Projekt
Digitale außerschulische lern- und bildungsbezogene Handlungspraxen Jugendlicher (DAB-J)
Das Projekt DAB-J untersucht in einem gemeinsamen Verbundprojekt zusammen mit Prof. Dr. Christian Pentzold (Universität Chemnitz), Prof. Dr. Sven Kommer und Prof. Dr. Frauke Intemann (RWTH Aachen) die Nutzung digitaler Medien für das schulische und außerschulische Lernen (Förderung durch das BMBF, Laufzeit 2018-2021).
Zusammenfassung
Digitale Medien eröffnen in einer tiefgreifend mediatisierten Welt sowohl potentielle als auch praktische Zugänge zu Bildungsressourcen und Bildungsangeboten jenseits formaler Bildungsangebote. Damit gestaltet sich die Relation von formaler und non-formaler Bildung grundsätzlich neu, das Bildungssystem verliert (möglicherweise) sein bisheriges Alleinstellungsmerkmal ‚Wissensvorsprung‘. Partisanenstrategien digitaler Sophisten und Bildungsnomaden verändern die Rahmenbedingungen des Bildungsbereichs ebenso radikal wie Lernverhalten und Akzeptanz formalisierter Bildungsprozesse.
Das hier beantragte Verbundprojekt untersucht in vier Teilprojekten interdisziplinär und triangulativ digitale außerschulische lern- und bildungsbezogene Handlungspraxen von Jugendlichen, bezogen sowohl auf schulisch-curriculare Gegenstände und persönliche Berufsorientierung als auch auf den Erwerb von interessensbasierten Wissen und Kenntnissen/Lernprojekten in der Freizeit. Die Zusammenstellung des Projektverbundes mit Mitgliedern aus Allgemeiner Didaktik, Medienpädagogik, Kommunikations- und Medienwissenschaft und Fachdidaktik ermöglicht einen umfassenden Blick auf Erklärvideos und Tutorials, wie sie insbesondere auf YouTube zu finden sind und von Jugendlichen in großem Umfang und nahezu alltäglich genutzt werden (JIM 2017).
Ergänzend werden inhalts- und lernspezifische Medien- und Kommunikationsrepertoires untersucht, um die Vielfalt der individuellen und gemeinschaftlichen Praxen Jugendlicher beim außerschulischen Lernen (Selbstexpertisierung) zu beschreiben und zu analysieren. Die Betrachtung des Gegenstands aus den unterschiedlichen Fachperspektiven ist jedoch nur die Voraussetzung für das eigentliche Ziel. Erst die gemeinsame Nutzung der Ergebnisse verschiedener Arbeitspakete und die gemeinsame interdisziplinäre Arbeit innerhalb der Arbeitspakete mit den jeweils fachtypischen Forschungsmethoden ermöglicht eine echte mehrperspektivische und methodisch durch Triangulation unterfütterte exemplarische Untersuchung der Veränderung des Lern- und Rezeptionsverhaltens Jugendlicher an den Schnittstellen von formalen und non-formalen Bildungsangeboten. Die empirischen Untersuchungen legen dabei (in diesem Feld erstmalig) die Grundlagen für eine datengestützte Analyse der veränderten Rahmenbedingungen für das Bildungssystem und ermöglichen so eine evidenzbasierte Beschreibung von Veränderungsbedarfen in diesem. Hierzu werden Leitlinien und Empfehlungen erarbeitet, die sich aus den Ergebnissen der Studie speisen und die Bedarfe der verschiedenen Interessengruppen (sowohl auf Seiten der Jugendlichen wie auch auf Seiten der beteiligten Fachdisziplinen) berücksichtigen.
Fragestellung, Gesamtziel und Arbeitsziele des Vorhabens
Der hier beantragte interdisziplinäre Projektverbund zielt auf eine empirische Aufklärung des Spannungsverhältnisses von formaler, non-formaler und informeller Bildung, die sich aus der Digitalisierung/Mediatisierung der Lebenswelt ergibt. Exemplarisch stehen dabei digitale lern- und bildungsbezogene Handlungspraxen von Heranwachsenden im Umgang mit Erklärvideos und Tutorials im Zentrum. Ergänzend werden die inhalts- und lernspezifischen Kommunikationsrepertoires untersucht, wie z.B. die Nutzung von Foren oder Blogs, um die Vielfalt des digitalen Medienhandelns Jugendlicher beim außerschulischen Lernen zu beschreiben und zu analysieren. Das Projekt fokussiert damit auf ein Forschungsdesiderat (s.u.), dessen Relevanz in den folgenden Daten sichtbar wird: Während laut der JIM-Studie 2017 13% der Jugendlichen Erklärvideos mit Schulbezug und 21% Tutorials täglich oder mehrmals pro Woche nutzen, gehen 86 % der Lehrpersonen nicht davon aus, dass digitale Medien besondere Potenziale beim Aufbau für den fachlichen Kompetenzerwerb haben (Telekom-Stiftung 2017). Mit Kommer (2010) kann hier von einem wenig lernförderlichen ‚Clash of Habitus‘ gesprochen werden.
In vier eng verschränkten Teilprojekten werden dabei die folgenden sechs Ziele bearbeitet:
Z1. Gewinnung einer empirisch breit abgesicherten und vertieften rekonstruierenden Beschreibung der lern- und bildungsbezogenen digitalen Handlungspraxen von Heranwachsenden (9. bis 11. Klasse):
In welchen Praxisformen, in welchen Phasen und in welchen Kontexten nutzen Heranwachsende Erklärvideos für Schule, Hobby und berufliche Orientierung? Erklärvideos und Tutorials werden dabei als ein neues, äußerst heterogenes Feld von Lernangeboten verstanden, deren Nutzung eng an formale Lernprozesse in der Schule gekoppelt ist und auf diese rückwirkt. Gleichzeitig eröffnet deren Nutzung einen entgrenzten Zugang zu beliebigen Themen des eigenen Interesses, wie z.B. Hobbys, und damit eine Loslösung von formalen und nonformalen Bildungsangeboten.
Z2. Rekonstruktion der sich in den lern- und bildungsbezogenen digitalen Handlungspraxen ausformenden Kommunikationsrepertoires der Jugendlichen und Analyse der interessengeleiteten Selbstexpertisierung im Sinne eines „Geeking Outs“ (Ito et al. 2013):
Wie nutzen Jugendliche aktiv die digitalen Ressourcen zur Selbstexpertisierung in ihren Interessensgebieten? Wie identifizieren und erfassen sie neue potentielle Themenfelder? Welche Bedeutung haben diese Prozesse für eine mögliche informelle berufliche Orientierung?
Z3. Sichtung des Angebots von schulrelevanten Erklärvideos und Tutorials und qualitative Analyse besonders beliebter/ relevanter Produkte und Angebote.
Dabei wird theoriegeleitet untersucht, welche Merkmale diese aufweisen. Davon ausgehend kann herausgearbeitet werden, welche Kriterien für die Handlungspraxen (u.a. Auswahl als Lernoption) der Jugendlichen relevant sind. Darüber hinaus können hier (möglicherweise) didaktische Innovationen lokalisiert werden.
Z4. Erarbeitung einer theoriegeleiteten und empirisch grundierten Analyse der Implikationen, die sich für die Lernenden und insbesondere für das formale Bildungssystem aus der Nutzung der untersuchten digitalen Angebote ergeben.
Hierbei wird auch die Frage nach dem ‚medialen Habitus‘ von Lernenden, Lehrenden und dem Bildungssystem als zentrale Gelingensbedingung mit einbezogen.
Z5. Rekonstruktion sozialer Konstellationen als Lerngemeinschaften (learner communities of practice), in denen Jugendliche lern- und bildungsbezogene digitale Handlungspraxen und Wissensformen teilen und verhandeln.
Dabei kommen neben der Frage nach der Aneignung expliziter propositionaler Lerninhalte insbesondere die Einübung und Praktizierung impliziter Fertigkeiten des alltäglichen Umgangs mit Erklärvideos und Tutorials als auch der interaktionalen Nutzung damit verknüpfter Kommunikationsdienste (YouTube Kommentare, WhatsApp, Snapchat, Facebook) in den Blick.