Was sind die Materialien der Medien und der Kunst? Mit welchen Mitteln und Apparaten werden ästhetische Werke hergestellt, verbreitet und angeschaut? Wie werden diese kulturellen Praktiken überliefert? Wo werden Materialien – Gemälde, Fotografien, Schriftstücke, Filmrollen, Apparate – gesammelt und bewahrt, die darüber Auskunft geben? Wie sammele und erkunde ich selbst mein Material, um eine Forschungsfrage zu verfolgen?
Ästhetische Erfahrungen sind geprägt von den konkreten Bedingungen der Wahrnehmung: So kann die Malweise eines Gemäldes beispielsweise nur am Originalgegenstand adäquat erschlossen werden. Und die Wirkung einer analogen Filmkopie hängt entscheidend davon ab, ob sie auf die große Leinwand projiziert oder als Digitalisat auf einem Laptop angeschaut wird. Die kunst- und medienwissenschaftliche Forschung fragt daher nach der materiellen Beschaffenheit ihrer Gegenstände, nach den kulturellen Praktiken und technischen Möglichkeiten, die deren Rezeption und Produktion in einer Zeit prägen.
Zu einer Auseinandersetzung mit der Materialität der Kunst forderten die Avantgarden seit Beginn des 20. Jahrhunderts heraus, die sich von den traditionellen Malutensilien der Farbe und Leinwand lösten und zunehmend ‚kunstfremde‘ Dinge – wie Alltagsgegenstände, Abfall oder Naturstoffe – einbezogen. Doch erst als mit der Digitalisierung Anfang des 21. Jahrhunderts die Frage nach dem Originalmaterial an neuer Dringlichkeit gewann, entstand in der Kunstwissenschaft der Forschungszweig der Materialanalyse.
In den Medienwissenschaften entwickelt sich seit den 1950er Jahren der Forschungszweig der Medienarchäologie, die sich den materiellen ‚Überbleibseln‘ der Film- und Mediengeschichte widmet und diese als eine Kulturgeschichte der Apparaturen und kulturellen Praktiken erforscht. Anstatt sich auf kanonische Werke zu fokussieren, bezieht die Medienarchäologie alle Arten von populären Medien oder Gebrauchsmedien mit ein. Unter anderem können Programmhefte, künstlerische Manifeste, Fotografien, Skizzen, Kameras oder Projektoren Aufschluss über technische Gegebenheiten, Produktion und Rezeption geben. Auch die Überlieferung selbst wird dabei zum Thema, denn was wir von der Vergangenheit überhaupt in Erfahrung bringen können, hängt entscheidend davon ab, welche Materialien in welcher Form gesammelt und archiviert wurden, und wie sie heute zugänglich sind.
1. Medienarchäologie
Zum Einstieg: Stellen Sie sich vor, Sie möchten frühe Kinokulturen oder den Amateurfilm in der DDR erforschen. Welche Materialien würden Sie dafür hinzuziehen? Wo könnten Sie diese finden? Wie gehen Sie mit den Materialien um? Wozu setzen Sie diese in Beziehung? Wie kann das Material angeeignet und kontextualisiert werden?
© Sammlung Österreichisches Filmmuseum
Während die Archäologie die Kulturgeschichte der Menschen anhand ihrer materiellen Hinterlassenschaften untersucht, widmet sich die Medienarchäologie der Kulturgeschichte der Medien. Diese wird als Technik- und Materialgeschichte, als Geschichte kultureller Praktiken und als ⇒Diskursgeschichte im Sinne Michel Foucaults erforscht. Im Unterschied zu einer auf die lineare Abfolge historischer ‚Fakten‘ und Entwicklungen konzentrierten Geschichtsschreibung, begreift die Medienarchäologie Kulturgeschichte als ein Nebeneinander verschiedener Techniken, Praktiken und Entwicklungen, in dem es Sackgassen, Brüche und Wiederholungen gibt.
Die Medienarchäologie fragt nach den technischen, sozialen und kulturellen Bedingungen, unter denen Medien hergestellt, verbreitet und rezipiert werden. Sie untersucht die Wechselbeziehung von verschiedenen Apparaturen, Ereignissen der Präsentation und kulturellen Praktiken der Zuschauer*innen oder Nutzer*innen. Sie widmet sich dafür den materiellen Zeugnissen früherer Zeiten, die in öffentlichen Archiven, auf Flohmärkten oder bei privaten Sammler*innen auffindbar sind. Im Unterschied zu Medientheorien, wie zum Beispiel der ⇒Dispositivtheorie, die allgemeine Modelle von Zuschauerschaft und Mediennutzung entwickeln, geht es der Medienarchäologie darum, verschiedene Perspektiven auszudifferenzieren und zu situieren. Sie widmet sich der Vielfalt unterschiedlicher lokaler Praktiken und den konkreten Materialien und Techniken von Medienkulturen.
Damit gelingt es der Medienarchäologie auch, vorherrschende Geschichtsbilder zu revidieren. So haben Tom Gunning, Thomas Elsaesser und andere in ihren Forschungen zur frühen Kinokultur beispielsweise Vorstellungen von der Passivität der Kinozuschauer*innen, die sich regungslos der Übermacht der Leinwandbilder hingeben, infrage gestellt. Mary Ann Doane und Wanda Strauven haben über die fortdauernde Attraktivität optischer Spielzeuge nachgedacht. Petra Löffler wiederum untersucht in Verteilte Aufmerksamkeit (2014) Zuschauerkulturen und Medien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts im Zusammenhang einer Veränderung der Wahrnehmung, die sich in ganz unterschiedlichen Bereichen, wie dem Theater, dem Jahrmarkt, der Wissenschaft und der Großstadterfahrung niederschlug.
© Sammlung Österreichisches Filmmuseum
Zum Weiterlesen
Elsaesser, Thomas: Wie der frühe Film zum Erzählkino wurde. Vom kollektiven Publikum zum individuellen Zuschauer. In: Ders.: Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels. München: Edition Text und Kritik 2002, S. 69-93.
Gunning, Tom: Traveling Shots. Von der Verpflichtung des Kinos, uns von Ort zu Ort zu bringen. In: Pauleit, Winfried; Rüffert, Christine; Schmid, Karl-Heinz; Tews, Alfred (Hg.): Traveling Shots: Film als Kaleidoskop von Reiseerfahrungen. Berlin: Bertz+Fisher 2006, S. 16-29.
Löffler, Petra: Medienarchäologie und Film. In: Groß, Bernhard; Morsch, Thomas (Hg.): Handbuch Filmtheorie. Wiesbaden: Springer VS 2020, S. 1-16.
2. Archäologie des Films
In einem engeren Sinn kann Film selbst als ein medienarchäologisches Forschungsinstrument oder als Archiv der Kulturgeschichte begriffen werden. Denn Filme speichern Dinge, Körper, Architekturen, Räume und Ereignisse. Filme tragen Spuren der Vergangenheit, in der sie entstanden ist. Filme betreiben Geschichtsschreibung.
Jean-Luc Godard hat in seinem achtteiligen Essayfilm Histoire(s) du cinéma (1988-2000) den Versuch unternommen, die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit der Filmgeschichte zusammenzuführen: Mittels ⇒Montage konfrontiert er das, was Filme aufgezeichnet, propagiert und erzählt haben, mit historischen Ereignissen, vor allem dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg, um das kulturelle Gedächtnis des Films zu reflektieren. Experimental- und Dokumentarfilmemacher*innen, die Archivmaterialien bearbeiten, widmen sich zudem spezifischer der Medialität der Geschichte. Sie befragen, wie Rebecca Baron mit Okay bye-bye (1998), aufgefundene Materialien im Hinblick auf ihre Funktion innerhalb des kulturellen Gedächtnisses, stellen Archivpolitiken und Geschichtsbilder infrage. Der Rückgriff auf Archivmaterial hat hier gleichermaßen eine authentisierende wie eine kritische Funktion.
Filmstill aus: Yerkan Gianikian & Angela Ricci Lucchi: Transparences (1998)
Filmstill aus: Yerkan Gianikian & Angela Ricci Lucchi: Transparences (1998)
Andere Filmschaffende erforschen expliziter die Filmgeschichte: Einige verwenden sogenannte ephemere, das heißt randständige, in der Filmgeschichtsschreibung meist weniger beachtete Formate wie Gebrauchsfilme oder Amateurfilme. In seiner Experimentalfilmserie Film ist 1-6 (1998) montiert Gustav Deutsch beispielsweise Wissenschafts-, Erziehungs- und Industriefilmmaterial, um wesentliche Eigenschaften des Mediums herauszuarbeiten und dabei zugleich neue Einblicke in die Vielgestaltigkeit des Films und seine Nutzung zu vermitteln. Einen Teil widmet er darin auch beschädigtem Filmmaterial. In den vielgestaltigen ‚Blüten‘ und Formen wird nicht nur die Schönheit der chemischen und der Alterungsprozesse, sondern auch der Verfall des Materials sichtbar, ja spürbar. Yerkan Gianikian und Angela Ricci Lucchi gehen in Transparences (1998) noch einen Schritt weiter, indem sie analoges Nitrat-Filmmaterial, wie auf einem Leuchttisch abfilmen und aus dem Off kommentieren, was sie (noch) wahrnehmen können. Angesichts der Digitalisierung thematisieren die beiden Künstler*innen die Historizität des Materials und seine Aussagekraft als dingliche Hinterlassenschaft.
Zum Weiterlesen
Blümlinger, Christa: Kulturen der Aneignung. In: Dies.: Kino aus zweiter Hand. Zur Ästhetik materieller Aneignung im Film und in der Medienkunst, Berlin: vorwerk 2009, S.13-40.
Rüffert, Christine: Lichtspiele unter der Lupe. Filmvermittlung anhand von Experimentalfilmen. In: Henzler, Bettina; Pauleit, Winfried: Filme sehen, Kino verstehen. Marburg: Schüren 2008, S. 93-117.
3. Kunstwissenschaftliche Materialanalyse
Die Kunstwissenschaft hat sich seit ihren Anfängen vor allem als Ideen- und Künstlergeschichte verstanden. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts traten dann Werkanalysen, in denen nach Form- und Stilprinzipien gefragt wurde, in den Vordergrund. Wenig später gewann mit der Entwicklung der ⇒Ikonologie die Deutung der Inhalte eines Bildes an Gewicht. Die Materialität von künstlerischen Objekten wurde als Forschungsgegenstand demgegenüber lange vernachlässigt, umso mehr als die Kunstwissenschaft seit dem 19. Jahrhundert begann, mit Fotografien statt mit Originalen zu arbeiten – ein Mechanismus, der sich mit der Digitalisierung Ende des 20. Jahrhunderts noch verstärkt hat.
Georges Adéagbo: Une Espace avec le Monde (2007)
Als Gegenposition zu diesen Tendenzen wurde in jüngerer Zeit die Materialanalyse entwickelt. Diese ist inspiriert von der Kunst des 20. Jahrhunderts, die zunehmend auf ‚kunstfremde‘ Materialien zurückgriff: In seinen Collagen verarbeitete schon Kurt Schwitters Alltagsdinge als Zeitzeugnisse. Georges Adéagbo verknüpft in seinen Installationen (Une espace avec le monde, 2007) aufgefundene Gegenstände zu interkulturellen Enzyklopädien der Alltagskultur. Andere, wie Arman in Petits déchets bourgeoises (1960), greifen Wertloses, wie Abfall oder Müll auf, um die Konsumgesellschaft zu reflektieren. Und auch Naturmaterialien, wie Blütenpollen und Erde, verschaffen Künstler*innen wie Nikolaus Lang (Farbfeld – Sand und Ocker; Adelaide, 1991) im Museumsraum Geltung. In diesen Werken übernimmt das Material nicht allein eine dienende Funktion, sondern tritt vielmehr in seinem Eigenwert, seiner haptischen und visuellen Qualität, hervor und verweist auf seine Herkunft. Mit der Materialität wird zudem auch die Kunst selbst, das, was sie ist und wir von ihr erwarten, erforscht.
Die Materialanalyse fragt auch nach der Nutzung von Materialien in der Kunst und wie diese sich in der Kunstgeschichte verändert hat. Sie untersucht die Bedeutungen, die mit Materialien verbunden werden, nach ihrer sozialen Funktion, die von Kunstwerken aufgegriffen und kommentiert wird, und nach der Wertigkeit, die in Gesellschaften bestimmten Materialien zugemessen wurde und wird.
Zum Weiterlesen
Rübel, Dietmar: Abfall. Materialien einer Archäologie des Konsums oder: Kunst vom Rest der Welt. In: Wagner, Monika; Rübel, Dietmar (Hg): Material in Kunst und Alltag. Berlin: Akademie Verlag 2002, S. 119-138.
Wagner, Monika: Farbe als Material. In: Dies.: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne. München: C.H. Beck 2001, S. 17-56.
Texte von Bettina Henzler (2020)
Kleine Legende
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