Auswertung Wahrnehmungsspaziergang

Da dies die erste Methode war, der ich mich bediente, fühlte ich mich zu Beginn etwas unwohl und unbeholfen, vor allem, als mir Menschen entgegen kamen und mich dabei beobachteten wie ich scheinbar mit einem unsichtbaren Menschen sprach. Allerdings habe ich mich nach und nach daran gewöhnt und da ich oft in Straßen abgebogen bin, die nicht Hauptverkehrswege waren, hat sich dieses „Problem“ allein gelöst.:

Meine Umgebung hat sich von Ecke zu Ecke, wenn auch nur minimal, konstant geändert. Dabei gab es diverse Komponenten, die mein Wohlbefinden und meine Orientierung beeinflusst haben: Erstens wäre da der Unterschied zwischen bekanntem und unbekanntem Terrain, welcher meine Aufmerksamkeit grundlegend beeinflusst. Denn auch, wenn ich versuche möglichst viel wahrzunehmen, sendet das Gehirn in bekannten Regionen bestimmte Signale, sodass es trotz erhöhtem Fokus nur neue Dinge in der Umgebung wahrnimmt und somit die Konzentration sinkt. Zweitens wäre da der Unterschied zwischen dem allein sein und ein Teil der Menschenmasse zu sein: Die Anwesenheit von egal ob vertrauten oder fremden Menschen hat auf mich eine sehr große Wirkung. So tut es mir von Zeit zu Zeit gut, unbegleitet zu sein und meine Umwelt ohne den Aufwand einer hohen Konzentration wahrnehmen zu können. Ich stimme dem zu, dass Orten oftmals erst durch ihr passieren Bedeutung auferlegt wird, dh. die Straßen auf der Route von meiner S-Bahn-Haltestelle bis zu meiner Haustür werden erst zu meinem „Nachhauseweg“, wenn ich sie dazu erhebe. Ohne diesen Fokus, der durch die Ablenkung durch zu viele Menschen auf dem Weg erfolgt, bekomme ich ein Gefühl von phsysischer Abwesenheit, obwohl ich physisch an diesem Ort anwesend bin. Menschen ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich, egal ob Kind oder Erwachsener, egal ob Mann oder Frau. Ich beginne sie zu analysieren und frage mich woher sie kommen, wohin sie wollen, was in ihrem Kopf passiert und wer sie sind. Auch ihr Schritttempo hat eine Auswirkung auf meine Aufmerksamkeit und mein Wohlbefinden, denn je gefüllter die Wege, desto eher habe ich das Gefühl, mich dem Schritttempo anpassen zu müssen, um nicht aufzufallen.

Menschen führen diverse Motivation und Aktivitäten in Gebiete mit vielfältiger Raumnutzung: Nebenstraßen bedeuten dabei in den meisten Fällen (so wie bei mir auch) der einfachste und schnellste Weg zum Ziel, wobei der Umgebung tendenziell weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird. In ihnen befinden sich selten oder nur vereinzelt öffentliche Orte. Je öffentlicher und besser zugänglich Orte sind, desto eher werden sie angesteuert: Hauptstraßen mit vielen Angeboten gelten im Gegenzug als Ziel des Weges, z.B. liegen an der Kreuzung Friedrich-Ebert-Straße und Pappelstraße viele verschiedene Geschäfte und die S-Bahn-Haltestelle Gastfeldstraße, wodurch sie zu einem vielbesuchten Ort wird. Menschen könnten schnell viele Punkte von ihrer To-Do List streichen, weil  zwischen den einzelnen Anlaufstellen nur kurze Strecken liegen. An diesen Orten und weiter in Richtung Pappelstraße werden bewusste Aktivitäten wie einkaufen, stöbern, Kaffee trinken, essen, usw. ausgeführt. Diese sind zeitaufwendige Aktivitäten, denen ich als Beobachter gerne nachgegangen wäre und die meine Emotionen während des Spazierganges beeinflusst haben. Ich habe mich gerne in die Rolle der beobachteten Menschen gesetzt und mir in Gedanken vorgestellt, entspannt in der Sonne am Tisch zu sitzen, jemandem bei der Arbeit zu helfen und zum Beispiel eine neue Wohnung einzurichten.

Auch Architektur und damit verbundene Elemente habe ich während des Spazierganges besonders beachtet. Ich bin momentan auf der Suche nach einer neuen Wohnung, was meine Wahrnehmung für Häuser bzw. potenzielle Wohnungen in ihnen, Balkone, etc maßgeblich beeinflusst hat. Mein Schritttempo war dementsprechend relativ langsam, weil ich viele aneinanderliegende Häuser betrachtet und analysiert habe. An anderen Orten habe ich einen schnelleren Schritt eingelegt, um für mich uninteressantere Strecken mit vergleichsweise wenig Fokus auf die Umgebung zurückzulegen, was zum Beispiel in nicht so schönen Wohngebietend „abseits vom Schuss“ der Fall war.

Denke ich zurück an den Spaziergang, fällt mir auf, dass ich Gerüche relativ wenig wahrgenommen habe. Gerade weil ich an vielen duftproduzierenden Orten vorbeigekommen bin, hätte ich eher das Gegenteil erwartet. Nur durch das Rosenbeet im Park habe ich mich länger an einem Ort aufgrund eines Duftes. Die gehörten Geräusche waren mir alle bekannt und vertraut. Dies lag daran, dass ich in einem bekanntem Stadtteil herumgelaufen bin. Aber wäre dies in einem anderen Stadtteil oder vielleicht sogar einer anderen Stadt anders verlaufen? Letztendlich sind die Städte alle mit Menschen gefüllt, die sich unterhalten, sich fortbewegen, einkaufen und ihrem Leben nachgehen, dementsprechend würden höchstens die Umgebungsgeräusche variieren. Es ist allerdings auch die Frage, inwiefern das Gehirn herausfiltert und einem die Entscheidung zur Identifikation der Geräusche bereits beim Hören abnimmt.

Ich habe mich bei dieser Methode bewusst gegen die Dokumentation mit Fotos entschieden, weil dies meiner Meinung nach die Aufnahme und das Verständnis des wiedergegebenen Inhalts maßgeblich beeinflusst. Einen Text zu lesen hat sinnlich gesehen eine ganz andere Auswirkung als sich eine Reihe von Fotos anzuschauen, da durch letzteres die Produktion von Bildern durch die eigene Fantasie weitgehend verhindert wird.

Die Zeit ging relativ schnell um, ich hatte aber gleichzeitig auch das Gefühl, viel gesehen und realisiert zu haben. Im Nachhinein würde ich deshalb behaupten länger auf den Straßen unterwegs gewesen zu sein, dh. dass die gefühlte Zeit länger war als die tatsächliche Zeit.

Es stellt sich bei Auseinandersetzung mit dem Stadtwahrnemungsspaziergang natürlich die Frage, wie wissenschaftlich diese Methode ist: Eine Person spaziert durch die Straße und hält ihre persönlichen Eindrücke fest. Keine Literatur, wenig Objektivität – im Gegenteil: Michael Krieger spricht hier sogar von einer „maximalen Subjektivität“, die aus unterschiedlichen Perspektiven und der Sichten diverser Schulen die Wissenschaftlichkeit ausmacht oder eben nicht. Die spontane Auswahl der Route geschehe nach Guy Debord dabei eher nicht aus Zufallsgründen (Debord 2005: 64). Jedenfalls wird hier deutlich erkennbar, dass die Methode nicht nur in den Kulturwissenschaften angewendet wird, sondern auch in Gemeindeentwicklungskonzepten Anwendung findet: Menschen werden durch bestimmte Quartiere oder Viertel begleitet, um die gefühlsmäßige Reaktion auf ein Projekt zu konstatieren. Architekten und Stadtteilplaner haben oftmals andere zu beachtende Auflagen am Anfang ihrer Liste, wodurch Aspekte, die direkt die Bewohner betreffen wird oder betrifft, außer Acht gelassen werden könnten. Mit der Ausführung eines oder mehrerer Wahrnehmungsspaziergänge wird diesen Ansprüchen genüge getan und beispielsweise die Entstehung von sogenannten „blinde Flecken“ von vornherein vermieden. Somit wird sie in diesem Zusammenhang als gleichberechtigte unter anderen anerkannten Raumanalysemethoden genehmigt. (Weiteres Beispiel: Für Niederösterreich wurde eine ganze Broschüre zur „Ortsplanung mit der Bevölkerung“ erstellt, in denen unter anderem Wahrnehmungsspaziergänge geplant wurden.)

Die Aktivität des bewussten Wahrnehmens, welche besonders diese Methode ausmacht, hat meiner Meinung nach mit zunehmender Technologisierung im heutigen Zeitalter abgenommen. Menschen sind selten ohne ein bestimmtes Ziel in der Stadt unterwegs und interessieren sich tendenziell weniger für ihre Umgebung, wenn sie nicht aus dem Feldzugang der Kulturwissenschaften kommen. Städtische Strukturen werden oftmals als einfach gegeben akzeptiert und daher nur bei wenigen Menschen als Objekt der Neugierde erfasst. So trägt zum Beispiel die Verwendung von GPS, dem Navigationssystem zur Positionsbestimmung, dazu bei sich weniger für seine Umwelt zu begeistern und durch eine genaue Rotenplanung möglichst schnell das geplante Ziel zu erreichen.