eindeutig zu sein, um den Gegenstand zu fixieren, geht es hierbei um eine der Literatur entlehnte erzählende und beschreibende Sprache, welche die schillernde Mehrdeutigkeit, sprachliche Vielfalt und Metaphorik einsetzt, um Erfahrungen nachzuempfinden und zu reflektieren. In solcher Weise haben Kulturtheoretiker*innen und Filmkritiker*innen wie Walter Benjamin oder Lotte Eisner Anfang des 20. Jahrhunderts die Erfahrung der Moderne, insbesondere des neuen Mediums Film, gefasst. In den 1980er Jahren entwickelte beispielsweise Roland Barthes ausgehend von seinen individuellen Rezeptionserfahrungen Theorien der Fotografie, der Literatur und des Films. Die Vignettenforschung der zeitgenössischen Erziehungswissenschaft wiederum ist eine qualitative Forschungsmethode, welche die Erfahrung des Lernens anhand kurzer prägnanter Erzählungen erforscht.
1. Vignettenforschung
Die Phänomenologische Pädagogik versteht Lernen und Lehren nicht ausschließlich als kognitive Prozesse, in denen etwas verstanden und eingeübt wird, sondern begreift sie als Erfahrungen, die auf sinnlichen, leiblichen Wahrnehmungen beruhen und Nichtverstandenes einbeziehen. Diese Erfahrungsmomente werden demnach unter anderem im körperlichen Ausdruck, in Mimik, Gestik und Haltung einer Person oder im Tonfall, Tempo und Rhythmus ihres Sprechens erkennbar. Anschließend an die Phänomenologische Philosophie von Bernhard Waldenfels und die Phänomenologische Pädagogik von Käte Meyer-Drawe werden Forschungsmethoden entwickelt, um diese Erfahrung des Lernens und Lehrens in den Mittelpunkt zu rücken.
Eine dieser Methoden ist die von Evi Agostini und anderen entwickelte Vignettenforschung. Diese beruht auf dem Verfassen und Analysieren von Vignetten. Vignetten sind sprachliche Miniaturen, die eine ‚inmitten der Dinge‘ wahrgenommene Situation mithilfe sprachlicher Bilder und Metaphern beschreiben. Sie verlangen den Schreibenden eine genaue Wahrnehmung und Übung in der Artikulation leiblicher Phänomene ab. Grundlegend ist dafür die Vorannahme, dass Erfahrungen sich intersubjektiv – also zwischen Menschen – vermitteln. Dass also der*die Verfasser*in in der Vignette die leibliche Erfahrung eines*r anderen erfassen kann.
Vignetten werden in den Bildungswissenschaften und in der pädagogischen Ausbildung zur Reflexion von Lern- und Lehrsituationen eingesetzt. Die Arbeit mit Vignetten hilft dabei, die eigene Wahrnehmung zu schulen, Eindeutigkeitsideale zu befragen und auch kleinen, scheinbar nebensächlichen Ereignissen in pädagogischen Situationen einen zweiten Blick zu schenken. Darüber hinaus wird die Vignette auch in der Evaluation und Entwicklung von Schule und Unterricht sowie in der Sozialraumforschung eingesetzt.
adult blur child (2016) (© pixabay.com)
Was ist eine Vignette?
Fünf Antworten von Evi Agostini (Universität Wien) auf Fragen der Studentin Wiebke Rolfs (Universität Bremen) zur Vignettenforschung.
„Vignetten sind kurze prägnante Erzählungen, die schulische Erfahrungsmomente fassen. [….] Sie gleichen Schnappschüssen, die dynamisches Handeln von Personen in konkreten Situationen herausnehmen und im Festhalten fixieren. […] Gleich einem Foto halten die Vignetten einen Erfahrungsmoment fest und fixieren ihn sprachlich und in ihrer bestehenden Wirkung.“
Michael Schratz, Johanna F. Schwarz, Tanja Westfall-Greiter 2012: 34
Wie schreibt man*frau eine Vignette?
Wie können Vignetten Erfahrungen erschließen, die sich begrifflich nicht fassen lassen?
Was kann mittels Vignetten erforscht werden?
Wie kann die Situierung der Forscher*innenperspektive berücksichtigt werden?
Zum Einstieg: Lesen Sie die drei Vignetten und überlegen Sie sich: Was zeigt sich in der/den Vignette/n und wie? Welche Formulierungen fallen besonders auf? Welche Leseerfahrung machen Sie? Stellen Sie Vermutungen über die Lernerfahrung oder die ästhetische Erfahrung der beschriebenen Personen an und begründen Sie diese anhand der Wortwahl und sprachlichen Form. In einem zweiten Schritt können Sie selbst eine Vignette zu einer Beobachtung aus ihrem Alltag schreiben. Beachten Sie dabei die Hinweise zum Schreiben einer Vignette von Evi Agostini (Tondokument).
Die links abgebildeten Vignetten stammen von Evi Agostini (Universität Wien) und wurden für die Auswertung anonymisiert. Vignette 1 entstand im Rahmen des Forschungsprojekts „Personale Bildungsprozesse in heterogenen Gruppen“ der Brixener Forschungsgruppe (Freie Universität Bozen), die sich an der Methodik der „Innsbrucker Vignettenforschung“ orientierte. Die Daten wurden im Schuljahr 2012-2013 an insgesamt 16 Schulstandorten in Südtirol (Italien) erhoben. Vignette 2 und 3 entstanden 2019 als Begleitforschung zu einem Vermittlungsprojekt „Nah am Werk“ von Agnes Bube (IGK/Leibniz-Universität-Hannover) mit Studierenden. Weitere Vignettenbeispiele finden Sie ⇒hier.
Zum Weiterlesen
Agostini, Evi: Über die Kunst des Vignettenschreibens. Forschendes Studieren zwischen empirischen und ästhetisch-ethischen Ansprüchen. In: Kunz, Ruth; Peters Maria (Hg.): Der professionalisierte Blick. München: Kopaed Verlag 2019, S. 179-189.
Agostini, Evi: Was kann uns die Ästhetik heute noch bedeuten? Ästhetische (Lern-)Erfahrungen: eine Vignette und deren Lektüre. In: Magazin Erwachsenenbildung.at 2014, 22. ⇒Download
Schratz, Michael; Schwarz, Johanna F.; Westfall-Greiter, Tanja: Lernen als bildende Erfahrung. Vignetten in der Praxisforschung. Mit einem Vorwort von Käte Meyer-Drawe und Beiträgen von Horst Rumpf, Carol Ann Tomlinson, Mike Rose u. a.. Innsbruck; Wien; Bozen: Studienverlag 2012.
Meyer-Drawe, Käte: Zur Erfahrung des Lernens. Eine phänomenologische Skizze. Filosofija, 18(3), 2010, S. 6-17.
Texte von Bettina Henzler und Laura Somann (2020)
Kleine Legende
Rot: zur Orientierung
Blau: zum Weiterdenken/-lesen
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Was ist Ästhetische Bildung?
Anhand zahlreicher Beispiele aus Radiokunst, Malerei, Graphik und Installationskunst erläutert Maria Peters in ihrer Onlinepräsentation im Rahmen der jährlichen Ringvorlesung des IKFK die Grundlagen der Ästhetischen Bildung: Welche Rolle spielt die Wahrnehmung? Wie...