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Ist Kunst eine Form der Erkenntnis – bietet sie die Möglichkeit, sich die Welt und ein Wissen über die Welt zu erschließen? Kann die Arbeit von Künstler*innen als Forschung verstanden werden? Worin liegen dann die Unterschiede zur wissenschaftlicher Forschung? Und welche Rolle spielt die künstlerische Forschung in der Vermittlung?
Die künstlerische Forschung entwickelte sich um die Jahrtausendwende in Folge des so genannten practical turn. Im Zuge dessen erweiterte sich das Kunstverständnis, das neben Werken stärker auch performative und handlungsbezogene Aspekte künstlerischen Schaffens einbezog. Es entstanden zwei Entwicklungslinien: Kunst als Forschung und Künstlerische Forschungspraxis als Lernprozess.
Die erste Entwicklungslinie wurde und wird im institutionellen Kontext durch Kunstphilosoph*innen, -wissenschaftler*innen und Künstler*innen bestimmt. Diese stellen das gängige Verständnis von Wissenschaft infrage und verstehen künstlerische Forschung als eine Form der Erkenntnis, die ein „anderes Wissen“ hervorbringt. Vorläufer*innen sind die institutionenkritische Kunst und die Konzeptkunst, welche sich als kritisch-kulturelle Praxis verstehen.
Eine zweite Entwicklungslinie von künstlerischer Forschung kommt aus einem kunstpädagogischen Feld, das die Frage stellt, wie eine Kunst, die performativ, situativ, temporär, ortsbezogenen und oftmals ohne Werk ist, noch vermittelbar sein kann bzw. ist. Der Schwerpunkt von Kunstunterricht verlagert sich hierdurch von einer nachahmenden auf Produkte zielenden Lehrsituation hin zu einer selbsttätigen ästhetischen Handlungspraxis von Studierenden und Schüler*innen.
1. Der Begriff im Feld der Kunst und der Kunstpädagogik
Christiane Brohl: Oberhafen Hamburg (2017) (© Christiane Brohl)
Zum Weiterlesen
Badura, Jens; Dubach, Selma; Haarmann, Anke; Mersch, Dieter; Rey, Anton; Schenker, Christoph; Toro Pérez, Germán (Hg.): Künstlerische Forschung. Ein Handbuch. Zürich, Berlin: diaphanes 2015.
Brohl, Christiane: Künstlerische Forschung und Kulturelle Bildung. Gedanken zur Entwicklung von kunstpädagogischer Professionalität in Schule und Hochschule. In: BDK-Mitteilungen, Heft: 1/2019, S. 17-22.
Kämpf-Jansen, Helga: Ästhetische Forschung. Aspekte eines innovativen Konzeptes ästhetischer Bildung, in: Blohm, Manfred (Hg.): Leerstellen. Perspektiven für ästhetisches Lernen in Schule und Hochschule, Köln: Salon Verlag 2000, S. 83–114.
Haarmann, Anke: Gibt es eine Methodologie künstlerischer Forschung? In: Neumauer, Otto (Hg.): Wieviel Wissenschaft bekommt der Kunst?, Wien: Österreichische Forschungsgemeinschaft 2011. ⇒Download
Künstlerische Forschung steht für einen neuen Forschungsbereich neben Kunst und Wissenschaft. Das Besondere an Künstlerischer Forschung ist, dass sie das gängige Verständnis von Wissenschaft nicht nur infrage stellt, sondern produktiv erweitert. Sie erforscht kritisch-reflexiv die visuelle Kultur und die Kunst und sucht nach Möglichkeiten diese zu transformieren und weiterzuentwickeln. Damit macht sie auch deutlich, wie kontextuell, relativ und ⇒situiert Wissen ist.
Charakteristisch für das Forschen in der Kunst ist, dass die Methode, also wie etwas, beispielsweise ein Thema, ein Gegenstand, eine Situation, erkundet wird, erst im Prozess des Forschens entwickelt wird. Dabei wird das Subjektive, Ereignishafte und Unbestimmbare als Bedingung der Erkenntnis angenommen. Erst im Nachgang lässt sich die jeweilige künstlerisch-forschende Methode induktiv erschließen. Künstlerische Forschung wird dadurch nicht beliebig, sondern beansprucht eine schlüssige Beziehung von Inhalt und Form, welche ein systematisches Vorgehen und daraus entwickelte Einsichten nachvollziehbar macht.
Parallel zur Entwicklung der Künstlerischen Forschung in Kunst und Philosophie entstanden bereits Anfang des 21. Jahrhunderts in der Kunstpädagogik Positionen wie Ästhetische Forschung und Künstlerische Forschung als Erkenntnispraxis. Die diesem Verständnis folgende Lehre von Kunst wurde und wird ästhetisch, performativ und kunstnah ausgerichtet und auf Lernprozesse der Studierenden und Schüler*innen bezogen. Lernende sollen handelnd ästhetisch forschen, um eigene Selbstbildungsprozesse anzuregen und handlungsbezogene Kompetenzen zur Positionierung in der visuellen Kultur zu entwickeln.
Wesentliche Arbeitsschritte der künstlerischen Forschung sind: recherchieren, sammeln, experimentieren, anordnen, installieren, ausstellen, formieren, intervenieren, skizzieren, zeichnen, schreiben, publizieren und viele mehr.
Künstlerisches Forschen als materielle Fragepraxis
2. Kartierung von Stadträumen
Zum Einstieg: Stellen Sie sich vor, dass Sie an der Außenlaster in Hamburg auf die alte Schute (ein alter Lastenkahn) gehen, auf der ein Holzhaus steht. Sie blicken in das kleine Holzhaus und sehen ein Forschungslabor. Wie wirkt dieses Forschungslabor auf Sie? Stellen Sie sich vor, dass Sie alles benutzen können, was Sie dort finden. Überlegen Sie sich, wie Sie die Außenlaster künstlerisch erforschen würden? Was würde Sie interessieren? Wie würden Sie vorgehen?
Im Rahmen des Kartierungsprojektes „Mapping a City Hamburg-Kartierung“ (Hamburger Kunstverein und Galerie für Gartenkunst) wurde 2002 die „Biologische Forschungsstation Alster“ des amerikanischen Künstlers Mark Dion 2002 vorgestellt.
Mark Dion & Galerie für Landschaftskunst: Biologische Forschungsstation Alster (2002) Foto: Christiane Brohl
Mark Dion: Biologische Forschungsstation Alster,
oberer Flyer von Mark Dion, unteres Foto: Bob Braine
Mark Dion (*1961) erforscht in seinen Kunstprojekten die Natur und gleichzeitig die Art und Weise, wie Natur wissenschaftlich erkundet und in Naturkundemuseen repräsentiert wird. Diese Formen des wissenschaftlichen Zeigens von Natur greift Dion auf: er sammelt Gegenstände rund um sein jeweiliges Themenfeld (hier die Alster) quer durch alle Diskurse; er recherchiert, zeichnet, schreibt, dokumentiert und ordnet all diese Sammlungen von Gegenständen und Informationen zu dreidimensionalen Installationen an.
In der „Biologischen Forschungsstation Alster“, einem motorlosen Lastenkahn, erarbeitet und stellt Dion 2002 seine künstlerische Erforschung der Hamburger Außenalster und seine Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Forschung über das Gewässer aus (siehe Bild links). Das Forschungslabor dient auch als Treffpunkt für zahlreiche Veranstaltungen, wie Diskussionen, Vorträge, Zeichenkurse und Erkundungstouren. Es ermöglicht die Kooperation mit Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Besucher*innen und Schulklassen.
In diesem und einem ähnlichen Projekt in London zeigt Dion, wie etwas Wertloses mittels wissenschaftlicher Methoden des Kategorisierens und Präsentierens an Bedeutung gewinnt. Ein nutzloser Gegenstand wird zu einem Fundstück besonderer Art. Es ist ein Beweis für etwas und zeigt auf etwas. Ein Stück Müll aus der Alster kann so zu einem Zeichen für eine Kultur werden oder auf den Zustand der Gewässer verweisen.
Künstlerische Handlungsanweisungen: Orte kartieren
Gibt es Orte, wo Sie gerne hingehen oder Orte, die Sie meiden?
Wo halten Sie sich oft oder selten … zwischendurch … in der Pause … im Büro … abends … auf?
Gibt es Orte, wo Sie etwas suchen oder finden, wie Ruhe … Geselligkeit … Ablenkung … Konzentration … Anregung … ?
Können Sie sich an besondere Orte Ihrer Kindheit und Jugend erinnern?
Lassen sich Ihre Orte vernetzen durch Wege, Gefühle, Geräusche, Bilder … oder Gerüche?
Umwege, Irrwege, Geheimwege, Einbahnstraßen, Schnellstraßen, Abkürzungen … sind erlaubt.
Gibt es einen Ort Ihrer Träume?
Wo verstecken Sie Ihre Geheimnisse?
Wünschen Sie sich auch manchmal an einen anderen Ort?
Könnten Sie Ihre Orte vernetzen, verbinden, verknüpfen?
Fallen Ihnen noch andere Fragen ein?
Haben Sie eine besondere Frage zu einem spezifischen Ort?
Oder: wollen Sie jetzt hinaus gehen, reisen und einen anderen Ort aufsuchen?
Können Sie eine Karte mit Ihren Orten erfinden?
Gestalten Sie eine Karte mit Ihren Orten.
Diese künstlerische Handlungsanweisung hat Christiane Brohl im Rahmen eines Seminares für Kunststudent*innen an der Uni Bremen entwickelt, um Prozesse künstlerischen Forschens anzustoßen. In Brohl Verständnis sind solcherlei Anweisungen Impulsgeber, regen zum Handeln an und eröffnen ein Forschungsfeld – egal, ob in der Uni, Museum oder in der Schule.
Zum Weiterlesen
Brohl, Christiane: Displacement. Bewegungen auf unsicherem Terrain und kunstpädagogische Professionalität. In: Kettel, Joachim (Hg.): Missing_LINK 2016. Übergangsformen von Kunst und Pädagogik in der Kulturellen Bildung. Künstlerische Kunstpädagogik im Kontext. Oberhausen: Athena 2017, S. 151.
Die leere Ozean-Karte von Carroll zeigt uns einen Erfahrungsraum, der Unsichtbares, Unbekanntes, Unbestimmbares und Unberechenbares enthält. Die Leere ist gleichzeitig Projektionsfläche unserer Phantasie und Vorstellungskraft, die sich noch lange im Einzeichnen von Seeungeheuern und fiktiven Inseln auf Karten bis ins 19. Jahrhundert gezeigt hat. Auf solchen Karten wurden Erfahrungen des Meeres mit den Erzählungen der Seemannschaft von Wunder, Rätsel und Märchen vermischt. Die Verwissenschaftlichung der Karte grenzte alles Fiktive aus.
Lewis Carrol: Ocean Chart (1994)
Texte von Christiane Brohl (2020)
Kleine Legende
Rot: zur Orientierung
Orange: zum Weiterdenken/-lesen
⇒Oranger Pfeil: zum Anklicken
Was ist Ästhetische Bildung?
Anhand zahlreicher Beispiele aus Radiokunst, Malerei, Graphik und Installationskunst erläutert Maria Peters in ihrer Onlinepräsentation im Rahmen der jährlichen Ringvorlesung des IKFK die Grundlagen der Ästhetischen Bildung: Welche Rolle spielt die Wahrnehmung? Wie...