Bilder und Filme sind gestaltete Formen: visuelle Anordnungen und Muster, Farben und Formen, musikalische Rhythmen, die Choreographie von Bewegungen, Montage… Wie kann man*frau die Form eines Werks analysieren – das heißt, die Strukturen und Logiken, die seine Gestalt ausmachen, herausarbeiten? Inwiefern entfalten solche ästhetischen Formen einen ‚Eigensinn‘ – das heißt, eine ihnen eigene Bedeutung, die sich nicht allein durch die dargestellten Inhalte oder ein Kontextwissen erschließen lässt?

Die Kunst- und Filmwissenschaften gehen davon aus, dass ein Bild oder Film nicht nur eine ‚schöne‘ Form ist, die wie ein Kleidungsstück einen Inhalt ‚eingekleidet‘, sondern dass das Kleidungsstück selbst das Werk ist, die Form also den Inhalt hervorbringt. Die Gegenstandsanalyse untersucht, wie ästhetische Formen Sinn generieren, und zwar, indem sie die Betrachter*innen oder Zuschauer*innen in eigener Weise ansprechen und künstlerischen Haltungen Ausdruck verleihen.

In den 1960er bis 1980er Jahren dominierten vor allem sprach- und kommunikationswissenschaftliche Ansätze, die alle Arten von Werken und Medien als ‚Texte‘ deuteten. Sie wurden in den 1990er Jahren durch die sogenannte Ikonische Wende oder Wende zum Bild infrage gestellt. In dieser Zeit wurde gefordert, die bildliche Darstellung nicht nur als Zeichen oder Kommunikationsmittel zu verstehen, sondern als eigene Form des Wissens und des Denkens zu untersuchen. Diese Entwicklung einer ‚Bildwissenschaft‘ war nicht vollkommen neu, sondern konnte auf Vorläufer zurückgreifen. Dazu gehört in der Kunstwissenschaft die Ikonik, die Max Imdahl in den 1960er Jahren entwickelte, um die eigene Aussagekraft von Bildern zu untersuchen. Die Ikonische Wende beeinflusste auch die Sozialwissenschaft, die Fotografien und Videos als Dokumente sozialer Beziehungen untersucht (Dokumentarische Methode). 

Im Filmbereich wiederum haben sich Filmtheoretiker*innen, wie Rudolf Arnheim, Béla Balász, Germaine Dulac oder Gilles Deleuze, seit Beginn der Filmgeschichte mit der Frage befasst, wie sich das Bewegungsbild von anderen Kunstformen unterscheidet und eine eigene Form der Wahrnehmung und des Denkens hervorbringt. Alle diese Ansätze setzen bei der Anschauung des einzelnen Werks an, deren formale Besonderheiten im Vergleich mit anderen Werken oder in der Variation von Darstellungsmöglichkeiten herausgearbeitet wird.

1. Bildanalyse: Ikonik

Der Kunsthistoriker Max Imdahl schlug die Ikonik als eine Analysemethode vor, die von der Anschauung eines Bildes anstatt vom Kontextwissen ausgeht. Durch das Analysieren der formalen Eigenschaften eines Bildes, lässt sich demnach dessen Sinn und Wirkung erschließen. Er ergänzte damit die ⇒Ikonologie von Erwin Panofsky. Diese deutet Bilder ausgehend von den Bildinhalten, indem sie diese mit Kontextwissen (über literarische Quellen oder die Kunst- und Geistesgeschichte) in Bezug setzt. Imdahl geht darüber hinaus davon aus, dass die Analyse der Gestaltung eines Werks entscheidend ist, um dessen Besonderheit zu verstehen, und dass diese sich unabhängig vom Kontext der Entstehungszeit jedem*r Betrachter*in erschließen kann. Er betont somit die eigene Aussagekraft von Bildern. Diese müsse zwar in Worte gefasst werden, um sich darüber zu verständigen, sie komme aber nur in der Anschauung zur Geltung. Bilder adressieren die Betrachter*innen demnach anders als Texte oder andere sprachliche Formen.

Zum Einstieg: Betrachten Sie das Bild und überlegen Sie: Was ist im Bild zu sehen und wie ist das Bild gestaltet? Wie lässt sich die Perspektive der Betrachter*innen auf die Mühle und auf die Landschaft beschreiben?

Jacob Isaaksz. van Ruisdael: Mühle von Wijk (1670)

Jacob van Ruisdael: Mühle von Wijk (1670)

Die Ikonik untersucht: (1) die Körperhaltungen, Gesten und Gruppierungen von Figuren, die in Beziehung zueinander stehen; (2) die Linien, Formen und Farben, welche die Bildfläche strukturieren, und (3) die Perspektive, die das Bild dem*r Betrachter*in vorgibt. Um die Wirkung der Gestaltung zu erschließen, schlägt Imdahl die Variation von einzelnen Elementen vor. So kann man*frau sich zum Beispiel vorstellen (und ausprobieren), wie die Veränderung der Position einer Figur innerhalb eines Gemäldes oder eine Verschiebung der Perspektive den Gesamteindruck umwandelt. Imdahl betont in den Analysen die Gleichzeitigkeit der bildlichen Darstellung im Gegensatz zur für das Erzählen charakteristischen Abfolge von Ereignissen. Er verweist auch auf widersprüchliche Darstellungsformen in Gemälden, in denen sich verschiedene Wahrnehmungen und Bedeutungen überlagern können. Mit dieser Methode untersucht er nicht nur die gegenständliche Kunst – wie beispielsweise christlichen Miniaturen und Fresken der niederländischen Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts – sondern er bezieht als eine*r der ersten Kunsthistoriker*innen auch die Abstrakten Kunst des 20. Jahrhunderts ein.

Beschreiben Sie das Bild von Morellet: Welche Strukturen lassen sich feststellen? Schauen Sie länger darauf: Ändert sich Ihre Wahrnehmung? Welche anderen Strukturen treten dann in den Vordergrund? (siehe die Analyse Imdahls im Auszug aus Ikonik)

Zum Weiterlesen
Imdahl, Max: Ikonik. In: Boehm, Gottfried (Hg.): Was ist ein Bild? München: Fink 2006, S. 300-324.

Francois Morellet: Angles droits convergents (1956)

Francois Morellet: Angles droits concentriques (Rechteckige konzentrische Winkel) (1956)

2. Filmanalyse

 

Filmstills aus: Luc und Jean-Pierre Dardenne: L’enfant (2005)

Zum Einstieg: Was sind die Gestaltungsmerkmale eines Films, die bei der Analyse berücksichtigt werden können? Auf welchen Ebenen lassen sich Formen und Strukturen aufzeigen?

Da Film ein visuelles Medium ist, spielt auch hier die Bildgestaltung eine wichtige Rolle. Allerdings ist es entscheidend, dass diese sich – im Unterschied zu Gemälden oder Fotografien – im zeitlichen Verlauf wandelt. Analog zu den von der Ikonik beschriebenen Ebenen der Analyse gilt es zu untersuchen, (1) wie sich die Figuren im Raum und im Verhältnis zueinander bewegen, (2) wie sich die Bildkomposition in der Fläche wandelt, und (3) wie sich die Perspektive verschiebt und den Betrachterstandpunkt unentwegt ändert. Die ständige Verschiebung des Blickfeldes bringt darüber hinaus das Verhältnis zwischen dem, was zu sehen ist (On), und dem was nicht zu sehen ist (Off) ins Spiel – denn filmische Aufnahmen sind nicht nur innerhalb eines Rahmens organisiert, sie verweisen auch auf das, was außerhalb liegt und was im nächsten Moment ins Blickfeld geraten könnte.

Filme sind also nicht nur als Bild, sondern auch in der zeitlichen Entwicklung strukturiert. Das gilt für die Entfaltung einzelner Einstellungen, die sich durch die Bewegung im Bild und die Kamerabewegungen kontinuierlich verändern, aber auch für die Montage der Einstellungen, die bestimmten Mustern, Erzähllogiken oder Rhythmen folgt. So sagt die Veränderung der räumlichen Konstellation oft auch etwas über die innere Entwicklung von Figuren aus, wenn zum Beispiel in Das Kind (Luc und Jean-Pierre Dardenne, 2005) die Konflikte eines Paares über räumliche Abstände oder bildliche Grenzen vermittelt wird. Und die Montage stellt neue Zusammenhänge her, wenn zum Beispiel in einer Szene von Der Mann mit der Kamera (Dziga Vertov, 1929) anfahrende Züge und Pferdewagen mit dem Aufrollen eines Filmstreifen verknüpft werden, der am Schneidetisch Bilder in Bewegung versetzt.

Filmstills aus Dziga Vertov: Der Mann mit der Kamera (1929)

Schließlich sind Filme aber nicht nur im Bild und in der zeitlichen Abfolge strukturiert, sondern auch auf der Tonebene: Geräusche, Musik und Sprache verbinden sich mit der Bildebene und verändern deren Wahrnehmung. Sie können auch eine Eigendynamik entfalten. Für die Analyse bedeutet dies, das Akustische und Visuelle je für sich, aber auch im Zusammenspiel, zu untersuchen.

Aufgrund dieser Vielgestaltigkeit des Films, hat sich die Filmanalyse aus anderen Disziplinen ‚bedient‘: beispielsweise aus der Kunstwissenschaft für die Analyse der Bildgestaltung und aus der Sprach- und Literaturwissenschaft für die Analyse von Filmen als Text und Narrativ. Darüber hinaus wurden aber auch genuin filmische Analysemethoden entwickelt, beispielsweise der Neoformalismus von David Bordwell und Kristin Thompson, die nach der Adressierung der Zuschauer*innen durch filmische Formen fragen, oder die audiovisuelle Analyse von Michel Chion, der das Verhältnis von Ton und Bild untersucht.

Zum Weiterlesen
Bordwell, David: Visual Style in cinema. Vier Kapitel Filmgeschichte. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 2001.

Chion, Michel: Audio-Vision: Ton und Bild im Kino. Hg. v. Jörg U. Lensing. Berlin: Schiele und Schön 2012.

Hagener, Malte; Pantenburg, Volker: Handbuch Filmanalyse. Wiesbaden: Springer 2019.

Henzler, Bettina; Pauleit, Winfried: Filme sehen, Kino verstehen. Methoden der Filmvermittlung. Marburg: Schüren 2008. ⇒Download

3. Dokumentarische Methode

Marc-Oliver Pahl: Einschulungsfoto (1994)

Zum Einstieg: Schauen Sie sich das Bild einer Einschulung an und analysieren Sie es anhand der unten beschrieben Arbeitsschritte. Welche kompositorischen, perspektivischen und choreographischen Gestaltungen fallen Ihnen ins Auge? Welche Aussage lässt die formale Gestaltung über die ‚Botschaft‘ des Fotos oder die Haltung der Produzent*innen (Fotografierte und Fotografierende) zu?

 

Die dokumentarische Methode der Bildinterpretation setzt Ralf Bohnsack ein, um Fotografien und Videoaufnahmen als Dokumente des Rollenverständnisses und der Weltanschauung sozialer Akteur*innen zu deuten. Er greift dabei auf kunstwissenschaftliche Methoden der Bildanalyse und Bildinterpretation (Ikonologie, Ikonik, Vergleich) zurück, um den Eigensinn der Bilder oder anders gesagt, ihre Ästhetik, zu erschließen und diese als Quelle der sozialwissenschaftlichen Forschung zu nutzen.

Er analysiert mit dieser Methode Werbefotografien und andere Bildmedien als Botschaft, welche die Betrachter*innen unbewusst beeinflusst und soziale Rollen formuliert. Auch beschäftigte er sich mit Fotografien und Videos von Schüler*innen im Hinblick auf ihr Selbstverständnis und ihre Haltung zur Schule. Die grundlegende Verschiedenheit zwischen den professionell ‚inszenierten‘ und eher ‚amateurhaften‘ oder zufallsbedingten Aufnahmen wird dabei nicht berücksichtigt.

Zum Weiterlesen
Bohnsack, Ralf: Dokumentarische Bildinterpretation. In: Buber, Renate; Holzmüller, Hartmut H. (Hg.): Qualitative Marktforschung. Konzepte – Methoden – Analysen. Wiesbaden: Springer 2009, S. 951–978.

Peters, Maria: »Ich rede und schreibe anders, als ich denke, ich denke anders, als ich denken soll, und so geht es weiter bis ins tiefste Dunkel«. In: Kirschenmann, Johannes; Richter, Christoph; Spinner, Kaspar (Hg.): Reden über Kunst. München: kopaed 2011, S. 245–260.

Bohnsack versteht Kunstwerke – in Anlehnung an die ⇒Ikonologie – als Ausdruck des Habitus‘ seiner Produzent*innen (das heißt eines Lebensgefühls und einer Weltanschauung, die durch den jeweiligen sozialen, kulturellen und historischen Kontext bestimmt ist). Er überträgt die Methoden der Ikonik und Ikonologie, die sich ursprünglich auf Gemälde beziehen, auf Fotografien, denen er zwei Arten von Bildproduzent*innen zuschreibt: diejenigen, die ein Foto aufnehmen, und diejenigen, die auf einem Foto abgebildet sind und es dadurch mitgestalten. Die Haltung, Botschaft oder auch die soziale Position dieser Produzent*innen möchte Bohnsack in der formalen Analyse von Fotografien erschließen.

Er greift dafür die von Imdahl vorgeschlagene Analyse von Bildern auf. Fotografien sind demnach nicht nur vor dem Hintergrund eines Wissens über ihre Produktionsbedingungen zu verstehen. Vielmehr ist der ‚Eigensinn‘ einer Fotografie, ihre formale Gestaltung und Ästhetik als spezifische Form der Aussage zu deuten, die andere Darstellungsformen nicht bieten. Daher soll zu Beginn der Analyse dieses Vorwissen eingeklammert bzw. möglichst nicht beachtet werden, um sich auf die Beschreibung der Bildinhalte und die Analyse der Bildgestaltung konzentrieren zu können. Die drei von Imdahl vorgeschlagenen Analyseaspekte werden dabei von Bohnsack unter den Begriffen (1) Szenische Choreographie, (2) Planimetrische Komposition, (3) Perspektivische Projektion aufgegriffen. Er schreibt vor allem der Perspektive (3) eine wichtige Rolle bei der Analyse einer Fotografie zu, da sie Aufschluss darüber gibt, worauf der*die Fotografierende (oder der*die Betrachter*in) die Aufmerksamkeit zentriert (hat).

Wesentlich ist schließlich der ⇒Vergleich („Komparative Analyse“) von mehreren Fotografien, da nur dieser Aufschluss über die besondere Gestaltung des einzelnen Bildes, aber auch über soziale Zusammenhänge geben kann. So lassen sich nach Bohnsack erst über den Vergleich vieler Fotos aus einer oder mehreren sozialen Gruppen Rückschlüsse über deren Perspektive, Selbstverständnis und Haltung ziehen.

An der Universität Bremen wurde im Rahmen des digitalen Studienangebots BOOC ein Tool entwickelt, mit dessen Hilfe Bilder nach der dokumentarischen Methode analysiert werden können. Um das Tool zu nutzen, können Sie sich mit Ihren Stud.IP-Zugangsdaten einloggen.

Texte von Bettina Henzler (2020)

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