Praktiken der Medienarchäologie

Petra Löffler hielt am 16.1.2020 am IKFK der Universität Bremen einen Workshop zur Medienarchälogie. Im Folgenden werden Auszüge aus ihrem Vortrag in komprimierter Form wiedergegeben.

Was unterscheidet Medienarchäologie von Mediengeschichte?

Der Begriff der Archäologie deutet zunächst an, dass man*frau von Dingen und Materialien ausgeht, dass man*frau Orte aufsucht und dort etwas ‚ausgräbt‘. Aber es geht auch um eine bestimmte Vorstellung von Zeit, von Vergangenheit. Mediengeschichte arbeitet meist mit Datierungen auf einem Zeitpfeil, was impliziert, dass sich etwas in der Zeit nacheinander ereignet und entwickelt. Die Medienarchäologie hat dagegen ein anderes Verständnis von zeitlichen Verläufen und damit auch von Geschichte. Sie geht davon aus, dass es keine einfache Kausalität von Ereignissen, sondern viele parallele und auch widerstreitende Ereignisse und Vorgänge gibt und ein Scheitern immer möglich ist.

Die Begriffe ‚Erfindung‘ oder ‚Entdeckung‘ sind insofern problematisch, denn sie implizieren immer einen Moment, in dem plötzlich etwas da ist, was vorher nicht da war. Solche Momente sind natürlich singulär, aber nicht nur das. Es gibt zum Beispiel sehr viele Geschichten zur Entstehung des Films, die von verschiedenen lokalen Protagonist*innen und ihren gebauten Visionen erzählen, die jeweils auf ihre Weise an der Entstehung des Films beteiligt waren, oft aber auch gescheitert sind. Medienarchäologie beschäftigt sich vor allem mit den wechselvollen, brüchigen Geschichten von Materialien, Apparaten und medialen Ensembles, den vielfachen Anfängen und losen Enden der Mediengeschichte.

Deshalb spreche ich lieber von medialen Ensembles, das meint, dass es um zeitlich und räumlich variable Kombinationen verschiedener apparativer Anordnungen und Materialien geht. Beim Film wäre das neben Kamera, Projektor und Leinwand auch der Film selbst als hochgradig sensibles Material und das Kino als ein bestimmter Raum, in dem ein Publikum Filmen begegnet.

 

Das filmische Erbe ist verstreut. Es findet sich im Programm von Kinos und Filmfestivals, die wie Il Cinema Ritrovato in Bologna Filmgeschichte kuratieren, aber auch auf Flohmärkten oder in Filmantiquariaten. Für die Pflege des filmischen Erbes sind staatliche Filmarchive, wie die Deutsche Kinemathek in Berlin oder das Österreichische Filmmuseum Wien verantwortlich. Viele dieser Institutionen besitzen mittlerweile auch eine Online-Datenbank, wie zum Beispiel das British Film Institute, dessen Bestände durch eine Kooperation auf Youtube verfügbar gemacht werden. Dazu gehören auch regionale oder lokale Sammlungen, wie zum Beispiel das Landesfilmarchiv Bremen. Es gibt auch Stiftungen und kleinere öffentlich geförderte Institute, die den Nachlass von Regisseur*innen verwalten wie zum Beispiel das Harun Farocki Institut in Berlin. Schließlich sind auch Privatsammlungen zu nennen, wie die Sammlung zur Vor- und Frühgeschichte des Films von Werner Nekes, der sich mit Apparaturen beschäftigt, die Bilder projiziert haben, bevor es Film gab.

Filmarchive sind eher „wilde Archive“, die nicht durch ein staatlich gefördertes systematisches Sammeln entstanden sind, die mit Lücken konfrontiert sind, bei denen auch Zufälle eine Rolle spielen. All dies wird von der Medienarchäologie erforscht, ebenso wie Archivpolitiken – die darüber entscheiden, welche Gegenstände aufbewahrt und digitalisiert werden, und die damit über den langfristigen Bestand und die Sichtbarkeit des kulturellen Erbes entscheiden.

 

 

Voraussetzung für die medienarchäologische Forschung ist das Sammeln und Archivieren des sogenannten filmischen Erbes. Wo sind filmhistorische Materialien zu finden?

Wie geht man*frau mit den Materialien um?

Es handelt sich um sensible Materialien, für die man*frau ein Gespür entwickeln muss, um in den Spuren des Gebrauchs die Filmpraktiken und Kontexte aufzufinden. Dazu gehört das Hantieren mit Filmrollen und fotografischen Abzügen, das Recherchieren von Beschriftungen, das Betrachten des Materialzustands, die Sichtung des Filmmaterials, das Vergleichen unterschiedlicher Kopien des gleichen Films, um verschiedene Versionen, Eingriffe der Zensur oder Sprachfassungen zu erschließen. Die Herkunft der Filmkopien kann aus Metadaten, wie Beschriftungen auf Filmrollen, Archivnummern, Inventarlisten rekonstruiert werden. Schließlich kann auch der Materialzustand betrachtet werden, ja daran gerochen werden: Das Essigsyndrom oder der Schimmel, die das Material zerstören, kann man*frau riechen. Filmmaterialien sind auch deshalb sensibel, weil sie sich permanent unter wechselnden Umweltbedingungen verändern.

 

 

Nach dem oben beschriebenen ersten Umgang mit dem Material ist es wichtig, dieses zu relationieren, also in Beziehung zur Film- und Technikgeschichte zu setzen. Zum Beispiel kann man*frau das Format eines Films, also die Breite des Filmstreifens, mit einer ganz bestimmten Technik in Verbindung bringen. 35-mm ist das Kinoformat, während 16-mm mit kleineren Kameras gedreht wurde, die für den Gebrauchsfilm und den Lehrfilm eingesetzt wurden. Hiermit sind auch unterschiedliche Projektions- und Präsentationsweisen verknüpft. 16-mm wurde in der Regel nicht im Kino, sondern vor kleinerem Publikum, beispielsweise in der Schule, vorgeführt. Wir haben es also auch mit anderen Zuschauerschaften zu tun.

Außerdem sollten auch Verbindungen zu wissenschaftlichen und populären Diskursen hergestellt werden. So kann das Publikumsverhalten oder lokale Kinokulturen erforscht werden. Wo sind die Filme unter welchen Bedingungen für wen aufgeführt worden? Dafür muss man*frau sehr viele unterschiedliche Quellen in Betracht ziehen, auch Ankündigungen von Filmprogrammen in Zeitungen beispielsweise. Darüber hinaus sollte das Material mit anderen Filmen und fotografischen Werken verknüpft werden. Ein Film kommt selten allein, er setzt sich immer in Beziehung zu anderen Bildern, also zu dem, was in einer bestimmten Zeit ebenfalls visuell verhandelt wurde.

 

Wozu kann das Material in Beziehung gesetzt werden?

Wie kann das Material angeeignet und aktualisiert​ werden?

Wichtig ist es, sich selbst zum historischen Material in Beziehung zu setzen, sich zu situieren und eine (selbst)kritische Position einzunehmen. Das heißt, sich kritisch mit kanonischen Werken befassen, sich eher weniger gut überlieferten Bereiche, wie zum Beispiel dem Amateurfilm zuzuwenden, oder auch die Archivpolitiken, nach denen Bestände gesammelt und katalogisiert werden, kritisch zu untersuchen. Dabei können historisch Seh- und Wissensordnungen aufgearbeitet werden: Wie wurde zu einer bestimmten Zeit wahrgenommen? Wie wurde Wissen hergestellt? Wie hängt beides zusammen?

Die Aktualisierung des Materials meint nicht nur, dass man*frau das filmische Erbe dem heutigen Publikum zeigt, es dadurch lebendig hält, dass man*frau es vermittelt, seine Fremdheit überbrückt. Es meint auch, sich mit den konkreten Gegenständen des Archivs ebenso kritisch wie kreativ auseinanderzusetzen. Ich denke da an das „Living Archive“-Projekt des Arsenals – Institut für Kino und Filmkultur Berlin, das Künstler*innen eingeladen hat, mit den Beständen des Archivs zu arbeiten. Zur Aktualisierung des filmischen Erbes tragen auch Künstler*innen – wie Vervant Gianikian, Angela Ricci Lucchi, Bill Morrison oder Adela Muntean – bei, die aus vorgefundenen Materialien, auch vom Verfall bedrohten Filmen, neue Werke schaffen.

 

Auszüge aus einer Vorlesung von Petra Löffler, Medienarchäologische Filmforschung, am 16.1.2020 an der Universität Bremen.